Reichtum verpflichtet

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Und Ferdinand nahm die Kelle und füllte Augustes Teller randvoll, bis er überschwappte.

»Da, nimm doch noch ein wenig von dieser exzellenten Suppe, damit du uns bequem von all diesen armen Leuten erzählen kannst, denn was gibt es Besseres als eine gute Tafel mit Blumenschmuck und Silberbesteck, um sozialistische Gefühle in uns zu wecken. Na los, wir lauschen dir! Erzähl uns zum Beispiel … von deinen Freunden vom Café de Madrid … Oder, äh, wie heißt noch dieser schändliche Jude, der offenbar eine Abhandlung über das Recht auf Diebstahl verbrochen hat? Marx, richtig? Bitte sehr, erzähl uns ein wenig von deinem Monsieur Marx!«

Außer sich verließ Auguste unverzüglich den Tisch, die Fäuste geballt, den Mund gebläht von all den abscheulichen Worten, die er seinem Bruder am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte, aber er zügelte sich aus Rücksicht auf seinen Vater, den er für heute ausreichend niedergeschmettert erachtete. Er hörte Ferdinand noch brüllen, während er in sein Zimmer floh.

»… Und Sie sitzen da und sagen nichts … ›Ich liebe das Volk‹, ruft uns dieser Dummkopf zu … Statt ihm alles durchgehen zu lassen und ihn in die Obhut dieser verrückten Tante Clothilde zu geben, sollten Sie hart durchgreifen! Denn wenn er sich in den Kopf setzt, den Pöbel mit seinen großen Wahrheiten vom Schönen, Wahren und Gerechten zu erbauen … Wenn man ihn Ihnen auf den Brettern eines Ochsenkarrens in Stücken aus Paris zurückbringt … Dann werden alle hier weinen … alle außer mir! Außerdem habe ich es satt, diesen Leibeigenenfraß zu essen, wenn Monsieur uns mit seinem Besuch beehrt!«

Damit warf Ferdinand sein Besteck aufs Tischtuch und verließ die Tafel.

Jules betrachtete zweifelnd seinen Teller. »Stimmt, ohne Speck ist diese Suppe nicht sehr schmackhaft!«

Hastig sammelte der junge Mann die wenigen Dinge ein, die er mitgebracht hatte, und verließ im Sturmschritt das Haus, um nicht den Zug zu versäumen, der ihn nach Paris zurückbringen würde. Als er jedoch am Bahnhof die Menge sah, die sich in der Rotunde drängte, stellte er fest, dass viele Ausflügler die Sonne genutzt hatten, um sich die verschneite Landschaft anzuschauen. Er würde für die Heimfahrt folglich keinen Platz in der ersten, vielleicht nicht einmal in der zweiten Klasse finden. Blieb die dritte Klasse, auch wenn er nicht warm genug gekleidet war, um sich zu den Knechten und Arbeitern im Wagon ohne Dach zu gesellen.

Hier, in dem ironischerweise von Casimir de Rigny erbauten Bahnhof, war die gesamte französische Gesellschaft im Miniaturformat versammelt. Eine Frau in Holzpantinen, beladen mit einer Brut schmutziger Kinder, teilte die Bank mit einer vornehmen Dame, die in Begleitung ihres Dienstmädchens und ihres püppchenhaften Sprösslings von einem Ausflug nach Hause fuhr. Ein biederer Gatte aus Saint-Germain-en-Laye, der in Paris Ablenkung von der ehelichen Monotonie suchen wollte, überließ seinen Platz einer jungen Tänzerin der Opéra Comique, die zu ihrem alten Gönner zurückkehrte. Ein Haufen Milliardärsanwärter und junge Künstler mit Taschen voller Meisterwerke trafen am Bahnhof auf ihre abgehalfterten Doppelgänger, die Paris verwünschend auf dem Heimweg waren. Auch die Diebe waren mit von der Partie und spähten hier nach einer unbeaufsichtigten Handtasche, dort nach einer hervorlugenden Geldbörse …

Dies ganze Theater war meilenweit entfernt von Augustes Sorgen, der sich bereits tot sah, unsinnigerweise allein, sein Leib inmitten eines Feldes auf ein preußisches Bajonett gespießt.

Kaum öffneten sich die Türen, wurden die Abteile gestürmt. Der junge Mann, der sein Billett in letzter Minute gekauft hatte, endete wie vorhergesehen im Wagon der dritten Klasse. Er verbrachte den Anfang der Reise eingekeilt zwischen zwei kräftigen Arbeitern, die nach Schweiß stanken und sich an dieser Nähe zu einem parfümierten Jüngling ergötzten. Bei der Ankunft in Pecq schließlich hatte man Mitleid mit ihm, denn er war blau vor Kälte, man ließ ihn den Wagen wechseln und verfrachtete ihn in die zweite Klasse. Dort wärmte er sich auf, tauchte ein in einen Schwarm junger Mädchen, die von ihren Müttern gescholten wurden. Sie kamen von einer Verabredung mit verlockenden Partien aus Saint-Germain-en-Laye, und trotz der vorab verschickten Fotografien, der Zugbilletts, der Investitionen in Kleider und Haarbänder war man zu keinem Abschluss gekommen. »Nein, wirklich, alles nur, weil ihr nicht das Eure tut!«, tadelten die Mütter. Die Mädchen hörten nicht zu; bis zum Eintreffen in der Gare Saint-Lazare begnügten sie sich damit, Auguste unter Kichern verstohlen zu mustern.

1

Ich hatte den TGV kaum bestiegen, da kotzte mich schon alles an.

Da ich Tuchfühlung nicht mag, setze ich mich nie an den mir zugewiesenen Platz, wo meine Beine die meines Sitznachbarn berühren, ganz zu schweigen vom Kampf um die Armlehne. Ich ertrage es nicht. Da ziehe ich die Klappsitze im Bereich zwischen den Wagons vor, auch wenn man da selten seine Ruhe hat, weil er oft von Idioten überrannt wird, die ihn nutzen, um die Sau rauszulassen, oder von Alten, die sofort nach der Abfahrt anrufen, um zu sagen, dass sie gleich da sind … Jetzt hör ich dich nicht mehr, hörst du mich noch?

An diesem Tag waren es vier Mädels, die einem Rap-Clip entsprungen waren und sich aus allen Blickwinkeln fotografierten. Aus Neugier checkte ich auf Instagram #TGVParis-Brest, wie sie sich idealisierten, was sie auf dem Großmarkt der Verführung im 21. Jahrhundert an Attributen auffuhren. Aber inmitten dieser Bilder von Mädchen im Modus rausgestreckter Hintern, heißer Schmollmund, zu allen denkbaren Stimulationen bereit, hatte jemand eine heimliche Aufnahme von mir gepostet, wie ich sie beobachtete. Ich in meinem schwarzen Minikleid mit Taschen, meiner Bomberjacke, meinen eingerüsteten Beinen und meinen hochhackigen Halbstiefeln, verloren in einem Gewölk farbenfroher Gänse. Krasse Fehlbesetzung. Emily the Strange zu Gast auf einer Nuttengeburtstagsparty.

Und obendrein zog ich so eine Fresse …

Man muss dazusagen, ich war nicht in Topform. Man hatte mich krankgeschrieben, weil ich mich um ein Haar von einem Métrozug hatte zweiteilen lassen, und zu allem Überfluss war ich unterwegs zum lästigsten aller Frondienste, dem fünfundachtzigsten Geburtstag meines Vaters.

Und die Reise war weit von ihrem Ende entfernt: In Brest angekommen, standen mir noch eine Stunde Bus- und anderthalb Stunden Bootsfahrt bei aufgewühlter See bevor. Und da ich im Voraus wusste, dass ich trotz der ultimativen Schinderei, die diese Langstreckenfahrt bedeutete, nur stören würde, kann man sich vorstellen, wie motiviert ich war.

Ich kannte das Drehbuch auswendig: Bei meiner Ankunft würde mein Vater so tun, als freute er sich, mich zu sehen, nur um mir nach den landläufigen Banalitäten vom Typ Hast du unterwegs was gegessen? War viel los auf dem Boot? Wann fährst du wieder? nichts mehr zu sagen zu haben. Ich würde antworten: Und du, geht’s dir gut?, wohl wissend, dass ich damit die Beschwerdeschleusen öffnete. Omi Soize und ich nennen das die kaleidoskopische Klage: Sätze, die für sich genommen und in neutralem Ton gesprochen rein informativ wirken – Weißt du, ich war beim Arzt … Morgens, wenn ich esse, wird mir schwindelig … Man wird Dédé die Füße und Hände abnehmen wegen der Diabetes – und die in Kombination das grausige Motiv des Schicksals ergeben, das ihm bevorsteht. Er klopft eine Weile auf den Tisch, und zack, fügt sich alles neu zusammen und es geht von vorne los … Und das Ätzendste ist, es findet kein Ende.

In Brest regnete es zur Abwechslung mal. Eine biblische Sintflut, horizontal wegen des Winds vom Meer, der Ihnen ins Gesicht peitscht, sobald Sie den Fuß aus dem Zug setzen. Dort auf dem Bahnsteig sah ich sie das erste Mal, die drei aus Paris. Wobei man sie auch nicht übersehen konnte, wie sie in ihren hübschen wasserabweisenden Regenmäntelchen dem Sturzregen zu trotzen versuchten. Zwei haarige Hipster, einer davon mit Brille, und eine große schmucklose junge Frau mit seidigem langem Haar.

Ich humpelte, so schnell es mir möglich ist, zum Busbahnhof und stieg in den nach nassem Hund stinkenden Bus. Sofort überfielen mich die Alten: Wie lang ist das her! Du bist ja bleich wie ein Arsch! Und wo ist überhaupt deine Tochter? Und blablabla … Zum Glück verpasst man sich in dieser Gegend nicht vier Küsschen, sondern nur eins, denn ich musste mich durch den ganzen Mittelgang arbeiten … Da schlossen sich vor der Nase der drei tropfnassen Pariser die Türen, was niemanden groß tangierte, denn der Bus ist vorrangig für Inselbewohner auf dem Heimweg reserviert.

Am Hafen stiegen alle in einer einzigen Bewegung aus und strömten in den Hafenbahnhof, um im Trockenen aufs Einschiffen zu warten.

Meine alte Freundin Tiphaine war da, sie saß auf einer Bank und stauchte gerade ihre Kinder zusammen, sie sollten aufhören, den Kaffeeautomaten zu misshandeln. Beim Anblick ihrer Jüngsten wurde mir klar, dass ich eine Ewigkeit nicht mehr hier war, um meinen Vater zu besuchen. In meiner Erinnerung war sie ein Baby, dabei war sie ein kleines Mädchen mit Wuscheldutt, das breitbeinig dastand und mich anstarrte, während ich mich zwischen sie und ihre Mutter schob.

Ich küsste meine Freundin, und beim Umarmen ihres üppigen runden Körpers dachte ich in einem Erkenntnisblitz, dass meine Insel mir gefehlt hatte.

Normalerweise, wenn man alte Bekannte nach langer Trennung wiedersieht, fühlt man sich etwas unbehaglich, wie gefangen in einer Verbindung, die nicht immer leicht zu erneuern ist, aber bei den Leuten hier ist das nie der Fall. Ich denke, es liegt daran, dass das Inselleben unsere Familien seit Jahrhunderten zweigeteilt hat, die Männer bei der Marine oder auf einem Handelsschiff auf dem Meer und die Frauen an Land, wo sie sich um die Kinder kümmern, und das hat uns so geformt, dass wir eine besondere Begabung für die Kommunikation mit selten Anwesenden entwickelt haben.

 

So fragte sie mich schlicht, an welcher Stelle im berühmten Fortsetzungsroman der Insel ich ausgestiegen war … vor der Restaurierung der Friedhofsmauer oder nach der Pleite des Spar-Supermarkts?

»Also echt, du warst ja ewig nicht mehr hier!«

Das Gewicht der Zeit, die seit meinem letzten Besuch vergangen war, zwang Tiphaine, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wer ist gestorben, wer betrügt wen mit wem, wer ist ertrunken, wer wurde mit dem Hubschrauber abtransportiert … So viele Tragödien auf so kleiner Fläche … Man könnte ihr einen Hang zum Drama unterstellen, aber nein, es ist dort tatsächlich so, ständig passieren entsetzliche Dinge!

Im trommelnden Regen gingen wir alle an Bord, inklusive der drei Touristen, die im Taxi herbeirasten. Ich begab mich direkt zum Bug und streckte mich auf vier Sitzen aus, Augen geschlossen, den Kopf auf einen Pullover gebettet … Ja, ich leide an Seekrankheit. Ich habe alles versucht: Chemie, Hypnose, Gewöhnungstraining, selbst das Ding, wo man unter einem Apfelbaum Mittagsschlaf macht; nur um zu zeigen, wie sehr ich gekämpft habe. Aber nicht genug, dass mein Körper ein störrischer Gaul ist, er will mich auch noch zwangsweise an Land festsetzen.

Die Pariser saßen ein paar Meter von da, wo ich lag, und weil ich während der Überfahrt nichts anderes zu tun hatte, ließ ich mich von ihrer Unterhaltung einwiegen.

Ich bekam mit, dass es sich um ein Pärchen handelte, das seinen Freund, den Brillenhipster, mitgenommen hatte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die schmucklose große junge Frau hatte ein Programm ausgeheckt, das sie Punkt für Punkt darlegte, während sie auf einer Karte der Insel die zu besuchenden Spots zeigte. Jemand war gestorben, offenbar die Freundin des Bebrillten, denn er sprach voller Wut über den Vater seiner toten Liebsten, einen Abgeordneten der Rechten, den er als das Riesenarschloch titulierte, und über dessen Verhalten auf der Beerdigung. Offenbar hatte er sich aufgeführt wie auf einer Gartenparty und war begleitet von einem Kellner, der Champagnerkelche verteilte, von Gruppe zu Gruppe gegangen mit dem Ziel, dass man ihm und seinem Sohn aus ihren juristischen Scherereien heraushalf. Dann war die Rede von einem Erdbeben in Nepal. Es fielen Ortsnamen, von denen ich noch nie gehört hatte. Während das Paar, das wirkte, als wäre es im humanitären Sektor tätig, von einer Gesundheitskatastrophe sprach, führte der mit der gestorbenen Freundin verbittert das journalistische Gesetz der Toten pro Kilometer an: Je weiter weg, desto mehr Opfer muss eine Tragödie zählen, um ein Minimum an Leuten zu interessieren. Das Erdbeben in Nepal mit ein paar hundert Toten, darunter seine unter tonnenweise Steinen zerquetschte Tussi, kümmerte niemanden einen Scheiß.

Weiß der Henker warum, ich schlief ein, während in meinem Kopf zwei Verse aus Philippe Murays Lied Tombeau pour une touriste innocente dudelten:

Nichts schöner als eine blonde Touristin auf der Welt

Kurz bevor im Dschungel ihr Kopf zu Boden fällt

Mein Vater hatte seinen Kumpel Fañch mit seinem R14 geschickt, um mich vom Boot abzuholen. Er verstaute meine Tasche auf der Rückbank, und kaum hatte ich meinen Hintern auf den Beifahrersitz gehievt, fing er schon an, mir auf den Wecker zu gehen.

»Du weißt, dein Vater ist alt, viele Geburtstage wird er nicht mehr erleben, du musst öfter kommen, sonst bereust du es eines Tages … Und wenn du kommst, bleib länger und bring deine Tochter mit …«

Immer dieser Drang, dir Fußketten anzulegen, sobald du nach Hause kommst, dachte ich bei mir.

»Weil er uns ja so wahnsinnig vermisst, stimmt’s?«, gab ich zurück. Er brummte irgendwas, die Säufernase im Fell seines Spaniels vergraben, der zwischen ihm und dem Lenkrad saß, dann verfiel er in Schweigen.

Dazu muss man sagen, dass das Thema Blanche hier auf dem Felsen, wo jeder sich für die Gören der anderen verantwortlich fühlt, und sei es nur, weil sie in einer abgeschlossenen Welt vor aller Augen aufwachsen, das Thema Blanche also niemanden kalt lässt. In einer geschlossenen Gemeinschaft gibt es pro Generation immer einen oder eine, die Unruhe stiftet. Die Sorte Teufelsbraten, die stets in das aktuelle Riesending verwickelt ist. Wenn eine Zweitwohnung durchwühlt wird oder eine Karre brennt … wenn Langusten aus den Wasserbecken verschwinden oder während der Hochsaison die Mauern der Anlegestelle mit vulgären Anti-Touri-Sprüchen besprüht werden … Kurz und gut, in der Generation der in den Achtzigern Geborenen bin die epochemachende Unruhestifterin ich: Blanche de Rigny.

Da war mein Ausreißen, klar, als mein Vater mich nach dem x-ten Krach noch vor Abschluss des Collège ins Internat stecken wollte. Dreitägige Suchaktion. Die Hubschrauber vom Bergungsschutz kreisten über der Küstenlinie der Insel. Alle Wasserfahrzeuge bis zum kleinsten Beiboot im Einsatz, um am Fuß der Klippen akribisch nach meiner Leiche zu suchen, während ich mit meinen dreizehn Jahren nach Paris aufgebrochen war, um mich als Bettlerin durchzuschlagen. Damals schon.

Aber vor allem, auch zeitlich, war da meine Geburt.

Sie ereignete sich mitten in einem heftigen Sturm, wie immer, wenn sich auf dieser verfickten Insel ein Drama abspielt. Mein Vater war in Afrika auf hoher See, als meine Mutter starke Blutungen bekam, und da es bei Windstärke 10 unmöglich ist, einen Hubschrauber zu schicken, musste die Seenotrettung sie per Boot zum Festland bringen. Ich war natürlich noch nicht geboren, aber man hat mir die Geschichte so oft erzählt, dass ich mich zwischen den Beinen der Seemannsfrauen stehen sehe, von wo ich zuschaue, wie das orange-grüne Rettungsboot, das sie ins Krankenhaus brachte, über die Rollschienen gleitet. Es wird berichtet, dass keiner der Kerle von der Seenotrettung zögerte; dass ihre Frauen weinten, weil da Mauern aus Wasser waren und sie Angst hatten, ihre Männer nicht lebend wiederzusehen. Auf der Überfahrt verlor meine Mutter ihr ganzes Blut, während die Rettungsleute machtlos zusahen. Sie starb vor der Landung, aber ich großes Sechs-Monats-Frühchen habe überlebt. Einer der Seenotretter hat mich im Rathaus von Brest gemeldet, und um keinen Fauxpas zu begehen, gab er mir den Namen meiner Mutter: Blanche. Man erzählt auch, dass ein paar Tage später, als mein Vater zur Beerdigung heimkam, die Rettungsleute ihn geschlossen am Schiff erwarteten, mit tieftrauriger Miene, als wären sie an irgendwas schuld. Sie waren es auch, die in ihren orangefarbenen Uniformen den Sarg trugen. Der Pfarrer musste die Tür offen lassen, so voll war die Kirche. Bei dieser x-ten Tragödie des Meeres schloss sich die Insel wie ein Block um den Witwer, Vater eines winzigen Mädchens, das sich im Brutkasten auf dem Festland ganz allein durchkämpfte.

Wenn ich so drüber nachdenke, ist das ja vielleicht der Grund, warum ich seekrank werde.

Sofort nach der Beerdigung brach der Alte zu einer seiner längsten Fahrten auf und vertraute mich Omi Soize an, seiner Tante, der Frau, die mich aufgezogen und sich all meiner Alltagssorgen angenommen hat. Seinen Abschied von der Handelsmarine nahm er notgedrungen erst, als außer Reedereien mit Schrottschiffen voller Filipinos niemand mehr einen Alten wie ihn beschäftigen wollte.

Ich war zwölf, als er anfing, Vollzeit mit uns zusammenzuleben, und es versteht sich von selbst, dass er absolut nicht willkommen war, denn nachdem er ein Leben lang durch Abwesenheit geglänzt hatte, kam sein widerliches Macho-Gehabe nicht gut an.

Da jeder Ort seine ureigenen Schicksale heraufbeschwört, muss ich vor meinem Ausreißen unbewusst gespürt haben, dass ich um jeden Preis abhauen sollte von dieser Insel, wo ständig Dramen passierten, ehe das Unheil über mich hereinbrach, mich persönlich … Denn genau so kam es.

Eine alles in allem recht banale Geschichte und eben extrem inseltypisch, wenn Sie wissen, was ich meine … Die Gendarmen waren für die Sommersaison noch nicht eingetroffen, und wir nutzten die Gelegenheit, um einem Lieblingshobby müßiggängerischer Gören zu frönen, nämlich sternhagelvoll und ohne Führerschein mit an der Anlegestelle geparkten Wagen zu fahren, bei denen immer der Zündschlüssel steckt. Und ab die Post, gib Gummi, Jugend … Ich war mit zwei Jungs und einem Mädel vom Campingplatz unterwegs, nicht mit Jugendlichen von der Insel, sonst wäre so was niemals passiert. Ich saß oder besser hing auf der Rückbank und war leider zu besoffen, um zu merken, dass der Idiot am Steuer uns auf den Küstenweg lenkte.

Er hat schlicht und ergreifend nicht gesehen, dass das Land dort endete. Finis terrae. Rums!, ab in die Klippen. Die zwei Typen vorn wurden zermalmt, und das Mädchen neben mir verbrannte bei lebendigem Leib, weil sie die Umsicht gehabt hatte, sich anzuschnallen, und eingeklemmt war. Ich, die ich in keinerlei Hinsicht je habe Umsicht walten lassen, wurde beim Überschlagen des Wagens durch die Heckscheibe katapultiert und brach mir die Wirbelsäule.

Paris, 12. Juni 1870

Gepeinigt von einer unaussprechlichen Angst, verbrachte Auguste grauenhafte Nächte, seit er bei der Losziehung gescheitert war. Von diesem verfluchten Tag an stand sein Wecker auf sieben Uhr, aber wenn der nach nur einer oder zwei Stunden Schlaf klingelte, stellte er ihn aus, legte sich wieder hin und schaffte es erst am späten Nachmittag, sich aus dem Bett zu schälen. Unter ständiger Migräne leidend, hatte er schon zwei Monate keinen Fuß mehr in die Universität gesetzt, und die Beziehung zu seiner Tante Clothilde hatte sich darob erheblich verschlechtert.

Eigentlich bester Stimmung, nachdem sie im Kaufhaus Printemps die neue Kollektion gesichtet hatte, war ihre Freude an diesem Morgen und für den Rest des Tages unwiderruflich dahin, als sie ihren Salon betrat und dort wie an den Tagen zuvor ihren Neffen gleich einem Haufen Schmutzwäsche auf ihrem Sofa liegen sah, wo er, den Kopf in ein feuchtes Handtuch gewickelt, vor sich hin lamentierte. Mit einem klangvollen Seufzer teilte sie ihm ihre Verärgerung mit.

»Haben Sie Mitleid, werte Tante, und schreien Sie nicht! Mein Schädel schmerzt in einem Maße, dass ich mich frage, ob nicht ein Tier in meinem Kopfkissen lauert und sich über Nacht an meinem Gehirn weidet.«

Sie fegte das mit einer gereizten Handbewegung beiseite. »Sie haben einen Brief Ihres Vaters erhalten.«

»Oh! Lesen Sie vor …«, sagte Auguste mit ersterbender Stimme. »Ich kann kaum die Augen öffnen.«

»Ich habe es mehr als satt, dass Sie meine Wohnung mit einem Kurhotel verwechseln, wo man den ganzen Tag verschläft und sich die Wäsche waschen lässt. Lesen Sie diesen Brief doch selbst!« Damit klaubte sie den Umschlag vom Tisch und warf ihn ihm ins Gesicht.

Auguste wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte, um den Brief aufzureißen.

Er enthielt keine guten Nachrichten.

Die israelitische Stellvertreteragentur an der Place Sainte-Opportune, die angeblich Männer in Hülle und Fülle zu verkaufen hatte, hatte sich als Sackgasse erwiesen: Sie war vollständig geplündert und hatte keinen einzigen mehr im Angebot, dabei hatte man einen Vorschuss von 1000 Franc gezahlt. Den hatte Monsieur Levy letztlich zurückerstattet, aber das Problem blieb bestehen, denn in ganz Paris befanden sich alle Agenturen in der gleichen Mangelsituation. Man musste sich folglich ohne sie behelfen. Sein Vater hatte daraufhin die Idee gehabt, seinen sämtlichen Lieferanten ein Schreiben zu schicken mit der Aufforderung, sich bei Gastwirten, Kutschern, Schuhmachern und Pfarrern zu erkundigen – bei allen Berufen, die Kontakt zur Welt hatten –, ob sie Arbeiter ohne Arbeit kannten, die einverstanden wären, sich an einen Familienvater zu verkaufen. Bedauerlicherweise hatte auch dies zu nichts geführt.

Er hatte auch einem entfernten Vetter im Baskenland geschrieben, aber das Anerbenrecht hatte sich dort so verheerend ausgewirkt, dass alle verfügbaren jungen Männer nach Amerika ausgewandert waren. Die Agrargebiete wie die Normandie oder Nordfrankreich erbrachten ebenfalls nichts, denn die einzigen freien Einstandsmänner wurden von den örtlichen Hofbesitzern für ihre Söhne zu horrenden Preisen aufgekauft.

Man riet ihm, eher im Umkreis der großen Städte zu suchen. In Bordeaux hatte einer seiner Steinlieferanten um Haaresbreite einen Einsteher für ihn gefunden. Der Sohn eines Wasserverkäufers, der bei der Auslosung selbst eine schlechte Nummer gezogen hatte, aber da ein Bruder bereits Dienst tat, von der Wehrpflicht befreit war und folglich in der Position, sich freiwillig zu verpflichten. Doch als das Geschäft kurz vor dem Abschluss stand, hatte ein Notar ihm den Mann für die astronomische Summe von 10.000 Franc abspenstig gemacht.

 

Man empfahl ihm auch ehemalige Soldaten, die bei den Musterungskommissionen hoch im Kurs standen. Im Département Orne hatten seine Kundschafter nach der seltenen Perle gesucht und schließlich einen Rekruten gefunden, der Augustes Platz hätte einnehmen können; ein gewisser Roussel, der wegen eines Beinleidens als dienstunfähig entlassen worden war, sich über die letzten zwei Jahre jedoch erholt hatte. Er maß fünf Fuß und drei Zoll, hatte intakte, wiewohl recht hässliche Schneide- und Eckzähne, neigte zu Hämorrhoiden, aber seine Beine, hieß es, seien wieder tadellos. Sein Preis war mit dem Onkel, der ihn beherbergte, zu verhandeln, aber dieser wollte von unter 9000 Franc nichts hören, die Hälfte als Handgeld, was Casimir angesichts der zweifelhaften Konstitution des Kandidaten für überteuert hielt. Dennoch fand der Mann sehr schnell einen Abnehmer und wurde vom Anwerber einer Pariser Versicherungsanstalt gekauft, dessen Beutezug ihn bis in diese Gegend führte.

Jedes Mal, wenn man kurz vor dem Abschluss stand, lag es an der Entfernung, dass das Geschäft geplatzt ist. Ich habe persönlich drei Mal einen Handel gemacht, in Laon, Orléans und Beauvais, keiner davon hatte Bestand, was an der Sorte Leute lag, mit denen ich verhandeln musste, und ich habe mit den drei Reisen, den Kosten für Unterkunft, Handgelder, Anwerber und die Mahlzeiten, die ich ihnen ausgeben musste, nicht weniger als 800 Franc berappt.

Eins steht derzeit fest: Im Umkreis von tausend Meilen ist nicht der geringste 5 Fuß 1 Zoll für unter 8000 Franc zu finden. Aber mach dir deshalb keine Sorgen, wir werden dich dieser vermaledeiten Konskription entwinden, und ich bin gewiss, du kannst schon bald dem Mann deiner Schwester danken, der die Sache in die Hand genommen hat. Als ehemaliger Militär kennt er die Lokale, wo diese Leute trinken, und weiß besser als jeder andere mit ihnen zu reden. Er hat sich erboten, nach Toulon zu reisen, dem Ort, wo die Wehrpflichtigen aus Afrika ausschiffen, aber deine Schwester hat dagegen opponiert. Die Stadt soll zu einer Kloake geworden sein, in der sich sämtliche Menschenhändler aus der Hauptstadt versorgen. Sobald ein Schiff anlegt, kreuzen die Agenten der Versicherungsanstalten und die Anwerber mit Taschen voller Gold auf, um den von tropischen Fiebern und der langen Seereise geschwächten Soldaten ihre Unterschrift zu entreißen. Danach locken sie sie in Kaschemmen, wo man sie unter Drogen setzt und dazu bringt, das Geld für die Stellvertretung, das man ihnen noch nicht ausgezahlt hat, für Prostituierte und Orgien zu verprassen. Der Makler, der sie zum Trinken verleitet, verspricht ihnen 6000 Franc und zahlt ihnen nicht einmal die Hälfte aus, mit dem Rest werden die Ausschweifungen abgegolten, die man ihnen zu Wucherpreisen in Rechnung stellt. Im Anschluss verkauft er sie für 10.000 Franc an bedauernswerte Familienväter weiter, die zu jedem Opfer bereit sind, um ihren Jungen zu retten. Jedenfalls habe ich in der von meinem Freund Tripier herausgegebenen Zeitung gelesen, dass die Musterungskommissionen strikte Weisung erhalten haben, diese aus Afrika ausgestoßenen verrückten Haudegen abzulehnen.

Dein Schwager hat sich deshalb für die Bretagne entschieden, wo alte Freunde ihm noch Gefallen schuldig sein sollen. Er hat ihnen geschrieben. Wir warten.

Mit einem elegischen Seufzer faltete Auguste den Brief seines Vaters wieder zusammen, dann stand er auf.

»Tante, ich gehe aus!«

Keine Antwort.

Er traf sie draußen vor dem Portal im Pulk mit sämtlichen Anwohnern der Rue du 10-Décembre, verzückt angesichts einer Kohorte Kürassiere, die aufrecht und stolz auf ihren Pferden vorüberritten. Der Schimmer der Frühlingssonne auf den Harnischen, das Beben der Erde unter den Hufen füllten die Luft mit dem Kitzel einer Schlacht, was die Gaffer so sehr elektrisierte, dass sie Auf nach Berlin! Auf nach Berlin! brüllten, bis ihre Stimme versagte.

Clothilde, die ihn üblicherweise mit Fragen überhäufte, sobald er einen Fuß vor die Tür setzte, würdigte ihn keines Blickes, zu sehr damit beschäftigt, die gebräunten Gesichter unter den Helmen, die starken Muskeln, die gewölbte Brust der Soldaten zu bewundern. Er beobachtete sie verstohlen und stellte mit Grausen fest, dass sie trotz ihrer sechsundfünfzig Jahre vor Verlangen bebte und mit geblähten Nüstern den kräftigen Geruch dieser Kampftiere einsog.

»Tante, ich gehe aus!«, rief er mit Nachdruck und absichtlich erhobener Stimme.

»Ich habe das Ehepaar Gonthier-Joncourt samt Tochter noch einmal zu meiner Dienstags-Soirée eingeladen. Darüber wollte ich eigentlich mit Ihnen sprechen. Ich wünsche, dass Sie sich von Ihrer besten Seite zeigen.«

»Die Liebe ist eine zu ernste Sache, um zwecks Umgehung des Wehrdiensts irgendein hässliches Entlein zu heiraten. Außerdem muss ›Familienernährer‹ als Freistellungsgrund vor der Auslosung geltend gemacht werden, nicht danach! Es ist also zu spät.«

»Hätten Sie auf mich gehört …«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge, diese Leute stellen Ziegel her, nicht wahr? Oder machen sie in Steinkohle? Oder in Patenten? Mit Verlaub, werte Tante, es steht Ihnen nicht zu, mir die Ehe zu predigen, wo Sie sich selbst stets dagegen gewehrt haben!«

»Das ist etwas vollkommen anderes, wie Sie sehr wohl wissen. Wenn die Frauen immer noch heiraten, dann deshalb, weil sie die Gesetze nicht kennen. Sie aber sind keine Frau. Und ja, diese Leute machen in Steinkohle, wohingegen Sie, wenn ich erinnern darf, in gar nichts machen. Und die Gans, die davon träumt, dass eines Tages ein Dummkopf ihr ihre Erbschaft entreißt, ist Eulalie, ihrer Eltern einzige Tochter, und der Dummkopf in der Geschichte – wenn es nach mir geht, sind das Sie!«

»Mademoiselle Eulalie hat mit neunzehn Jahren bereits die Statur eines kräftigen Landnotars, stellen Sie sich vor, wie sie erst mit dreißig aussehen wird. Obendrein ist sie ein nettes Mädchen und hat gewiss Besseres verdient als einen Mann, der sie niemals lieben wird.«

Seine Tante zuckte schnaubend die Achseln. »Die Gonthier-Joncourt nehmen Sie niemandem weg, und sie weiß das nur zu gut. Genau wie ihre Eltern. Die Verbindung mit einer anständigen jungen Frau, sei sie auch wenig anziehend, dürfte Ihnen, da sie Ihnen Ihre Leidenschaft für … für philosophische Betrachtungen finanziert, weit nützlicher sein als Ihre Gelage mit den Habenichtsen, die sich in Ihren sozialistischen Cafés herumtreiben. Sie wollen Ihr Leben dem Denken weihen? Meinetwegen. Ein de Rigny kann mit seinem Leben anfangen, was er will, aber es ist ihm nicht gestattet, arm zu sein!« Clothilde äußerte diese Familienmaxime, ohne ihren Neffen auch nur anzusehen, während ein Kürassier ihr das Lächeln eines lüsternen Tiers zuwarf, das ihr Gesicht zum Glühen brachte. Auguste war es schlichtweg peinlich.

»Aha, ich sehe schon … Dann überlasse ich Sie Ihren viehischen Gedanken … Guten Abend, werte Tante.« Damit wandte er sich in Richtung seines Hauptquartiers, will sagen, dem Café de Madrid auf dem Boulevard Montmartre.