Paulo und Liang (7)

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Paulo und Liang (7)
Font:Smaller АаLarger Aa

HaMuJu

Paulo und Liang (7)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Liang

Urumqi

Bangkok

The Grape

Wuwei

Impressum neobooks

Liang

Ich ging ein Stückchen die Straße hoch, setzt mich vor unsere Bar und bestellte einen Tee.

Ich wollte den Tag einfach vor sich hin plätschern lassen. Ich trank meinen Tee in aller Ruhe und bestellte mir noch einen. Es war Sonntag und deshalb kaum etwas los. Der Autoverkehr war ohnehin nicht dicht in der Stadt, an diesem Mittag war kaum ein Auto zu sehen. Ich sah, wie ein junger Mann einen Karren heranschob, der bis oben hin voll Weintrauben gepackt war. Die Trauben waren weiß und vollreif, mir lief das Wasser im Mund zusammen. Er postierte seinen Karren genau vor meinen Tisch und wartete auf Kundschaft. Um die Mittgszeit war nicht los und der junge Mann hockte auf seiner Kiste neben dem Karren. Ab und zu kamen Leute vorbei und kauften ein Bündel Weintrauben. Dann gab es wieder eine lange Pause.

Ich zahlte meinen Tee und ging zu dem Traubenverkäufer, schaute auf die Trauben und nahm ein Bündel. Ich fragte ihn auf Englisch, wie viel die Trauben kosteten. Er antwortete, ebenfalls auf Englisch, dass die Trauben vier RNB kosteten. Dann sagte er plötzlich: „Probier doch erst!“ Ich war völlig perplex und starrte ihm ins Gesicht. Da war ein völlig verarmter chinesischer jugendlicher Weintraubenverkäufer, und der sprach mich auf Deutsch an, ich fand zuerst keine Worte. Dann fragte ich ihn einfach auf Deutsch, woher er meine Sprache könnte. Er antwortete, dass er an der Fachhochschule Wiesbaden in Geisenheim Weinbau studiert hätte, er wäre Diplomingenieur. Ich bekam ganz große Augen und sah ihn an. Ich bekam das Bild von dem armen Traubenjungen und dem Weinbauingenieur nicht zusammen. Er sagte, er hieße Liang, ich sagte mein Name wäre Paulo. Liang siezte mich zu Anfang, ich korrigierte ihn sofort und sagte, dass er mich duzen und Paulo zu mir sagen sollte. Dann nahm ich mein Weintraubenbündel und setzte mich zu Liang an die Straße. Liangs Deutsch war ausgezeichnet, wir konnten uns sehr gut unterhalten.

Er sagte, dass sein Studium auf Englisch abgelaufen wäre, und er deshalb besser Englisch als Deutsch spräche. Ich sagte ihm, dass mir das völlig egal wäre, wir sollten uns in der Sprache verständigen, in er wir miteinander am besten klar kämen.

Liang wollte von mir wissen, wie ich nach Turpan gekommen wäre und ich erzählte ihm den ganzen Ablauf meiner Reise und dass ich noch bis Xian müsste, wo die Seidenstraße anfinge. Am Ende meiner Reise wollte ich von Peking nach Hause fliegen. Liang staunte über meine Reiseerlebnisse. Dann erzählte er von seinem Projekt, den Weinbau nach Turpan zu bringen. Ich könnte mir ja nicht vorstellen, mit wie vielen Schwierigkeiten das verbunden wäre. Er müsste gegen den orthodoxen Islam ankämpfen, der das Weinkeltern verböte. Auf seinen Einwand hin, dass die Leute aber doch Bier und Schnaps tränken, bekäme er dann irgendwelche Ausflüchte zu hören. Ich erzählte Liang, dass ich in Kashgar schon Wein aus Turpan getrunken hätte. Er sagte, dass er den Weinbauern kennen würde, er hätte erhebliche Probleme und würde von kaum jemandem geachtet, machte aber gute Geschäfte. Seine Eltern hätten dafür gesorgt, dass er in Deutschland Weinbau studierte, sie hätten die Zukunft Turpans vorausgesehen. Ich fand das wahnsinnig interessant, was Liang erzählte. Ich fragte ihn, wie er Deutschland gefunden hätte, schließlich hätte er drei Jahre dort gelebt. Liang sagte, dass er am Anfang seiner Studienzeit wegen fehlender Sprachkenntnisse erhebliche Probleme gehabt und sein Studium wohl abgebrochen hätte, wenn er nicht Kommilitonen aus China und anderen Ländern mit den gleichen Probleme gehabt hätte. Das Studium selbst wäre ihm nicht schwergefallen, er hätte mit seinen Kommilitonen in einem Wohnheim gelebt, einen Kontakt zu Deutschen hätte es allerdings kaum gegeben.

Er wäre einmal in Frankfurt gewesen. hätte die Stadt aber als so abweisend empfunden, dass er sich nicht hätte vorstellen können, dort zu leben. Einmal hätten sie eine Exkursion nach Wertheim am Main gemacht, das hätte ihm gut gefallen, er wäre auch mit seinen Kommilitonen im Rheingau herumgefahren und hätte sich Wiesbaden angesehen. Woher ich denn käme, wollte Liang von mir wissen. Ich antwortete, dass ich aus Essen käme. Die Stadt würde er nicht kennen, sagte Liang, hätte aber von Essen schon in Verbindung mit Kruppstahl gehört. Wie alt ich wäre, fragte er, und ich sagte, einundzwanzig, er wäre dreiundzwanzig, sagte Liang dann. Obwohl wir erst fünfzehn Minuten miteinander sprachen, kam Liang mir sehr vertraut vor, woran das wohl lag? Es war nicht nur die annähernde Altersgleichheit, es musste etwas anderes sein, das in uns lag, eine Art Gleichklang, den man sofort spürte. Auch bei Liang hatte ich den Eindruck, dass er so von mir dachte. Wo er denn wohnte, fragte ich Liang. Er antwortete, dass er aus Putao käme, das läge mitten im „Grape Valley“. Man hätte ihn und seinen Karren am Morgen mit einem LKW nach Turpan gebracht, wo er den ganzen Nachmittag über Weintrauben verkaufen wollte. Seine Eltern betrieben den Weintraubenanbau schon in der vierten Generation. Sie hätten einen alten Hof, der allerdings nicht sehr groß wäre. Der Hof hätte drei Gebäude, von denen zwei zum Wohnen gedacht wären. In einem lebte er mit seinem Bruder, der fünf Jahre jünger wäre. Wenn ich wollte, könnte ich mit ihm hinauskommen und eine Zeit auf dem Hof leben. Ich sagte Liang, dass ich das gern machen wollte, ich könnte ihm ja auch bei seiner Arbeit helfen.

So fand ich einen Freund, den ich noch eine Zeit lang begleiten würde. Es wurde bereits Wein im „Grape Valley“ produziert, da gab es einen portähnlichen schweren Dunklen und einen leichten fruchtigen Weißen. Gemessen an dem, was er im Rheingau kennengelernt hätte, wären jene Weine aber ausgesprochen blasse Vertreter. Liang wollte als Jungwinzer aber einen Wein, der von sich reden machte. Doch das brauchte reifliche Überlegung und eine Menge Vorbereitung.

Inzwischen war die Gaochang Road etwas belebter geworden. Ich sagte Liang, dass ich meine Sachen im Hotel holen und dann wiederkommen wollte. Später zahlte ich mein Zimmer und ging mit meinem Rucksack auf dem Rücken zu Liang zurück. Er hatte zwischenzeitlich einiges an Weintrauben verkauft, er hatte auch Rosinen, die aber nicht so gut gingen. Am nächsten Wochenende wäre im „Grape Valley“ das Traubenfest, ganz Putao wäre schon auf den Beinen und träfe Vorbereitungen. Bei dem Fest könnte man Besucher aus ganz China bestaunen. Auch er hätte auf dem Hof noch einige Vorbereitungen zu treffen, wobei ich ihm helfen könnte.

Um 17.00 h fuhren wir mit dem Karren die Gaochang Road hoch bis zum Stadtrand. Dort warteten wir eine Viertelstunde, bis uns ein LKW abholte. Liangs Vater saß am Steuer des alten Lastwagens, Liang stellte mich vor, als sein Vater hörte, dass ich Deutscher wäre, wurde er noch freundlicher.

Wir fuhren acht Kilometer Richtung „Flamenberge“, als wir in Putaogou ankamen, was so viel wie „Traubengraben“ hieß. Obwohl ich noch am Vortag mit dem Touristenbus dort durchgekommen war, erschien mir der Ort, als wäre ich nie dort gewesen. An den Hängen und vor allem unten auf dem Talboden wuchsen unendlich viele Weinstöcke, ein kleiner Bach floss durch das Tal. Das dichte Dach, das von den ineinander verwachsenen Weinstöcken gebildet wurde, lieferte einen angenehmen Schutz vor der sengenden Sonne. Zwischen den Weinstöcken sprossen Blumen und wuchsen Obstbäume.

Der Traubengraben umfasste ungefähr vierhundert Hektar, es wurden jährlich sechstausend Tonnen Weintrauben geerntet. Liangs Zuhause war ein relativ kleiner Hof, der etwas entfernt von der Durchgangsstraße im Hintergrund lag. Es sah alles schmuck und sauber auf dem Hof aus. In dem alten Haupthaus wohnten die Eltern, in dem noch neueren Nebengebäude Liang und sein Bruder, und es gab eine Art Stallgebäude für den LKW, Werkzeug und zwei Kühe, in dem Stallgebäude befand sich auch ein riesiger Bottich, in dem die Trauben gepresst werden sollten. Früher presste man die Trauben noch mit den Füßen, Liangs Vater hatte aber eine Presse angeschafft, die allerdings von Hand zu bedienen war, eine Spindelpresse.

Zwischen den Häusern gab es einen Hof, der eine Kiesfläche war, es knirschte, wenn man über den Hof lief oder fuhr. Eine niedrige Backsteinmauer fasste die ganze Hofanlage ein. Das Haus der Eltern stand vor Kopf und bildete den Mittelpunkt des Hofes. Es war eingeschossig und hatte ein flaches Dach. Die Haustür war aufwändig verziert und alt, Liangs Urgoßvater hatte sie einst eingebaut, bei wem er sie hat anfertigen lassen, war nicht mehr bekannt. Es war eine zweiflüglige Tür aus Eiche, man betrat durch sie einen Vorraum, der mit uralten glatten schwarzen Fliesen ausgelegt war. Solche Fliesen gab es im „Palast des himmlischen Friedens“ in Peking, sie waren Jahrhunderte alt und wurden gepflegt, das hieß, sie wurden blank gewienert. Vom Vorraum gelangte man in drei Räume, die Küche, das Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Dieses Untergeschoss reichte Liangs Eltern vollkommen aus, sie hatten im Obergeschoss noch die alten Kinderzimmer, die nicht mehr benötigt wurden und deshalb Abstellräume waren. Im Wohnzimmer, in dem sich Liangs Eltern praktisch immer aufhielten, gab es einen alten Ofen, der mit Holz oder Kohle befeuert wurde. Oft stank es nach Kohlefeuer im Haus, wenn der Ofen nicht richtig zog. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch aus schwarzem glänzendem Eschenholz. Der verdunkelte den ohnehin nicht sehr hellen Raum noch mehr, durch die kleinen Fensterchen fiel nur spärliches Licht. Liangs Vater saß immer auf einem samtenen Sofa und rauchte ununterbrochen filterlose Zigaretten. Nur wenn seine Frau das Essen auf den Tisch gestellt hatte, wenn er zur Toilette oder ins Bett ging, dann stand er auf. Ansonsten saß er und schaute durch das kleine Fenster, das direkt neben dem Sofa in die Wand eingelassen war.

 

Es gab eigentlich nicht viel zu sehen, weil auf dem Hof nichts passierte, und wenn Liang dann doch einmal seinen Karren über den Hof schob, rutschte sein Vater unruhig hin und her, als würde Gott weiß was geschehen. Er hatte graues langes Haar, das aber auf dem Kopf schon lichte Stellen ließ. Er ließ sein Haar wachsen, warum, wusste er auch nicht genau. Seine Frau trug ihm oft auf, doch einmal zum Friseur zu gehen oder sie wollte ihm selbst die Haare schneiden. Er ließ sich aber nicht beirren und seine Haare wachsen. Liangs Mutter war ein ganz anderer Typ Mensch, sie wieselte emsig durchs Haus, machte immer irgendetwas sauber oder kochte in der Küche. Gegessen wurde im Familienkreis, Liang und sein Bruder kamen dann ins Haus und setzten sich im Wohnzimmer an den Esstisch. Ihre Mutter freute sich immer, wenn sie ihre Söhne wegen ihrer Kochkunst lobten. In Wirklichkeit waren sie nur zu faul, selbst zu kochen. Das Leben auf dem Weinhof war unkompliziert und gefällig. Es gab keine auffälligen Besonderheiten, der Ablauf des Jahres war durch die Natur der Weintrauben bestimmt. Lediglich das Weinfest im August brachte etwas Abwechslung. Alles fieberte dem Fest entgegen und putzte sich heraus.

So war auch Liangs Mutter bestrebt, alles in Ordnung zu bringen und den Hof für die Festbesucher sauber zu machen. Liangs Bruder ging in Turpan zur Schule, hätte aber nur noch zwei Monate Unterricht. Er wollte eigentlich mit den Weintrauben nichts zu tun haben, wenn er sein Abitur in der Tasche hätte, wollte er in Shanghai Elektrotechnik studieren. Er hieß Akuma. Wenn man über den Weinhof schritt, überkam einen ein Gefühl von etwas Altehrwürdigem, Ewigem. Wäre nicht der Neubau neben dem Haupthaus gewesen, hätte man denken können, die Zeit wäre stehen geblieben. Man hatte vom Hof aus einen Blick auf die „Flammenberge“, die rot strahlten und greifbar nahe schienen. Ich würde bald mit Liang auf die Berge steigen und dort eine Nacht im Schlafsack verbringen. Das Haus der Jungen war sehr schlicht, es hatte vier Zimmer und ein Badezimmer, es war ein Flachbau. Es wirkte gegenüber dem Haupthaus gedrungen. Am Haus der Eltern wuchs Wein, der mit einigen Trieben über eine Laube geleitet wurde. Dort verdichtete sich die Pflanze und bot Schatten. Sie hing voller Trauben, und am Haus musste der Wein hin und wieder zurückgeschnitten werden, besonders die Pflanzenteile, die auf das Dach wuchsen und über die Wellabdeckungen krochen. Wein war nicht so schlimm wie Knöterich, wenn man den nicht immer wieder bändigte, drohte der alles zu vereinnahmen und zu überwuchern, am besten grub man Knöterichpflanzen aus und warf sie auf den Kompost. Im Neubau hatten Liang und Akuma jeder zwei Zimmer und konnten dort machen, was sie wollten. Allerdings kam die Mutter regelmäßig und putzte die Zimmer. Nie schimpfte sie über die Nachlässigkeit ihrer Kinder oder über den Dreck, den sie hinterlassen hatten.

Das Stallgebäude war ein unscheinbarer Ziegelbau mit einem großen Einfahrttor, es hatte zur Hofseite hin zwei Fensteröffnungen, die allerdings nicht mit Glas eingefasst waren. Im hinteren Teil des Grundstückes befand sich ein Nutzgarten, in dem Liangs Mutter Salat erntete, aber auch Tomaten, Gurken, Paprika Möhren und Kräuter. Sie war sehr oft im Garten und zupfte Unkraut, das hielte sie beweglich, sagte sie immer, wahrscheinlich hatte sie recht damit. Liangs Vater wäre es nicht im Traum eingefallen, in den Garten zu gehen, er saß immer nur auf seinem Sofa im Wohnzimmer und rauchte.

Das „Grape Valley“ hatte etwas Märchenhaftes, Gemütliches. Die vielen Weinranken nahmen einem zwar die Sicht, wenn sie sich über der schmalen Durchgangsstraße vereinigten und ein Blätterdach bildeten, schufen aber auf die Weise einen Raum, der Schutz zu gewähren schien. Manche Leute standen vor ihren Häusern und hängten Girlanden auf. Mitten im Tal gab es eine Verbreiterung, eine Art Platz, auf dem eine Bühne aufgebaut war. Dort würden auf dem Fest Sänger auftreten und Lieder zum Besten geben. Oftmals sangen zwei Mädchen im Duett, vor der Bühne würde getanzt werden, Alt und Jung wären zusammen und würden ausgelassen feiern. Liang und seine Familie waren keine Uiguren, obwohl die Uiguren in Turpan siebzig Prozent der Stadtbevölkerung stellten. Sie waren aber auch keine Han, die dreiundzwanzig Prozent ausmachten. Sie gehörten der Minderheit der Hui an, die im gesamten Turpan-Becken nur sechseinhalb Prozent der Menschen ausmachten.

In Putaogou gab es einige Hui, in ganz China gab es zehn Millionen. Sie waren Muslime, konnten aber keiner größeren Ethnie zugeordnet werden. Ursprünglich stammten die Hui von einem König der Sulu-Inseln ab, den Philippinen also. Liang und ich saßen am Abend in der Laube am Haupthaus. Sie erinnerte mich sehr an eine südtiroler Törgelstube, nur dass man dort keinen Wein trank, sondern Bier, Liang holte uns jedem eine Flasche. Er sagte, dass es sein Ziel wäre, Weinstuben mit Weinausschank zu errichten, in denen Touristen den Wein des „Grape Valley“ probieren konnten. Die Laube erinnerte mich aber auch an zu Hause, wo ich früher mit den Nachbarn und Frau Aldenhoven saß und wo Frau Aldenhoven aus Ostpreußen erzählte. Liang hatte im Rheingau überall Weinstuben gesehen, sicher, der Islam verbot den Alkoholgenuss, aber dann dürfte man auch kein Bier trinken, Liang jedenfalls wollte sich über das Verbot hinwegsetzen. Plötzlich sprang Liang eine Katze auf den Schoß, sie war schwarz-weiß und schön anzusehen. Liang sagte mir, ich sollte sie einmal zu mir nehmen. Ich hob die Katze auf meinen Schoß und streichelte sie, sie ließ sich das genüsslich gefallen und schnurrte. Liang holte noch zwei Flaschen Bier, als sich Akuma zu uns setzte. Er hätte mit dem ganzen Weinbetrieb nichts zu tun, sagte er, er verstünde nicht, wie man sein ganzes Leben an den Weinbau verschwenden könnte, wie seine Eltern und Liang das täten.

Er träumte von einem Leben als Elektroingenieur mit einem guten Einkommen und einer Familie. Er wollte in Shanghai leben, am Puls der Zeit und nicht in dem rückständigen Turpan. Liang ließ ihn reden, er jedenfalls sähe seine Zukunft als Weinbauer in Putaogou, er müsste nur noch die richtige Traube finden. Dann kam der Tag des großen Festes. Alle Bewohner des „Grape Valley“ hatten sich herausgeputzt, Liangs Vater trug seinen Sonntagsstaat. Liangs Mutter hatte ein buntes Seidenkleid angezogen, Liang und sein Bruder trugen Jeans, so als gäbe es keinen Anlass, etwas Besonderes anzuziehen. Ich hatte meine normale Kleidung an, ich hatte auch nichts anderes, sah aber ganz passabel aus, wie ich meinte. Wir liefen an dem hohen Trocknungsturm vorbei, wo jedes Jahr dreihundert Tonnen Weintrauben zum Trocknen aufgehängt wurden, bis nach kurzer Zeit in der heißen Luft von den „Flammenbergen“ Rosinen daraus geworden waren. Auf dem Dorfplatz war der Teufel los, neben vielen Touristen, die von überall her angereist waren, hatten sich auch die Einheimischen versammelt, zum Teil in Tracht, womit sie ein lohnendes Objekt für die Kameras boten. Wir mischten uns unter die Menschen, es gab auch hübsche Mädchen unter ihnen, mit denen man tanzen konnte, wenn sie einen ließen. Ansonsten tanzten die Mädchen oft zusammen und die Jungen standen am Rand und starrten in die Gegend.

Der Singsang auf der Bühne war nicht jedermanns Sache, gefiel aber den meisten Besuchern. Liang und ich hielten uns zwar nicht die Ohren zu, wandten uns aber leicht missgestimmt ab. Und dann bekam ich meinen ersten Wein im „Grape Valley“, eisgekühlten Weißwein von fruchtiger Frische mit einer schönen Farbe. Der Wein war allerdings sehr süß, ich glaubte, dass es in Deutschland früher nur süße Weine gegeben hatte. Der trockene Wein, so wie er in unserer Zeit fast überall getrunken wurde, den gab es erst seit Mitte der 1970er Jahre. Ich sagte Liang, dass der Wein für meine Begriffe zu viel Süße hätte, Eiswein, Spätlesen und Dessertweine wären so süß, sagte ich, aber gewöhnlicher Tafelwein sollte trocken sein. Liang gab mir recht, er wüsste schon, was ich meinte, im Rheingau gäbe es bei den jungen Winzern überhaupt keine süßen Weine. Er hätte sich im letzten Monat eine neue Pflanze aus dem Rheingau schicken lassen und wollte im „Grape Valley“ eine neue Trauben erschaffen. Am nächsten Tag wollte er mir seine neuen Stöcke zeigen, er glaubte, bei der Lese schon so viele Trauben zu erhalten, dass er hundert Flaschen Wein bekäme. Er hätte aber verschiedene Sorten und würde vielleicht mischen. Ich sollte dann mein Geschmacksurteil abgeben. Der Wein, den wir auf dem Fest im Ausschank bekamen, war jedenfalls eindeutig zu süß. Er wurde auch gar nicht von allen getrunken, viele tranken Bier, nachdem sie ein Glas Wein probiert hatten.

Der weibliche Teil der Festgäste hielt sich beim Trinken sehr zurück, die meisten Mädchen und Frauen tranken Erfrischungsgetränke. Dann trat eine Musikkapelle auf und spielte Tanzmusik. Ich forderte ein Mädchen auf, das sich tatsächlich auf einen Tanz mit mir einließ. Die Umstehenden schauten, wie eine der Ihren mit mir Langnase tanzte. Wir tanzten eine Art Foxtrott. Als die Musik aber langsamer spielte und wir enger hätten tanzen müssen, war der Tanz beendet und meine Partnerin lief zu ihrer Freundin zurück. Ich bedankte mich für den Tanz. In der Ecke des Platzes war ein großer Grill aufgebaut, dort bestellten Liang und ich uns Lammkeule. Am Stand daneben gab es Reis und Salat, das war ein Essen, wie ich es mochte. Wir tranken Bier zum Essen, der Wein war als Getränk zum Essen völlig ungeeignet. Liangs Bruder und auch seine Eltern waren völlig in der Menge untergegangen. Am späten Nachmittag liefen Liang und ich nach Hause, seine Eltern waren schon dort, Liangs Vater lag auf seiner Couch und machte ein Schläfchen, seine Mutter trank Tee, Akuma blieb verschollen. Die Musik vom Festplatz dröhnte bis zum Weinhof. Wir wollten am Abend noch einmal auf das Fest gehen.

Liang und ich saßen in der Laube und sprachen über den Wein, den Liang aus Deutschland hatte kommen lassen und auf seinem Weinfeld angebaut hatte. Er hatte fünf verschiedene Reben geschickt bekommen, zwei Rieslinge aus dem östlichen und mittleren Rheingau, von den tieferen Lagen, wo er auf sandigen Lehmböden wuchs, einen Dornfelder, einen Spätburgunder und einen Müller-Thurgau. Liang hätte am liebsten den Schwerpunkt auf einen leichten Roten gelegt, wusste aber natürlich nicht, wie ihm der Spätburgunder oder der Dornfelder gelingen würde. Er hatte daran gedacht, den Dornfelder anzubauen, wie das überall in Deutschland geschähe und ihm eine besondere Note zu geben, die ihm die Sonne, der Boden und das Wasser verliehen. Liangs Mutter kam zu uns und fragte, ob wir Akuma gesehen hätten. Wir sagten, dass er irgendwo auf dem Fest herumstromerte. Wir wollten um 20.00 h noch einmal hinübergehen, in dem Moment wäre uns zu viel los. Liangs Mutter bestätigte, was wir sagten, sie hätte sich auf dem Festplatz manchmal doch zu bedrängt gefühlt. Sie hatte sich ihre Tasse Tee mitgebracht. Ich fragte, ob in China nur grüner Tee getrunken würde, Liang sagte, dass das fast ausschließlich der Fall wäre. Liangs Mutter sah nicht alt aus, jedenfalls nicht alt im Sinne von verbraucht. Ihr Gesicht hatte etwas Edles, ihr Gang war aufrecht und wenn sie lachte, sah man ihre Zähne, die fast alle vorhanden schienen. Das war in China keineswegs selbstverständlich, wie ich mich oft selbst überzeugen konnte. Sie fragte uns, ob wir etwas essen wollten, aber wir lehnten dankend ab. Wir waren von dem Grill auf dem Fest noch pappsatt. Liang und ich tranken unser Bier, und Liang fantasierte über seine Zukunft im Weinbau. Ich fragte ihn, wie er sich den Weinverkauf vorstellte und er antwortete, dass er das noch nicht genau wüsste, mit Sicherheit würde es aber nicht beim Ausschank in Weinstuben bleiben, er könnte sich bei einer entsprechenden Menge durchaus auch einen Weinexport vorstellen. Er dächte auch an weitere Weinfelder, vieles wäre möglich, man müsste es nur angehen.

 

Um 20.00 h gingen wir noch einmal zum Weinfest. Die Musik schallte uns schon entgegen, als wir den Hof verließen. Es war aber nicht dieses Remmidemmi, das man von unseren Schützenfesten und sonstigen Veranstaltungen kannte, es war dieser chinesische Singsang, der mir auf den Wecker ging, Liang ließ ihn über sich ergehen. Als wir am Platz ankamen, standen zwei Schönheiten auf der Bühne und sangen, Akuma tanzte mit einem Mädchen aus Putaogou, Liang kannte es. Wir gingen zum Getränkestand und kauften Bier. Liang sagte, dass das alles viel professioneller ablaufen müsste, es könnte doch nicht sein, dass man in einer der produktivsten Weingegenden Chinas stünde und dort ein Fest gefeiert würde, auf dem man Bier tränke, weil der Wein, der verkauft würde, ungenießbar wäre und Musik gespielt würde, die auf keiner Schul-Abschlussfeier geduldet würde. Er war richtig zornig geworden, man sah Liang an, wie es in ihm arbeitete. Trotz der spießigen Idylle fühlte ich mich auf dem Fest wohl, aber ich war ja auch nur ein Tourist, der bald wieder abreisen würde. Liang machte das Weingeschäft zu seinem Lebensinhalt und da bedurfte es schon einiger Zukunftsüberlegungen.

Gegen 22.30 h war das Fest zu Ende und die Musik hörte auf, es wurde noch ein letztes Bier herausgegeben, einige Leute tranken auch Schnaps, Reisschnaps, um es genau zu sagen. Es gab in ganz China keinen Weinbrand aus eigener Herstellung und wenn sich niemand um dessen Produktion kümmerte, würde es ihn auch in absehbarer Zeit nicht geben. Liang dachte an eine Brennerei, später einmal, zuerst müsste vernünftiger Wein produziert werden. Wir liefen nach Hause und setzten uns noch auf ein Bier in die Laube. Akuma kam angewackelt und setzte sich noch einen Augenblick zu uns, dann torkelte er ins Bett. Um 23.30 h gingen Liang und ich auch ins Bett, ich hatte eines seiner zwei Zimmer zur Verfügung gestellt bekommen. Am nächsten Morgen mussten wir zum Elternhaus hinüber, Liangs Mutter hatte Frühstück für uns gemacht. Sie hatte selbst gemachte Marmelade und Honig, sehr lecker! Brot hatte sie im Dorf gekauft, gut, frisch, fast noch warm. Dann kam Akuma, er hatte einen brummenden Schädel. Woher er denn die Kopfschmerzen hätte, wollte seine Mutter von ihm wissen, wenn er den Schnaps nicht vertrüge, dann sollte er doch die Finger davonlassen. Nach dem Frühstück gingen Liang und ich in sein Weinfeld. Es lag auf der anderen Straßenseite am Hang. Es gab am Hang Lößboden, der hervorragend die Wärme und das bisschen Feuchtigkeit speicherte, die von den sechzehn Millimeter Niederschlag pro Jahr herrührte, aber natürlich würden die Hänge auch aus dem Karez-System bewässert. Es gab in China Lößmächtigkeiten von bis zu vierhundert Metern, zum Beispiel am Gelben Fluss, wo sich die Sedimente ablagerten. Doch im „Grape Valley“ stammte der Löß von den „Flammenbergen“, von wo er durch Winderosion an den Hängen aufgeschichtet wurde. Löß war ein ausgesprochen fruchtbarer Boden, für den Weinbau hervorragend geeignet.

Liang hatte auch im Rheingau Lößboden kennengelernt und dessen Fruchtbarkeit erfahren können. Ich sah die voll hängenden Weinstöcke, rote dicke Trauben hingen an ihnen, die nur auf die Lese warteten. Daneben hingen gelblich-weiße Trauben, die stammten von den Rieslingen und vom Müller-Thurgau, die Roten waren Dornfelder und Spätburgunder. Liang hatte von jeder Weinsorte genug Trauben, um jeweils circa fünfzig Flaschen zu ziehen. Wenn er den Anbau seiner neuen Sorte in großem Stile betreiben wollte, musste er Käufer gewinnen, mehr Käufer als die Touristen, die in der Saison das „Grape Valley“ bevölkerten, Liang musste Nachfrage schaffen, wie das in der Fachsprache der Wirtschaft genannt wurde. Nachfrage in großem Umfange konnte man nur über Werbung schaffen. Liang dachte dabei nicht nur an Plakate oder Zeitungsannoncen, Liang dachte an Fernsehwerbung, wie sie jeden Tag über den Sender lief, den Millionen von Chinesen sahen. Er musste sich einen Werbeclip überlegen bzw. sich von sachkundigen Leuten dabei beraten lassen. Ich fragte Liang, ob ich seine Trauben probieren dürfte, er sagte, dass ich mir überall ein paar abknipsen dürfte. Ich sollte sie aber in dem kleinen Rinnsal, das durch das Feld floss, abspülen, denn er würde Gift spritzen. Das wäre aber nicht sehr umweltfreundlich, sagte ich Liang.

Er entgegnete, dass man im Weinbau keine andere Möglichkeit hätte, auch in Deutschland würde Gift ohne Ende gespritzt. Es gäbe zu viele Schädlinge, die hüben wie drüben ganze Weinernten zunichtemachten, da blieb ihm gar keine Wahl. Ich wusch meine Trauben gründlich ab und biss hinein, ich merkte schon, dass sie vollmundig, aber nicht in klassischem Sinne süß waren. Ich fragte Liang, wann er denn seine Weinlese durchführen wollte, und er antwortete, dass er erst die weißen kernlosen Trauben ernten wollte, die Trauben, die seit Jahrhunderten im „Grape Valley“ angebaut würden. Es wäre gut, dass ich da wäre, denn bei der Weinlese würde jede Hand gebraucht. Klar, dass ich mithelfen würde, sagte ich, ich würde Liang auch bei der Lese seiner deutschen Trauben helfen. Die Weinlese begänne in zwei Tagen, sagte Liang, sein Vater, seine Mutter und sein Bruder würden helfen, vielleicht könnte er noch einige Bekannte aus dem Dorf gewinnen, es gäbe Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten, er würde sehen. Die Trauben, die Liang da aus Deutschland hatte, waren meiner Meinung nach vielversprechend, aber ich war ja kein Sommelier. Liang hatte schon eher das Vermögen, Weine auf ihren Gehalt hin zu beurteilen, aber es gab ja noch keinen Wein, sondern zunächst nur die Trauben an den Weinstöcken.

Die Sonne beschien den Hang den ganzen Tag über, nachts war es kühl, insgesamt war es niederschlagsarm, zur Bewässerung diente das Schmelzwasser aus dem Tienshan, optimale Bedingungen also, um einen guten Tropfen zu erhalten. Wir gingen wieder nach Hause und Liang zeigte mir den großen Bottich im Gerätehaus, er überprüfte die Spindelpresse auf ihre Funktion hin. Dann untersuchte er den Wagen, mit dem die Trauben geholt würden, kontrollierte den Luftdruck in den Reifen und die Tragekiepen, ob bei ihnen die Schulterriemen in Ordnung waren. Ich half Liang dabei, besonders als es darum ging, den Bottich zu reinigen. Ich stellte mich hinein und schrubbte den hölzernen Boden und die Wände mit einer Wurzelbürste. Am Nachmittag war die Arbeit erledigt und wir setzten uns in die Laube. Ich fragte Liang, was er an den Deutschen mochte und was er an ihnen nicht mochte. Liang überlegte eine ganze Zeit lang, bevor er antwortete, dann sagte er, dass er die Strebsamkeit und den Arbeitswillen an den Deutschen gut fände. Jedem wäre klar, dass es ein Leben ohne Arbeit nicht gäbe, alle müssten in einer Volkswirtschaft an der Erstellung des Bruttosozialproduktes beteiligt sein. Nicht so gut hätte er gefunden, dass viele verbissen und verbohrt wären, auch Fremdenfeindlichkeit hätte eine Rolle gespielt, als er sich im Rheingau aufgehalten hätte, es gäbe in Deutschland zu wenig Gelassenheit. Wie ich denn die Chinesen fände, wollte Liang dann im Gegenzug von mir wissen.

Ich überlegte auch eine Weile und sagte, dass ich, um mir ein gründliches Urteil über die Chinesen erlauben zu können, noch nicht lange genug in China wäre, eines wäre mir aber schon in der kurzen Zeit meines Aufenthaltes aufgegangen, das Vorurteil behaftete Bild von China, wie es in Europa noch bei weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet wäre, das würde so nicht mehr stimmen. Es gab den gleichförmigen Ameisenstaat nicht mehr, wie er unter Mao zur Zeit der Kulturrevolution propagiert wurde, auch in China würde Individualität betont, allerdings hätte ich mir Gedanken zur chinesischen Nationalitätenpolitik gemacht. China wäre wegen seiner Größe schon ein besonderes Land mit vielen Volksgruppen, Kulturen und Religionen und von daher schon nicht so einfach mit einem europäischen Land zu vergleichen. Dann wollte Liang, dass wir uns Gedanken zu einem Fernsehclip machten, er wollte sich nicht einfach einem Fernsehmacher ausliefern und etwas eigenes vorweisen können. Ich war einverstanden und wir saßen mit Papier und Bleistift in der Laube und überlegten. Liang meinte, dass wir uns einen Werbespruch überlegen sollten, der zöge, der in das Herz der Chinesen zielte. Man müsste zuerst überlegen, was den Chinesen heilig wäre, dann käme man schon auf ein Werbemotto. Heilig wäre den Chinesen ihre Familie, das müsste im Kern der Werbebotschaft angesprochen werden, man müsste eine Verbindung zwischen dem Wein und der Familie herstellen. Damit war in meinen Augen alles klar. Der Clip müsste ein Ehepaar mittleren Alters mit einem Kind zeigen, das sich in seinem Wohnzimmer aufhielt und sich wohlfühlte. Dann müsste die Frau eine Flasche Wein aus der Küche holen und beiden ein Glas einschenken. Mann und Frau würden sich zuprosten, ob sie sich auch küssen dürften, müsste Liang entscheiden, das Kind spielte mit seinem neuen Spielzeug und war glücklich, das wäre alles. So ein Clip dürfte in der Regel ja nur dreißig Sekunden dauern! Liang fand die Grundidee hervorragend, er glaubte, dass mit dem Familienklischee viele angesprochen würden. Auch jungen Leuten würde man damit aus der Seele sprechen, eine glückliche Familie strebten schließlich alle an.