Die Revolution der Bäume

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Heutzutage bedient sie sich einer anderen, wesentlich subtileren Strategie. Im Laufe von hundert Jahren intensiven Abwägens und Recherchierens hat sie begriffen, dass eine positive, lebensbejahende Botschaft zwar eine guter Ansatz ist, dieser allerdings als vergebliche Liebesmüh auf unfruchtbaren Boden fällt, wenn er nicht in kleinen, mundgerechten Häppchen serviert wird.

Konsequenterweise kam sie zu dem Schluss, dass einen vorbildlichen Lehrer vor allem die Fähigkeit auszeichnet, komplexe Zusammenhänge auf das sinnvolle Minimum herunter zu brechen und anschließend das so extrahierte Wesentliche mit adäquaten Worten flüssig zu formulieren und gelassen zu artikulieren.

Der eigentliche Kunstgriff erfolgreicher Kommunikation, ist der der Vereinfachung. Dabei verlässt die Eiche sich heutzutage ganz auf die erfahrene Stimme ihres Herzens, dessen mitfühlendes Wesen um die Notwendigkeit weiß, Botschaften artgerecht zu vermitteln, indem es Überflüssiges streicht und sich stattdessen vielsagend in Schweigen hüllt. Bewusst gesetzte Pausen vervollkommnen den Prozess der Rezeption, sie bringen den Verstand des Gegenübers zur Ruhe. In aller Stille kann die Message auf kleiner Flamme in den Köpfen der Zuhörer köcheln, bis sie gar ist.

Insbesondere was die schwierige, von vielen Vorurteilen belastete, Völkerverständigung mit der Gattung des Homo Sapiens angeht, liegt die Würze in der Kürze. Anstatt den zumeist kritisch und skeptisch reagierenden Verstand der Menschen anzusprechen, vermittelt die Eiche ihre Anliegen, liebevoll verpackt in Form von Gute-Nacht-Liedern. Auf diese subtile Art und Weise lassen sich sogar brisante, schwer verdauliche Informationen erfolgreich an die Frau, beziehungsweise an den Mann bringen. Diese Methode hat die Eiche bei einem Studenten der Psychotherapie abgekupfert, der im Sommer manchmal im Schatten ihrer ausladenden Äste Zuflucht vor der Hitze sucht und dort für seine Prüfungen büffelt. Sie hat das erprobte Behandlungskonzept der Hypnose natürlich ein wenig zurechtgestutzt und ihren Anforderungen angepasst, sodass es nur noch entfernt an die ursprüngliche Verfahrensweise erinnert.

Ihre etwas eigenwillige Auslegung dieser psychotherapeutischen Heiltechnik befindet sich zwar noch in der Testphase, scheint ganz gut zu funktionieren. Am nächsten Morgen wachen die Adressaten optimal tiefenentspannt auf, und die entsprechende Botschaft ist fest in ihren Köpfen verankert. Wie bei einem Ohrwurm, der im Radio in Dauerschleife läuft, möchten sie die vertraut wirkende Melodie am liebsten die ganze Zeit vor sich hin summen und haben längst vergessen, worum es im Hintergrund eigentlich geht und wo sie ihre neuen Denkansätze aufgeschnappt haben.

Entscheidend bei dieser Vorgehensweise ist, dass während der Informationsübermittlung alle inneren Widerstände der Menschen unbemerkt umschifft werden können und es am Ende nicht mehr um den Ursprung der Idee, sondern nur noch um die Botschaft selbst geht. Die ursprüngliche Einheit von Quelle und Information ist ab diesem Punkt ohne Bedeutung, sie haben sich voneinander abgelöst.

Die Eiche lässt ihren gelassenen, altersweisen Blick über ihr Publikum gleiten. Nur wenige sind von ihrem Kaliber, das Jungvolk ist eindeutig in der Überzahl. Abgesehen von ihren taufrischen, ansehnlichen Körpern und glatten Gesichtern, erkennt man sie an ihrem Hunger auf Sensationen, an der ungebrochenen Erlebniswut und der schier unstillbaren Neugier, die in ihren Augen glänzt. Jede noch so überflüssige Banalität ist als Ablenkung willkommen, Hauptsache, sie erweckt den Anschein, neu und unverbraucht zu sein und ihr Unterhaltungsfaktor stimmt.

Na ja, wir waren alle mal jung, sinniert sie und sogleich steigen erquickende Erinnerungen an die gute, alte Zeit in ihr auf. Milde lächelnd beschließt sie deshalb, ihrer Gemeinde vorerst ihre Illusionen zu lassen. Es ist ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie sie verlieren werden. Denn die ernüchternde, schockierende Wahrheit über das sich auf Siebenmeilenstiefeln anbahnende Schicksal des Weihtaler Waldes und die mehr als ungewisse Zukunft ihres Lebensraumes, dieser zurzeit noch relativ intakten Insel des Glücks, erfahren sie schon noch früh genug.

Kinder müssen sich spielerisch und durch die Spontanität unmittelbarer Erfahrungen entwickeln, und diese so lebenswichtigen Lernprozesse will ihnen die Eiche unter keinen Umständen vorenthalten.

Das verhaltene Tuscheln, Scharren, Raunen und Wispern endet augenblicklich, als die Eiche in ihren wohlgesetzten Worten fortfährt.

„Die feierliche Stille, die über dieser Szenerie lag, hat mich tief berührt. Sie verstärkte die außergewöhnliche Atmosphäre, die die Prozession umgab, eine verwirrende Mischung aus Hochzeitszeremonie und Beerdigungsritual. Kurz bevor die Frauen, Männer und Kinder in der alles überstrahlenden Sonne verschwanden, lag der Ausdruck purer Glückseligkeit in ihren Gesichtern. Das, was in den Augen eines außenstehenden Betrachters wie ein Akt der Auslöschung anmuten musste, sie schienen es keineswegs zu fürchten. Im Gegenteil, sie wirkten, als ob sie von einem heiligen Licht grenzenlosen Vertrauens erfüllt wären und sich maßlos auf die vor ihnen liegende Etappe der Reinkarnation freuten.

Eine höhere, grenzenlos liebende Macht nimmt jedes einzelne Lebewesen an die Hand und führt es an einen besseren Ort, war der Gedanke, der mir bei diesem Anblick spontan in den Sinn kam.

Nachdem ich Zeuge eines Wunder des Lebens, seiner Wiedergeburt, geworden war, kehrte ich in meine heimatlichen Gefilde zurück. Die Menschen, die ich unterwegs traf, wirkten sichtlich erleichtert, machten teilweise einen regelrecht erlösten Eindruck auf mich. Als ob sie jahrzehntelang unter der erstickenden Glocke eines bösen Fluchs gelebt hätten und diese nun wie eine Seifenblase zerplatzt wäre.“

Mit einem im ganzen Wald deutlich vernehmbaren Stoßseufzer zieht sich die Eiche erschöpft in sich selbst und den kühlen Schatten ihres Blätterdachs zurück. Sie ist im Großen und Ganzen zufrieden mit der Wahl ihrer Worte und auch mit dem offenen Schluss der Geschichte. Den erzählerischen Rahmen ihres Reiseberichts hat sie ohnehin schon relativ weit gesteckt, es wäre sinnlos, den Wald mit allzu vielen irritierenden Details zu überfordern und die in ihm beherbergten großteils sehr naiven Geister in Unruhe zu versetzen.

Was sie ihnen daher verschwiegen hat, ist der Teil der Reise, den sie absolut rätselhaft findet. Wobei sie sich eingestehen muss, dass sie sich selbst manchmal ein Rätsel ist. Insbesondere ihre schwer zu zügelnde Neugier empfindet sie als äußerst unangemessen. In ihrem fortgeschrittenem Alter sollte sie derartigen selbstsüchtigen Kindereien eigentlich längst entwachsen sein und sich nicht mehr von der Lust auf tolldreiste Abenteuer auf das Glatteis führen lassen.

Dennoch, sie konnte einfach nicht widerstehen, zu groß war die Versuchung, den unvergleichlichen Duft eines gebrochenen Tabus zu schnuppern und zu spüren, wie das Adrenalin in jede Zelle schießt. Sensitive Sensationen, die unweigerlich eine deutliche Reaktion hervorrufen würden. Bis in den Innersten ihrer Jahresringe hinein, war die Eiche erfüllt von einer fast masochistischen Sehnsucht nach überirdischer Aufmerksamkeit. Auch wenn ihr Verhalten ihr auf eine absurde Art fatalistisch vorkam, konnte sie es kaum erwarten, dass mit der Konsequenz ihrer unkalkulierbaren Grenzüberschreitung das Chaos über sie hereinbrechen würde. Nach Jahren absoluten Stillstands, stand ihr nun endlich mal wieder ein Erdbeben der Richterskala neun bevor. Das erhoffte sie sich vor allem von diesem planlosen Aktionismus, sie wollte bis in ihre Grundfesten, bis in die filigranen Enden ihres Wurzelgeflechts hinein erschüttert werden.

Da ihr fünfhundertjähriger Erfahrungshorizont mit derartigen haarsträubenden Episoden inzwischen regelrecht gespickt war, wusste sie um den Preis, den man zahlte, wenn man leidenschaftlich gerne abseits ausgetretener Pfade wandelte. Lange haderte sie mit ihrem Schicksal und verfluchte den Umstand, dass sie als Baumgeborene dazu verurteilt war, das Zen des Innehaltens und der Langsamkeit von der Pike auf erlernen und perfektionieren zu müssen. Ihr war es zuwider, die Rolle einer Eiche erfüllen zu müssen, die traditionell die eines Vorbildes in Sachen Entschleunigung zu sein hat.

Auch wenn sie sich im Laufe der Zeit mit ihrer Bestimmung halbwegs abgefunden hatte, blieb einem unternehmungslustigen Charakter wie ihr doch schon aus Gründen der psychischen Hygiene gar nichts anderes übrig, als sich in der geistigen Sphäre nach Herzenslust auszutoben, oder?

Jedes Kind weiß, sinnierte die Eiche, dass sich eine Vision auf die Zukunft bezieht, es sich um eine Art Vorahnung handelt. Was jedoch kaum jemandem bekannt sein dürfte, ist die Tatsache, dass einige wenige Auserwählte imstande sind, sich innerhalb ihrer Vision frei zu bewegen und die Räume, in denen die Zukunftsmusik spielt, nach eigenem Ermessen zu erkunden.

Die Träumerin Eiche besitzt diese außerordentliche Fähigkeit und ist sich, trotz ihrer gelegentlichen Anfälle spätpubertären Leichtsinns, der Exklusivität dieser Gabe bewusst und schätzt sich überglücklich, vom Schicksal so reich beschenkt worden zu sein. Und da sie blindlings darauf vertraut, dass insbesondere ihr von einer unverbesserlich kindlichen Natur geprägtes Wesen ihr bester Schutz ist, beschließt sie, von dieser unmöglichen Möglichkeit Gebrauch zu machen und abermals viel zu weit zu gehen.

Sie konnte einfach nicht anders handeln. Das geheimnisvolle Portal zog sie magisch an. Auch wenn die Tür äußerst geschickt mit einem alles überstrahlenden Licht getarnt war, ließ sie sich nicht irreführen. Sie wusste, dass der helle Schein den Zweck hatte, ungebetene Besucher zu blenden und so dafür zu sorgen, dass nur diejenigen es als Durchgang zu einem anderen Ort erkannten, die sich auch tatsächlich anschickten, ihn zu betreten.

 

Regungslos verharrte die Eiche auf ihrem Beobachtungsposten und fragte sich, welche besondere Sphäre sich wohl jenseits dieser geheimnisvollen Pforte befinden mochte. Ihre diesbezüglichen Informationen beschränkten sich auf fantastische Legenden über ein völlig unfassbares Märchenland, das auf der anderen Seite dieser intergalaktischen Lichtschranke angeblich Ziel jener letzten Reise war, die jedes Lebewesen am Ende seiner irdischen Existenz antrat. Mit Sicherheit wusste sie nur, dass dieser sagenumwobene Ort ausschließlich denen vorbehalten war, die das Zeitliche gesegnet hatte. Eine VIP-Lounge der besonderen Art, auf deren Eingang ein großes Schild prangte:

Hier kein Durchgang für Lebendige!

Eigentlich eine unmissverständliche Botschaft, doch Verbote besaßen schon immer eine fatal verführerische Wirkung auf die Eiche. Anstatt sie abzuschrecken, animierten diese sie dazu, genau das zu tun, was sie unter Strafe stellten.

Und so schlich sie sich wider besseren Wissens immer näher an die Lichtquelle heran, bemüht, maximal unauffällig zu wirken, sich nach Möglichkeit unsichtbar zu machen. Während die Träumerin zwischen den Menschen nach Deckung suchend, geduckt über das Blütenmeer schwebte, konnte sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Allzu lachhaft erschien ihr der Versuch, unerkannt zu bleiben. Als ob der Urheber dieses überirdisch anmutenden Lichts Ohren und Augen bräuchte, um sie zu bemerken. Welche Wesenheit sich auch immer hinter diesem Phänomen verbergen mochte, sie war mit Sicherheit der Beschränktheit der gängigen fünf Sinne entwachsen und hat umfassendere, wesentlich subtilere Formen der Wahrnehmung entwickelt.

Die lupenreine Qualität des Lichts, seine makellos weiße Klarheit, ließ im Grunde genommen nur einen einzigen Schluss zu. Und zwar den, dass sie göttlichen Ursprungs war. Welche andere Instanz könnte in der Lage sein, eine derart machtvolle, alles überstrahlende und trotzdem wohltuende, auf eine heilsame Art befriedend wirkende Energiequelle zu installieren? Eine Sonne, deren Strahlen die Eiche beim Näherkommen nicht verbrannten, wie sie anfangs befürchtet hatte, sondern zärtlich umschmeichelten wie ein lauer, abendlicher Sommerwind.

Die fürsorgliche Berührung einer großen, warmen Hand aus Licht auf ihrem Geistkörper zu spüren, war zunächst eine, der Träumerin vollkommen fremde Empfindung. Je weiter sie sich in den gleißenden Gaskörper der Sonne vor wagte, desto intensiver wurde das Gefühl getragen zu werden, bis es sie schließlich einhüllte wie eine liebevolle Umarmung. Unversehens fand sie sich in einer Sphäre absoluter Stille wieder, die mit einer kompromisslosen Nähe verbunden war, wie sie sonst nur die innige Verbundenheit eines Lebewesens gegenüber dem leiblichen Kind hervorbringen kann.

Wie lange dieser Zustand anhielt, konnte die Eiche später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Eingesponnen in einen schützenden Kokon aus reinstem Glück, verlor sie jedes Zeitgefühl. Was sie jedoch deutlich registrierte, war das befreiende Gefühl, als eine pralle Eiterblase giftiger Negativität in ihrem Innern aufbrach und wie ein schwarzes, zähflüssiges Rinnsal aus ihr heraus sickerte, die Welt ihrer Gedanken und Gefühle verließ.

Denn auch als Baum ging das Leben nicht spurlos an einem vorüber, auch sie hatte sich im Laufe der Zeit mit dem Virus tiefsitzenden Misstrauens gegenüber Allem und Jedem infiziert. So empfand sie es als Segen, dass sie das weiße Licht von einem ganzen Berg irrationaler Ängste erlöste und jede Menge erstickende Zweifel auslöschte.

Irgendwann erschien ein spiralförmiges Lichtwesen an der Seite der Träumerin, nahm sie behutsam an ihre dunkelgrün bemooste Hand und führte sie in das Zentrum des Heiligtums. In seiner Mitte glomm in einem zarten, transparent wirkenden Orangeton ein fluoreszierender Lichtkranz, der in stetem, ruhigen Rhythmus pulsierende Kern der Sonne. Auf die Eiche wirkte er wie eine Insel der Verheißung. Um diesen Ort stiller Glückseligkeit einigermaßen treffend zu beschreiben, müsste man eine neue Sprache erfinden. Grob ausgedrückt, bestand er aus Nichts und enthielt dennoch Alles.

Der Magnet aus Licht trieb den Frohsinn der Träumerin in schwindelerregende Höhen, bis sie es kaum noch ertragen konnte und befürchtete, gleich vor Entzücken zu verbrennen. Magisch angezogen, taumelte sie auf den immer gleißender erstrahlenden Schein zu, realisierte bestürzt, dass sie sich im freien Fall befand und und verlor den Verstand. Und während ihr Geistkörper haltlos wie Weltraumschrott um seine eigene Achse trudelte, drehte sie sich auch gedanklich um sich selbst und um das, was hinter ihr lag. Vage, aus großer Ferne, nahm sie wahr, dass ihre Erfahrungswerte abgefragt wurden, und dann funkelte die Gesamtzahl der einschneidenden Erlebnisse ihres vergangenen Lebens, wie eine Kette aus Blitzlichtern, vor ihrem inneren Auge vorbei.

Als sie ihr Bewusstsein zurück erlangte, fand sie sich in dem Zustand eines frisch geborenen Säuglings wieder. Frei von jedwedem Zweifel und mit sperrangelweit geöffneten Sinnen lauschte sie ihrer ganz persönlichen Offenbarung. Während sie, ohne zu urteilen, ihre Qualitäten und ihre Schattenseiten betrachtete und abwägte, erkannte sie ihr eigenes Potential, aber auch ihre trickreichen Mechanismen der Verhinderung und Selbstsabotage. So selbstverständlich wie ein guter, lang vertrauter Freund, zeigte ihr die lichte Instanz die Vielzahl der inneren Widerstände auf, die sie sich alltäglich zwischen die Wurzeln warf.

Keine komplizierten Erklärungen, weder Worte, noch Bilder, als ob der gute Rat aus ihr selbst gekommen wäre. Ein Lehrer, so unaufdringlich und klar in seiner Botschaft wie ein Herz, dessen gelassene Impulse das Blut im Körper verteilten. Das Licht war ein geflüstertes Versprechen. Es verhieß Erlösung und ließ sie an der universellen Erkenntnis teilhaben, dass die Realisierung ihrer sehnlichsten Wünsche nur eine Frage ihrer richtigen Einstellung war.

3 / Bei Nacht und Nebel

Die eingeschworene Gemeinschaft der Naturschützer erreicht ihr Ziel noch weit vor dem Morgengrauen, lange bevor der erste, frühe Vogel auch nur Piep machen mag und reißt alle Bewohner des Waldes aus dem wohlverdienten Schlaf. Alle, bis auf die gewohnheitsmäßigen Nachtschwärmer und zurückgezogen lebenden Nachtschattengewächse, die den klammheimlichen Einzug der jungen Leute mit Argusaugen beobachten.

Während sich die Neuankömmlinge mit Sack und Pack auf einer, im Zentrum des Waldes gelegenen, Lichtung ausbreiten und damit wie selbstverständlich den Versammlungsort der hier heimischen Fauna und Flora in Beschlag nehmen, macht die Kunde von dem ungebetenen Besuch schnell die Runde. Die zuverlässigsten Schnellkuriere und Wächter des Waldes sind die Eichelhäher, ihre Großfamilien sind extrem engmaschig vernetzt und tragen jede Neuigkeit in Windeseile in alle Welt. Neben ihrer hässlichen Angewohnheit, die Nester von heimischen Singvögeln zu plündern, haben sie allerdings auch den Ruf, die allergrößten Lästermäuler der westlichen Hemisphäre zu sein, eine kleine Charakterschwäche, die ihr kommunikatives Talent wohl unweigerlich mit sich bringt. Bei diesem äußerst umtriebigen Vogelvolk halten sich Licht und Schatten federgenau die Waage.

So wie die alte Eiche im Weihtaler Forst die Rolle des Mediums inne hat, gibt es bei den frisch Zugezogenen einen jungen Mann namens Jo, der für diese Aufgabe prädestiniert ist. Allerdings ist er das eher unfreiwillig, noch hadert er mit seinem Schicksal, das einen klar umrissenen Plan zu verfolgen scheint.

Es versucht, ihn dazu zu motivieren, dem Sumpf aus konfuser Stagnation, in dem er sich momentan befindet, eine Form zu geben. Der Plan, den es dabei verfolgt, ist aus seiner Not eine Tugend zu machen und dieser auf diese Weise einen tieferen Sinn zu verleihen. Vor allem gilt es zu vermeiden, dass aus einer Übergangsphase eine Dauerlösung wird. Sein momentanes Lebensgefühl ließe sich, nach seinem ausgedehnten Ausflug in das Nirwana lupenreiner Ekstase, aktuell am treffendsten als schweres Schweben charakterisieren.

Der Junge nennt sich Jo wie „Jo“ und nicht wie im Amerikanischen, „Dscho“. Und es scheint fast so, als ob ein großer Geist, der über die Wege aller Lebewesen wacht, die erklärte Absicht hat, aus der gerade erst überstandenen lebensbedrohlichen Krise um seinen labilen Geisteszustand, eine Chance auf einen Neubeginn zu generieren.

„Rückblickend hat das Unheil mit einer einzigen Pille begonnen.“, redet er sich sein Drama gerne schön. Eine reichlich verklärte Sicht der Dinge, die auch faktisch nicht ganz der Wahrheit entspricht. Nach Jahren polytoxischer Selbstexperimente, war es wohl eher einer der kleinen, bunten Spaßmacher zu viel, den er sich eingeworfen hat ohne auf die lange Liste der Inhaltsstoffe zu achten. Die eine, aus höllisch miesen Zutaten zusammengepanschte Superpille, auf die er besser verzichtet hätte und von der er seitdem nicht mehr so ganz herunter kommt.

Verborgen hinter Jos supercooler Fassade, hat sich das fiese, kleine Ding zu einer, in Ungewissheit getarnten, dunklen Instanz entwickelt, die ihn mittels Angst in Schach hält, Angst vor den Nachwirkungen, die in Gestalt von abgründigen Horrortrips jederzeit aus dem Hinterhalt über ihn hereinbrechen könnten. Der Preis, den der goldene Reiter für seinen extraordinären Höhenflug zahlt, ist astronomisch hoch, denn ein ausgesprochen einfallsreiches Monster befehligt die molekularen Altlasten seiner beschwingten Drogenkarriere. In unregelmäßigen Abständen ergeben sich im Mikrokosmos seiner Blutbahnen neue chemische Verbindungen, die ihn in Form von extremen Flashbacks heimsuchen. Wohin die nächste Reise gehen wird, ist und bleibt schlichtweg unkalkulierbar.

„Ich bereue nichts!“, ist einer der markigen Sprüche, die Jo im Brustton der Überzeugung allzu gerne von sich gibt. Aber auch wenn seine Zuhörer stets verständnisvoll nicken, Texte wie „Jau, is' ja logo, Jo!“ absondern und ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, Jo weiß es besser. Insgeheim wünscht er sich, er hätte ein paar der günstigen Gelegenheiten ausgelassen, auch wenn sie sich ihm, in allen Regenbogenfarben verführerisch schillernd, an den Hals warfen oder for free am Wegesrand lockten, betörend wie die Sirenen, die Odysseus einst in Versuchung führten.

Diese Art von Rückschau ist natürlich ein rein theoretisches Gedankenspiel, pure Illusion. Entweder waren diese Optionen viel zu geil oder er einfach nur zu schwach gewesen, eine klare Entscheidung zu treffen. Sobald es um Drogen oder schnellen Sex ging, verwandelte er sich in einen Eiermann, der niemals deutlich „nein“ sagen konnte. Allerhöchstens zu einem vagen „Vielleicht heute besser mal nicht“ fühlte er sich in seinen hellen Momenten imstande und das bedeutete soviel wie „Her damit! Ist immer noch besser als nichts“.

Gepaart mit seinem fatalen Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was ihm gut tut und was nicht, waren die Weichen gestellt für einen rasanten Todestrip. Unter diesem morbiden Blickwinkel betrachtet, hat er noch mal eine Riesenportion Glück gehabt, Glück im Unglück. Wenn es so etwas wie Schutzengel tatsächlich geben sollte, hat Jo den, der so mutig war, sich für ihn zuständig zu erklären, mit Sicherheit an die Grenze eines amtlichen Burnouts gebracht.

Gut, dass er an frische Batterien gedacht hat. Der Lichtkegel der Taschenlampe ist so, wie er sein soll, strahlend weiß und knallhell. Groß und rund wie ein auf die Erde gestürzter Vollmond hüpft er von Baum zu Busch, erfasst die zahlreichen Unebenheiten auf dem schmalen Weg, bevor Jo darüber stolpert.

Am Rand der Lichtung steht eine wunderschöne, große Eiche. Jo erreicht sie als erster. Er hat nicht umsonst Vollgas gegeben auf dem finalen Abschnitt des Trampelpfades, einem smaragdgrünen Tunnel, der sich durch das dichte, mannshohe Unterholz schlängelte. Eins der ungeschrieben Gesetze jeder direkten Aktion lautet, sich zunächst einen strategisch vorteilhaften und optimal platzierten Ankerpunkt zu sichern. Diesbezüglich ist sich jeder der Nächste. Schließlich wird er in den nächsten Wochen oder vielleicht sogar Monaten hier zu Hause sein.

Eine überaus glückliche Wahl, locker fünfhundert Jahre alt und einen beeindruckenden Stammumfang von mindestens acht Metern. Die Eiche gipfelt in ungefähr dreißig Metern Höhe in einer ausladenden Krone und eignet sich perfekt für ein geräumiges Baumhaus.

Jo schüttelt seinen riesigen, schweren Rucksack ab und lässt ihn, untermalt von einem Stoßseufzer der Erleichterung, auf das weit verzweigte Wurzelgeflecht des Baumes plumpsen. Damit gilt das mit Sicherheit schönste Exemplar des Waldes als reserviert. Ein Vorgang, der dem selben simplen Prinzip folgt wie das symbolische Handtuch, das Touristen in aller Herrgottsfrühe, sorgsam und akkurat rechteckig auf der begehrtesten Liege ausgerichtet, am Swimmingpool des Hotels platzieren.

 

Jo ist sich selbstredend vollkommen im Klaren darüber, dass so ein Verhalten alberner Spießerkram ist, aber man muss nun einmal Prioritäten setzen. Wenn es hart auf hart kommt, will er seine Freiheit und körperliche Unversehrtheit ja nicht für irgendeinen halbwüchsigen Mickerling von Sprössling auf's Spiel setzen. Außerdem weiß Jo aus Erfahrung, das die Szenefrauen auf dicke Dinger stehen. Da hat man als ungebundener, halbwegs attraktiver Typ gute Chancen auf einen Überraschungsbesuch. Die Art von Besuch, die bis zum Frühstück bleibt.

Emsig wie ein Bienenschwarm im Frühling schwärmt die kunterbunte Meute aus. Bäume werden wie Trophäen in Beschlag genommen, miteinander verglichen und zur Probe erklommen. Aufgeregtes Schwatzen, Hämmern und Sägen erfüllt die Luft, wobei Hermann, das etwas in die Jahre gekommene, aber total angesagte Leitbild aller aktiven Baumbesetzer mit Argusaugen darauf achtet, dass kein Mitglied seiner temporären Anhängerschaft auch nur mit dem Gedanken spielt, einen Nagel in einen Baum zu schlagen.

Was direkte Aktionen im Bereich Naturschutz angeht, ist Jo ein Profi und hat die ungeschriebenen Gesetze längst verinnerlicht. Keine Nägel in lebendiges Holz! Niemals und unter keinen Umständen! Das gilt als ernst zu nehmendes Tabu und wird bei Nichtbeachtung auch dementsprechend streng geahndet. Da braucht niemand im Nachhinein den Versuch zu wagen, irgendwelche statischen oder sonstige baulichen Argumente vorzubringen. Misshandlungen von Bäumen entsprechen dem Sakrileg religiöser Gemeinschaften und werden zwar nicht mit öffentlicher Steinigung, aber mit sofortigem Ausschluss aus der Zelle und lebenslanger Ächtung bestraft. Das heißt im Klartext, dass sich der Verurteilte bundesweit bei keiner Aktion mehr blicken lassen kann und in seiner Wahlfamilie, einer kleinen, aber feinen Szene von militanten Naturschützern, zur Persona non grata erklärt wird.

Jo weiß aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass sich auch kollektiver Rufmord ganz schnell zu einer Art Todesstrafe ausweiten kann. Als er auf dem ultimativen Gipfel seines multidrogiden Marathonrauschs, sprich ganz unten angekommen und phasenweise nicht mehr Herr seiner Sinne war, hat er sich den einen oder anderen verwerflichen Patzer geleistet. Ein falsches Wort zur falschen Zeit oder eine falsche Hand am falschen Arsch, waren in diesem überemanzipierten Kollektiv schon Grund genug für einen temporären Ausschluss. Aber ein irrlichternder Junkie, der neben seinen provokanten Sprüchen und chaotischen Frauengeschichten auch noch seine Gesinnungsgenossen abzockte, überschritt eindeutig die Toleranzgrenze der sonst so verständnisvollen Gemeinschaft.

Nachdem man ihn zum dritten Mal auf frischer Tat ertappt hatte, wurde ein Plenum einberufen, das ihn einstimmig als untragbaren Egomanen aburteilte. Daraufhin hat ihn die gesamte linke Szene geschnitten, niemand hat auch nur ein Sterbenswörtchen mehr mit ihm gewechselt. Selbst beim Erschnorren eines einigermaßen menschenwürdigen Existenzminimums, wie ein Mittagessen oder ein bisschen Kleingeld, behandelten sie ihn, als ob er aus Luft wäre, ein namenloser Geist. Der Begriff Solidarität war plötzlich zum Fremdwort geworden, von Mitgefühl ganz zu schweigen. Selbst im tiefsten Winter, wo man normalerweise keinen räudigen Hund mehr vor die Tür, hinaus in die eisige Kälte schickte, bot ihm niemand mehr einen Platz zum Pennen an. Selbst die sonst so einladend geöffneten Liebespforten der liebesbedürftigsten, einsamsten Szenebräute, auf die er früher in Notzeiten zuverlässig zurückgreifen konnte, waren plötzlich hermetisch verschlossen. Jo gegenüber verhielten sie sich abweisender als jede eiserne Jungfrau mit Keuschheitsgürtel.

Nachdem auch dieser Zug abgefahren war, realisierte er, dass er voll im Arsch war. Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er, was wirklicher Hunger war, Hunger nach jedweder Nahrung, nicht nur der Essbaren. Als am quälendsten empfand er das Fehlen von Nähe, dabei vermisste er nicht so sehr die flüchtige Körperlichkeit gelegentlicher erotischer Abenteuer, sondern vor allem die alltäglichen Begegnungen mit Gleichgesinnten, die herzerwärmende Atmosphäre einer Gemeinschaft vertrauter Menschen. Freundschaften waren bisher nicht sein Ding gewesen, denn zum Aufbau solcher Beziehungen gehört das Prinzip des Gebens und Nehmen und eine gewisse Ausgeglichenheit zwischen beiden. Sie setzten das Wahren einer Balance voraus, die auf einen mit allen Wassern gewaschenen User wie Jo eher befremdlich wirkte.

Erst jetzt, wo er einsam auf weiter Flur stand, wurde ihm klar, dass ein Freund jemand ist, in den man investiert, ohne nach dem Datum der Rückzahlung zu fragen. Dass Freundschaft ein besonderes Geschenk ist und tief empfundene Verbundenheit mit einem Menschen ausdrückt, der immer einen Platz im eigenen Herzen haben wird.

All diese tiefsinnigen Gedanken gingen Jo damals in seiner misslichen Lage durch den Kopf. Schon die bloße Vorstellung einer motivierenden Umarmung unter Kollegen, die, wenn auch mehr als unwahrscheinliche Möglichkeit, dass aus heiterem Himmel ein sogenannter bester Freund an seiner Seite auftauchte, erschien ihm tröstlich.

Allerdings begriff er in dieser Situation auch, warum er niemals einen solchen gehabt hatte. Er war ausschließlich mit sich selbst und seiner maßlosen Gier beschäftigt gewesen. Neben diesem unheiligen, nimmersatten Paar blieb kein Platz für ein, wie auch immer geartetes Interesse an seinen Mitmenschen und ihren Bedürfnissen. Die Rolle der Anderen war stets nur die von Erfüllungsgehilfen bei seiner Suche nach brandneuen Kicks gewesen: Höher, schneller, weiter oder besser gesagt, härter, lauter, breiter.

Die Eiseskälte seiner Einsamkeit war allgegenwärtig, sowohl innerlich, als auch äußerlich prägte sie den tristen Ablauf seiner Tage. Sie war die Hölle auf Erden, zum Sterben schrecklich. Das Ausmaß seiner Isolation empfand er als so umfassend und erschütternd, dass er sie nicht mehr ironisch überspielen konnte. Sie ließ sich weder elegant weg kiffen, noch auf irgend eine andere idiotische Art und Weise leugnen.

An diesem absoluten Tiefpunkt seines Daseins erkannte er, dass alles miteinander verbunden ist. Angekommen im weinenden Auge seines Schmerzzentrums, blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich die Tatsache zu akzeptieren, dass das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ein wesentlicher Aspekt der Existenz ist, eine ungeschriebene, aber zwingende Gesetzmäßigkeit des Lebens. Im gleißenden Licht dieser Erkenntnis verbrannte sein Hochmut zu Asche, sie zwang sein eitles Gemüt im Nu und radikal in die Knie. Endlich vollkommen ernüchtert, fand er sich auf allen Vieren wieder, um Gnade winselnd wie ein verletztes Tier und glaubte, dass er sich von dieser leidvollen Erfahrung nie wieder erholen würde.

Doch er hatte sich getäuscht, das Leben ging weiter. Im Nachhinein blieb ihm diese Zeit unverhohlener Einsamkeit als das wesentlichste Lehrjahr seines bisher so gänzlich verpfuschten Daseins in Erinnerung. Ganz auf sich selbst gestellt, musste er sich eine schmerzliche Ewigkeit lang mühselig durchschlagen, bis er schließlich auf einer zweiten, extra seinetwegen einberufenen Vollversammlung Abbitte leisten durfte.