Der Luftkrieg

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Er schaute nicht ein einziges Mal zurück.

»Das Spiel wär' ausgespielt!« sagte Bert. »Kein Töfftöff mehr für Bert Smallways die nächsten zwei oder drei Jahre. Adieu, Feiertage! … O! Ich wollt', ich hätte das verflixte Ding vor drei Jahren verkauft, als ich eine Gelegenheit hatte!«

III

Der nächste Morgen fand die Firma Grubb & Smallways in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Es schien ihnen eine Sache von sehr geringer Bedeutung, daß der Zeitungs- und Zigarrenhändler gegenüber Plakate aushängen hatte, wie:


Bekanntmachung des amerikanischen Ultimatums. England zum Krieg gezwungen. Unser verblendetes Kriegsministerium weigert sich noch immer, auf Mr. Butteridges Vorschläge einzugehen. Großes Einschienenbahnunglück in Timbuktu.

oder:


Der Krieg nur noch eine Frage von Stunden. New York ruhig. Aufregung in Berlin.

oder auch:


Washington schweigt noch immer. Was wird Paris tun? Die Panik an der Börse. Mr. Butteridge macht ein Angebot. Letzter Wettbericht aus Teheran.

oder:


Wird Amerika sich für den Krieg entscheiden? Antideutscher Aufstand in Bagdad. Der Stadtbehördenskandal in Damaskus. Mr. Butteridge bietet seine Erfindung Amerika an.

Bert starrte mit stieren Augen über das Luftpumpenplakat hinter den Scheiben. Er trug ein verrußtes Flanellhemd und die fackellosen Ruinen seines gestrigen Sonntagsanzugs. Der Laden mit seinen Holzwänden war unsagbar düster und freudlos; noch nie hatten die paar niederträchtigen Mietsräder so hoffnungslos gemein ausgesehen. Er dachte an ihre Kameraden, die »aus« waren und an die kommenden Keifereien des Nachmittags. Er dachte an den neuen Hauswirt und an den alten Hauswirt, an Rechnungen und Forderungen. Und zum erstenmal stellte sich ihm das Leben als ein hoffnungsloser Kampf gegen das Schicksal dar … »Grubb, alter Kerl!« sagte er, die Quintessenz seiner Gedanken ziehend, »ich hab' die Bude satt.«

»Ich auch!« sagte Grubb.

»Sie hängt mir zum Hals heraus! Ich glaub', ich möcht' am liebsten überhaupt keinen Kunden mehr sehen!«

»Und dann der Korbwagen –«, sagte Grubb nach einer Pause.

»Hol ihn der Kuckuck!« sagte Bert. »Wenigstens hab' ich kein Pfand hinterlegt. Das wenigstens hab' ich nicht. Aber –«

Er wandte sich zu seinem Freund. »Schau her«, sagte er, »wir kommen hier nicht voran! Wir haben den Karren verfahren – aber gründlich!«

»Was sollen wir machen?« sagte Grubb.

»Fortgehen. Verkaufen, was wir können, um jeden Preis. Und dann fort. Verstehst du? Es hat keinen Sinn, sich an ein sinkendes Schiff anzuklammern. Absolut keinen Sinn. Einfach Verrücktheit!«

»Schon recht«, sagte Grubb. »Schon recht! Aber dein Kapital hat die Geschichte nicht aufgefressen!«

»Nicht nötig, daß sie uns selber auch noch auffrißt!« sagte Bert, die Spitze überhörend.

»Jedenfalls laß ich mich nicht für den Anhänger haftbar machen. Das ist nicht meine Sache.«

»Wer behauptet denn, es sei deine Sache? Wenn du hier bleiben magst, schön! Ich geh'. Ich wart' noch den Feiertag ab, und dann – adieu! Verstanden?«

»Und läßt mich allein?«

»Und laß dich allein. Wenn du allein gelassen sein mußt!«

Grubb blickte sich im Laden um. Freilich – er war ihm gründlich verleidet! Einst – vor Zeiten – hatte er geglänzt vor Hoffnung und frischem Beginn und neuen Lagervorräten und der Aussicht auf Kredit. Jetzt – jetzt war alles Schiffbruch und Staub! Sehr wahrscheinlich würde gleich der Hauswirt auftauchen und das Geschimpfe über die Fensterscheibe wieder anfangen … »Wohin willst du gehen, Bert?« fragte Grubb. Bert wandte sich um und blickte ihn an.

»Ich hab' mir's ausgedacht, während ich heimging und im Bett. Ich hab' kein Auge zugemacht.«

» Was hast du dir ausgedacht?«

»Pläne!«

» Was für Pläne?«

»O! Du willst ja hier bleiben.«

»Nicht, wenn sich was Besseres bietet.«

»Es ist nur so eine Idee«, sagte Bert.

»Laß hören!«

»Du hast die Mädels zum Lachen gebracht, gestern – das Couplet, was du gesungen hast –«

»Kommt mir wie eine Ewigkeit vor!« sagte Grubb.

»Und Edna heulte fast – über das kleine Lied von mir.«

»Eine Mücke war ihr ins Auge geflogen«, sagte Grubb. »Ich hab's gesehen. Aber was hat das mit deinen Plänen zu schaffen?«

»Viel.«

»Wieso?«

» Begreifst du nicht?«

»Doch nicht auf den Straßen herumsingen?«

»Straßen! Kein Stück! Aber wie wär's mit einer Tour durch die englischen Seebäder, Grubb? Als Sänger! Junge Leute aus guter Familie, die sich einen Scherz machen? Du hast gar keine schlechte Stimme, weißt du, und meine ist tipptopp. Ich hab' noch keinen von den Kerls am Strand gehört, den ich nicht hätt' in Grund und Boden singen können! Und wie man der Geschichte den rechten Pfiff gibt – darauf verstehen wir uns beide, oder? Also – das ist meine Idee. Ich und du, Grubb, mit je einem ernsthaften Lied und einem Gassenhauer. So wie wir's gestern zum Spaß gemacht haben. Das hat mich auf den Gedanken gebracht. Nichts leichter, als ein Programm zu machen. Nichts leichter. Sechs erlesene Nummern und noch eine oder zwei als Zugabe und zum Walzen. Im Walzen bin ich tipptopp – das weiß ich.«

Grubb betrachtete noch immer seinen düsteren, freudlosen Laden. Er dachte an seinen früheren Hauswirt und an seinen jetzigen Hauswirt und an die allgemeine Ekelhaftigkeit der Geschäftslage in einer Zeit, die vom »bittern Notschrei des Mittelstandes« widerhallte; und dann war ihm, als höre er in der Ferne das Klimperklimper eines Banjos und die Stimme einer gestrandeten Sirene … Er fühlte die heiße Sonne auf dem weißen Sand, er sah die Kinder von wenigstens zeitweilig im Überfluß lebenden Sommerfrischlern im Kreis um sich herumstehen; er hörte ein Flüstern: »Es sind wirklich gebildete Leute!«, und dann – kling, klang – fielen die Kupferstücke in den Hut … Manchmal sogar Silber … Und alles Einnahme; keine Ausgabe, keine Rechnungen. »Ich bin dabei, Bert!« sagte er.

»Topp!« sagte Bert. »Und keine Zeit mehr verloren!«

»Wir brauchen nicht ohne Kapital anzufangen«, sagte Grubb. »Wenn wir die besten von den Rädern da auf die Fahrradmesse in Binsbury nehmen, so bringen sie schon noch sechs bis sieben Pfund. Wir können's ganz leicht machen – morgen früh, wenn noch nicht viele Leute unterwegs sind …«

»Mich freut bloß der alte Auerochse, wenn er herüberkommt und wieder sein Geschimpfe anfangen will und dann einen Zettel findet: »Wegen Reparatur geschlossen.«

»Machen wir!« sagte Grubb begeistert. »Machen wir! Und dann hängen wir noch einen Zettel heraus und ersuchen die Kunden, sie möchten bei ihm drüben nach uns fragen. Verstehst du? Die werden ihr Teil über uns zu hören kriegen!«

Noch ehe der Tag um war, war der Plan für das Unternehmen fertig. Erst beschlossen sie, sie wollten sich die »Mr. O.s« nennen, eine Nachahmung des Titels der bekannten Gymnastikertruppe »Die Roten Mr. E.s«; und Bert war ganz versessen auf eine hellblaue Uniform mit unendlich viel Goldborten und Schnüren und Verzierungen, ungefähr wie die Uniform eines Marineoffiziers, nur noch besser. Aber sie mußten den Gedanken wieder fallenlassen, als zu unpraktisch; die Ausführung hätte zu viel Zeit und Geld gekostet. Sie sahen ein, es mußte ein billigeres und rascher herzustellendes Kostüm sein; und Grubb verfiel auf weiße Dominos. Eine Zeitlang hatten sie die Idee, sie wollten die beiden schlechtesten Räder aus ihrem Lager auswählen, sie mit hochroter Lackfarbe anstreichen, die Klingeln durch die lauteste Art von Automobilhupen ersetzen und jedesmal zu Beginn und Ende ihrer Vorstellung ein paar Radfahrstückchen zum besten geben. Aber die Ratsamkeit dieses Schrittes schien ihnen zweifelhaft.

»Es gibt Leute«, sagte Bert, »die uns nicht erkennen würden, die aber die Räder auf den ersten Blick erkennen würden; und wir wollen lieber nicht mit den alten Geschichten fortmachen. Wir wollen ganz von vorn anfangen.«

»Ich jedenfalls!« sagte Grubb. »Sehr!«

»Wir wollen vergessen – und die ganzen faulen, alten Geschichten hinter uns lassen. Sie bringen einem nichts Gutes!«

Trotzdem beschlossen sie, es mit den Rädern zu riskieren, und beschlossen fernerhin, ihre Kostüme sollten aus braunen Strümpfen und Sandalen und billigen, ungebleichten Betttüchern und einem Loch in der Mitte und aus Wergperücken und -bärtchen bestehen. Der Rest ihr eigenes normales Ich. »Die Wüstenderwische« würden sie sich nennen, und ihre Hauptnummern würden zwei populäre Gassenhauer, »Tandem« und »Was kost' die Haarnadel«, sein.

Sie beschlossen, mit kleinen Küstenorten zu beginnen und nach und nach, wenn sie zuversichtlicher würden, größere Punkte anzugreifen. Als Anfang wählten sie Littlestone in Kent, hauptsächlich seines anspruchslosen Namens wegen.

So planten sie; und es erschien ihnen als kleine, unbedeutende Sache, daß, während sie plauderten, die Regierungen der halben Welt und mehr dem Krieg entgegentrieben. Gegen Mittag sahen sie das erste der Abendzeitungsplakate über die Straße herüberschreien:

 


Die Kriegswolke zieht sich zusammen!

Weiter nichts.

»Ein ewiges Getue mit diesem Krieg!« sagte Bert. »Er wird ihnen im schönsten Ernst bald einmal über den Hals kommen, wenn sie sich nicht ordentlich zusammennehmen.«

IV

Der Leser wird also die plötzliche Erscheinung verstehen, die die stille Ungezwungenheit des Dymchurcher Strandes weniger begeisterte als überraschte. Dymchurch war einer der Orte an der englischen Küste, bis zu denen die Einschienenbahn zuletzt vordrang; und sein weiter Strand war zur Zeit unserer Erzählung noch das Geheimnis und Entzücken einer ganz beschränkten Anzahl von Leuten. Man kam, um dem Plebs und dem Luxus zu entfliehen, um zu baden oder zu ruhen und zu plaudern und in Frieden mit seinen Kindern zu spielen, und die Wüstenderwische erregten durchaus kein Wohlgefallen.

Die beiden weißen Gestalten auf grellroten Rädern tauchten aus der Unendlichkeit in der Richtung des Strandes von Littlestone auf, kamen näher und wurden größer und hörbarer, mit Tut-Tut und wildem Geschrei und überhaupt mit einer herausfordernden Lebendigkeit bedrohlicher Art. »Großer Gott!« sagte Dymchurch. »Was ist denn das?«

Jetzt radelten unsere Jünglinge, einem zuvor ausgearbeiteten Plan zufolge, aus der Gänsemarschaufstellung in Reih' und Glied, saßen ab und standen stramm. »Meine Damen und Herren!« sagten sie. »Wir haben die Ehre, uns vorzustellen. – Die Wüstenderwische.« Sie verbeugten sich tief.

Die wenigen über den Strand zerstreuten Gruppen betrachteten sie vor allem mit Abscheu und Entsetzen; nur ein paar von den Kindern und den jungen Leuten zeigten Interesse und kamen näher. »Kein Polizist auf dem Kai«, sagte Grubb leise; und die Wüstenderwische stellten mit einer komischen Geschäftsmäßigkeit, die einem sehr harmlosen, kleinen Jungen ein Lachen entlockte, ihre Räder zusammen. Hierauf holten sie tief Atem und stimmten die fröhliche Weise »Was kost' die Haarnadel« an. Grubb sang das Couplet, Bert fiel mit möglichster Verve als Chorus ein, und am Schluß jeder Strophe führten sie, das Gewand in der Hand, ein paar sorgfältig einstudierte Tanzschritte auf.

»Tingelingeling – tingelingelang –

Was kost' die Haarnidel-nudel-nidel-nadel!«

So tanzten und sangen sie im Sonnenschein auf dem Strand von Dymchurch, und die Kinder sammelten sich voll Erstaunen um diese verrückten Burschen, die sich da so sonderbar aufführten, und die alten Leute blickten kühl und unfreundlich drein.

An allen Küsten Europas erklangen an diesem Morgen Banjos, riefen und sangen Stimmen, spielten Kinder in der Sonne, glitten Vergnügungsboote her und hin; das ganze reiche Leben jener Zeit wogte ohne ein Ahnen der Gefahren, die sich dunkel dagegen erhoben, in seiner fröhlichen Ziellosigkeit weiter. In der Stadt trieben Männer mit Geschäften und Pflichten ihr Wesen. Und die Zeitungsplakate, die so oft »Der Wolf! Der Wolf!« gerufen hatten, blieben auch jetzt unbeachtet.

V

Eben als Bert und Grubb zum drittenmal brüllten, bemerkten sie tief am Himmel gegen Nordwesten einen sehr großen, goldbraunen Ballon, der rasch auf sie zukam.

»Grad, wo sie uns auf den Leim gehen wollen«, murrte Grubb, »muß natürlich was andres kommen, das zieht! Los, Bert!«

»Tingelingeling – tingelingelang –

Was kost' die Haarnidel-nudel-nidel-nadel!«

Der Ballon stieg und sank, verschwand (»Gelandet, Gott sei Dank!« sagte Grubb) und erschien plötzlich wieder. »Verdammt!« sagte Grubb. »Weiter, Bert! Oder sie sehen ihn!«

Sie beendeten ihren Tanz und starrten dann regungslos in die Höhe. »Irgendwas ist nicht in Ordnung mit dem Ding!« sagte Bert.

Jedermann blickte jetzt auf den Ballon, der vor einer frischen Nordwestbrise rasch dahertrieb. Gesang und Tanz waren vollständig abgefallen. Kein Mensch dachte mehr daran. Sogar Bert und Grubb selbst vergaßen es und dachten überhaupt nicht mehr an die nächste Nummer des Programms. Der Ballon machte Sätze, als ob die Insassen versuchten zu landen; immer wieder näherte er sich, sank langsam, berührte die Erde und schnellte sofort wieder etwa fünfzig Fuß in die Höhe, um unmittelbar darauf wieder zu fallen. Der Korb stieß an eine Baumgruppe, und die schwarze Gestalt, die vergeblich mit den Tauen kämpfte, fiel oder sprang in den Korb zurück. Im nächsten Moment war er ganz nah. Es schien ein riesenhaftes Ding, so groß wie ein Haus, wie es jetzt rasch gegen den Strand hinunterglitt. Ein langes Tau schleppte hinten nach, und der Mann im Korb stieß gewaltige Schreie aus. Jetzt schien er seine Kleider auszuziehen, und gleich darauf zeigte sich sein Kopf über dem Rand des Korbs. »Packet das Tau!« hörte man ganz deutlich.

»Vorwärts, Bert!« rief Grubb und fing an, dem Tau nachzulaufen. Bert folgte ihm und stieß, ohne umzufallen, mit einem Fischer zusammen, der in derselben Absicht gerannt kam. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, zwei kleine Jungen mit Sandschaufeln und ein robuster Herr im Flanellanzug gelangten ungefähr alle gleichzeitig zu dem Tau und begannen, im Versuch, es zu erhaschen, darum herumzutanzen. Bert erreichte die sich ringelnde, ständig ausweichende Schlange, setzte den Fuß darauf und erwischte sie glücklich – auf allen vieren. In wenigen Sekunden hatte sich die ganze zerstreute Bevölkerung des Strandes sozusagen um das Tau kristallisiert und zog unter den heftigen und aufmunternden Zurufen des Mannes im Korb an dem Ballon.

»Ziehen!« rief der Mann in der Gondel. »Ziehen!«

Eine Sekunde oder so gehorchte der Ballon seiner Eigenbewegungskraft und dem Wind und zerrte seinen menschlichen Anker dem Meer zu. Er fiel, berührte das Wasser, machte einen großen, silbernen Fleck und zuckte dann zurück, wie ein Finger zurückzuckt, der etwas Heißes berührt. »Ans Land ziehen!« rief der Mann im Korb. »Sie ist ohnmächtig!«

Er bemühte sich um einen unsichtbaren Gegenstand, während die Leute ihn ans Land zogen. Bert war dem Ballon am nächsten und ungeheuer aufgeregt und interessiert. Er stolperte in seinem Eifer fortwährend über die Schleppe des Derwischkostüms. Noch nie hatte er sich so recht vorgestellt, was für ein großes, leichtes, schaukelndes Ding solch ein Ballon war. Der Korb war aus grobem, braunem Geflecht und verhältnismäßig klein. Das Tau, an dem er zerrte, war an einem solid aussehenden Ring, vier bis fünf Fuß über dem Korb, befestigt. Mit jedem Mal zog er ungefähr einen halben Meter Tau an sich, und das schwankende Korbgeflecht kam um ebensoviel näher. Aus dem Korb ertönte erbostes Gebrüll: » Ohnmächtig ist sie!« Und: »Ihr Herz – es ist gebrochen – sie hat zu viel durchgemacht!«

Der Ballon hörte auf, sich zu widersetzen, und sank. Bert ließ das Tau los und sprang vor, um es an einer anderen Stelle wieder zu fassen. Im nächsten Augenblick hatte er den Korb gepackt. »Fassen Sie fest an!« sagte der Mann im Korb, und sein Gesicht erschien dicht neben dem Berts – ein seltsam vertrautes Gesicht, finstere Augenbrauen, eine stumpfe Nase, ein riesiger schwarzer Schnauzbart. Er hatte Rock und Weste abgeworfen – vielleicht im Gedanken, daß er sich durch Schwimmen retten müßte, und sein schwarzes Haar war außerordentlich zerzaust. »Wollen Sie alle einen Kreis um den Korb schließen und festhalten!« sagte er. »Eine Dame ist ohnmächtig geworden – oder hat einen Herzschlag bekommen. Der Himmel weiß, was es ist! Mein Name ist Butteridge. Butteridge ist mein Name – in einem Ballon. Bitte, alle hierher an den Rand jetzt! Das ist das letztemal, daß ich mich einem von diesen vorsintflutlichen Dingern anvertraue! Die Zugleine geht nicht, und das Ventil hat versagt! Wenn mir der Halunke unter die Finger kommt, der …«

Er streckte den Kopf plötzlich zwischen den Tauen heraus und sagte in gewichtigem und anklagendem Ton: »Schaffen Sie Kognak her! Einen anständigen Kognak!« Und irgend jemand lief den Strand hinauf, um Kognak zu holen.

In dem Korb, in studierter Hingegossenheit auf einer Art Ruhebett ausgestreckt, lag eine massive, blonde Dame in einem pelzgefütterten Mantel und einem großen, blumengarnierten Hut. Ihr Kopf war gegen die gepolsterte Ecke des Korbs zurückgesunken; ihre Augen waren geschwollen, ihr Mund stand offen. »Meine Liebe!« sagte Mr. Butteridge mit einer normal lauten Stimme. »Wir sind gerettet!«

Sie rührte sich nicht.

»Meine Liebe!« sagte Mr. Butteridge in einer erheblich verstärkten, lauten Stimme. »Wir sind gerettet!«

Sie war noch immer völlig teilnahmslos.

Jetzt zeigte Mr. Butteridge den feurigen Kern seiner Seele. »Wenn sie tot ist«, sagte er, indem er langsam eine Faust gegen den Ballon ballte und in ein gewaltiges Tremolobrüllen überging, »wenn sie tot ist, so will ich die Himmel zer-r-reißen wie ein Gewand! Sie muß heraus!« schrie er mit vor Erregung sich blähenden Nüstern. »Sie muß heraus! Ich kann sie nicht sterben lassen in einem neun Fuß langen Korb! – Sie, die geboren war für den Thron von Königen! Ist unter Ihnen ein kräftiger Mann, der sie nehmen kann, wenn ich sie heraushebe?«

Er sammelte die schlaffen Glieder der Dame mit einer gewaltigen Bewegung in seine Arme und hob sie auf. »Sorgen Sie, daß der Korb nicht auffliegt«, sagte er zu den Leuten, die sich um ihn drängten. »Legen Sie sich mit Ihrem ganzen Gewicht darauf. Sie ist nicht leicht, und wenn sie draußen ist, wird er – entlastet sein.«

Bert sprang leicht in eine sitzende Stellung auf den Rand des Korbs. Die anderen faßten die Taue und den Ring fester.

»Fertig?« sagte Mr. Butteridge.

Er stand auf dem Ruhebett und hob die Dame sorgsam in die Höhe. Dann setzte er sich auf den Strohrand, Bert gegenüber, hob das eine Bein und ließ es an der Außenseite herabbaumeln. Ein Tau oder irgend etwas schien ihm im Weg zu sein. »Kann jemand mir helfen?« sagte er. »Wenn Sie die Dame nehmen wollten!«

Gerade in diesem Augenblick, während Mr. Butteridge und die Dame auf dem Korbrand balancierten, kam sie zu sich. Sie kam plötzlich und heftig zu sich, mit einem lauten, herzzerreißenden Schrei: »Alfred! Rette mich!« Dabei fuchtelten ihre Arme suchend in der Luft herum und schlossen sich dann um Mr. Butteridge.

Bert hatte die Empfindung, daß der Korb einen Augenblick schwankte und dann einen Bocksprung machte und ihn stieß. Ferner sah er die Stiefel der Dame und das rechte Bein des Herrn einen Bogen durch die Luft beschreiben und dann über die Seitenwand des Korbs verschwinden. Seine Eindrücke waren etwas verwirrt; sie umschlossen auch die Tatsache, daß er das Gleichgewicht verloren hatte und gleich in dem knarrenden Korb auf dem Kopf stehen würde. Er streckte klammernde Arme aus. Er stand auch auf dem Kopf, mehr oder weniger; sein Wergbart ging ab und kam ihm in den Mund, und seine Backe glitt an Kissen ab … Seine Nase grub sich in einen Sack voll Sand. Der Korb tat einen heftigen Ruck … und stand still.

»Alle Wetter!« sagte Bert.

Er hatte ein Gefühl, als wäre er betäubt; es brauste ihm in den Ohren, und die Stimmen der Menschen um ihn her klangen schwach und fern. Es war wie das Rufen von Elfen in einem Hügel …

Das Aufstehen war ein bißchen schwierig. Seine Gliedmaßen hatten sich in die Kleidungsstücke verwickelt, die Mr. Butteridge abgeworfen hatte, als er glaubte, er müsse sich ins Meer stürzen. »Sie hätten mir's auch vorher sagen können, daß Sie den Korb umschmeißen würden!« schrie Bert halb ärgerlich, halb kläglich. Dann richtete er sich auf und klammerte sich krampfhaft an die Seile des Korbs.

Unter ihm, tief unter ihm, leuchtend blau, lagen die Wasser des Kanals. Ganz fern – ein winziges Ding im Sonnenschein, das abwärts schwand, als ob eine Menschenhand es einwärts böge, waren der Strand und die unregelmäßige Häusergruppe von Dymchurch. Er sah den kleinen Haufen Menschen, die er so plötzlich verlassen hatte. Grubb, im weißen Gewand des Wüstenderwischs, rannte am Meeresufer entlang. Mr. Butteridge watete knietief im Wasser und brüllte gewaltig. Die Dame saß, ihren blumengarnierten Hut im Schoß und schmählich vernachlässigt, im Sand. Die ganze Küste im Osten und Westen war mit kleinen Menschen gepunktet – die alle nur aus Köpfen und Armen zu bestehen schienen und alle in die Höhe starrten. Und der Ballon, von den dreieinhalb Zentnern Mr. Butteridges und seiner Dame befreit, schoß mit der Geschwindigkeit eines Rennautomobils in den Himmel hinauf. »Alle Wetter!« sagte Bert. »Nette Geschichte!«

 

Er blickte mit sorgenvollem Antlitz auf die entschwindende Küste und dachte, daß er gar nicht schwindlig sei. Dann untersuchte er etwas oberflächlich die Leinen und Taue um ihn herum in der unklaren Idee, man müsse »etwas tun«. »Lieber die Finger davon lassen!« sagte er schließlich und setzte sich auf die Matratze. »Ich rühr's nicht an … Möcht' wissen, was ich eigentlich tun müßte?«

Nach einer Weile stand er wieder auf und starrte auf die sinkende Welt hinab, die weißen Klippen im Osten, das flache Heideland im Westen, die ganze weite Aussicht von Wald und Dünen, die nebelhaften, dunstigen Städte und Häfen und Flüsse, die bändergleichen Straßen und zahllosen Schiffe, Schiffsdecks und verkürzten Schornsteine, auf die weiter und weiter sich dehnende See und die große Einschienenbahnbrücke, die den Kanal von Folkestone bis Boulogne überspannte, bis schließlich erst kleine Streifen, dann ein ganzer Schleier dunstiger Wolken seinen Augen den Ausblick verdeckte. Er war kein bißchen schwindlig und auch gar nicht sehr ängstlich; nur in einem Zustand menschlicher Bestürzung.