»Sollte nicht heute die ›Normandie‹ einlaufen?« fragte der seekundige Vater.
»Ja, Papa,« erwiderte Hans.
»Gib mir mein Perspektiv; ich glaube, dass sie’s ist – da unten!«
Der Vater zog das Messingrohr aus, schraubte das Glas für sein Auge zurecht, suchte den Punkt und rief nach kurzem Hinsehen freudestrahlend: »Sie ist’s, sie ist’s! Ich erkenne die beiden Schornsteine ganz deutlich. Wollen Sie nicht auch durchsehen, Frau Rosémilly?«
Die junge Frau nahm das Glas, welches sie auf den Atlantischen Ozean im Allgemeinen richtete und mit dessen Hilfe sie durchaus nur eine blaue Fläche sah, blau und immer blau und ringsherum einen vielfarbigen Kreis, wie ein runder Regenbogen und außerdem noch eine Art von Eklipsen, wunderliches Zeug, das ihr Schwindel verursachte.
»Ich habe leider mit Fernrohren nie viel anzufangen gewusst,« fagte sie, das Instrument zurückgebend. »Mein Mann, der stundenlang am Fenster stehen konnte und die vorüberfahrenden Schiffe beobachten, ist oft genug böse darüber geworden.«
»Das muss an einem Fehler Ihrer Augen liegen,« bemerkte Herr Roland ärgerlich, »denn mein Glas ist ganz ausgezeichnet.«
»Willst du es haben?« setzte er, zu seiner Frau gewendet, hinzu.
»Nein, danke, ich weiß im Voraus, dass ich nichts sehe.«
Wenn sie auch auf diesen Genuss verzichten musste, so schien doch Frau Roland sich mehr als irgendjemand von der kleinen Gesellschaft der schönen Fahrt und des herrlichen abends zu erfreuen. Sie war eine Frau von achtundvierzig Jahren, machte aber einen weit jüngeren Eindruck. Ihre kastanienbraunen Haare fingen erst seit kurzem an, sich mit ein wenig Grau zu vermischen, ihr Ausdruck war ruhig und verständig, dabei wohlwollend und zufrieden, dass es eine Freude war, sie anzusehen. Ihr Sohn Peter versicherte, dass sie den Wert des Geldes sehr genau kenne, was sie aber keineswegs verhinderte, auch den Reiz des Träumens und beschaulichen Sinnens zu würdigen; sie las gern, sowohl Romane als Gedichte, wobei sie freilich weniger den Kunstwert ihrer Lektüre schätzte, als die melancholisch-träumerische, weiche Stimmung, in welche dieselbe sie versetzte. Ein Vers, er konnte noch so unbedeutend und mangelhaft sein, ließ, wie sie zu sagen pflegte, alle Saiten ihres Herzens erklingen und erfüllte sie mit geheimnisvollem Sehnen, das fast so beseligend war, wie erfülltes Glück, und sie freute sich dieser Seelenregungen, die ihr im Übrigen wie ein kaufmännisches Buch gehaltenes Innenleben einigermaßen bewegten. Seit ihrer Niederlassung in Havre fing sie an ziemlich rundlich zu werden, sodass die bis dahin äußerst schlanke Taille etwas gefährdet war.
Der heutige Ausflug zur See hatte sie ganz glücklich gemacht. Ohne eigentlich roh und boshaft zu sein, schnauzte ihr Mann sie beharrlich an, wie es die Tyrannen des Ladenstübchens ohne besondern Anlass, ohne Zorn oder Hass zu tun pflegen, weil Kommandieren ihnen das Fluchen ersetzt. Vor jedem Fremden nahm er sich zusammen, in seiner Familie aber ließ er sich gehen und suchte Furcht und Schrecken um sich zu verbreiten, obwohl er eigentlich vor Gott und der Welt Angst hatte.
Um unnützen Lärm, Szenen und unerquickliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, gab seine Frau unweigerlich nach und machte für sich nicht den geringsten Anspruch oder Wunsch geltend, und so kam es, dass sie auch seit langer Zeit nicht mehr gewagt hatte, Roland um eine Spazierfahrt auf der »Perle« zu bitten. Umso mehr hatte sie die Gelegenheit zu einer solchen mit Freuden begrüßt und sie genoss das seltene Vergnügen in hohem Maße, indem sie sich ganz und gar dem wonnigen Gefühl des sanften Dahingleitens auf der spiegelglatten Fläche überließ. Sie dachte nicht, sie schwelgte weder in Erinnerungen noch Hoffnungen, ihr Geist war wie ihr Körper eingewiegt und eingelullt von der weichen, schmeichelnden Bewegung der Wellen.
Als der Vater den Kommandoruf: »Vorwärts, an eure Plätze, die Ruder bereit!« ertönen ließ, sah sie lächelnd, wie ihre Söhne, ihre zwei großen, kräftigen Jungen, die Röcke abwarfen und die Hemdärmel aufstülpten.
Peter, der den Damen zunächst saß, nahm das Ruder auf der Steuerbordseite, Hans das Backbord, und beide warteten dann auf das väterliche »Los«, denn dass alle Manöver regelrecht ausgeführt wurden und die ganze Geschichte korrekt seemännisch vor sich ging, war natürlich die Hauptsache.
Zu gleicher Zeit, mit einem Schlage, sanken die Ruder ins Wasser, weit zurückgebeugt holten die jungen Männer kraftvoll aus, und nun begann ein eifriger Wettstreit zwischen ihnen. Hinaus hatten sie sich des Segels bedient, aber jetzt rührte sich kein Lüftchen, und bei der Aussicht, ihre Kräfte miteinander zu messen, waren plötzlich männliche Eitelkeit und Ehrgeiz im Herzen der jungen Leute erwacht.
Wenn sie mit dem Vater allein zum Fischen hinausfuhren, ruderten sie, ohne dass gesteuert wurde, denn Roland machte indessen die Angeln zurecht und überwachte die Fahrt, deren Richtung und Tempo er zuweilen mit einem Worte oder einer Handbewegung angab. »Hans, nachlassen!« »Peter, anziehen!« oder auch: »Macht voran, alle beide, ein bisschen Armschmalz!« genügte; der, welcher ins Träumen geraten war, zog dann mehr aus, der übergroße Eifer wurde gehemmt und das Boot hatte wieder die gehörige Richtung.
Heute wollten beide ihre Muskelkraft zur Geltung bringen. Peters Arm war behaart, etwas mager, aber nervig; Hans dagegen hatte einen runden, weißen, rötlich schimmernden Arm, die Muskeln traten unter der Haut deutlich hervor.
Anfangs war Peter im Vorteil. Die Zähne aufeinander gepresst, die Stirn in Falten gezogen, die Beine lang ausgestreckt, die Hände um das Ruder gekämpft, das sich bei jedem Schlag in seiner ganzen Länge bog, brachte er die ›Perle‹ auf die Seite des Ufers. Vater Roland, der sich in den Bug gesetzt hatte, um den Platz hinten den Damen zu überlassen, kam ganz außer Atem vor lauter: »Nummer eins, sachte – Nummer Zwei, drauf!« rufen, was nur zur Folge hatte, dass Nummer eins seine wahnsinnigen Anstrengungen verdoppelte, während Nummer Zwei nicht im stande war, mit diesem tollen Ruderer Schritt zu halten.
Endlich befahl der Schiffsherr: »Stop!« Die beiden Ruder hoben sich aus dem Wasser und Hans tat auf Geheiß des Vaters ein paar Ruderschläge allein, um das Boot wieder in die gehörige Richtung zu bringen. Von jetzt an war er im Vorteil: er ward lebhafter und beteiligte sich wärmer, während Peter, von seinem krampfhaften Arbeiten außer Atem, an Kraft verloren hatte.
Viermal musste der Vater noch sein »Stop« wiederholen, um seinem Ältesten eine Ruhepause zum Aufatmen zu verschaffen und das Boot richtigzustellen. Beschämt und ingrimmig stotterte der Doktor mit leichenblassem Gesicht und schweißtriefender Stirn: »Ich weiß nicht, was mir ist: ich muss einen Herzkrampf haben. Ich bin anfangs zu hastig gewesen und das hat mich erschöpft.«
»Soll ich nicht die Doppelruder nehmen und allein rudern?« fragte Hans.
»Nein, danke, es wird schon vorübergehen.«
Etwas ärgerlich bemerkte die Mutter: »Ein rechter Unsinn, sich in solch einen Zustand zu bringen: du bist doch kein Kind.«
Er zuckte die Achseln und fuhr fort in seiner Arbeit.
Frau Rosémilly schien von alledem nichts zu sehen, nichts zu hören und nichts zu begreifen. Ihr zierliches Köpfchen machte die Bewegung des Schiffes mit und fuhr rasch und anmutig bei jedem Ruderschlage ein wenig zurück, dass die zarten blonden Stirnhärchen lustig aufflogen.
Plötzlich rief Herr Roland: »Seht, seht, der ›Prinz Albert‹ holt uns ein!« Aller Augen wandten sich nach der Seite, wo der Southamptoner Dampfer, lang, nieder, beide Schornsteine zurückgelegt, mit den runden, gelben Lukenklappen, unter vollem Dampf daherrauschte, das Deck von Passagieren und geöffneten Sonnenschirmen wimmelnd. Flink und geräuschvoll peitschten die Räder das Wasser, das hoch aufschäumend zurückfiel. Das Boot sah aus, als ob es nicht rasch genug sein Ziel erreichen könne, dem es wie ein feuriger Renner zueilte, mit dem Vorderteile das Wasser kerzengerade durchschneidend, dass zwei dünne, durchsichtige Schaumlinien an seinem Rumpf entlang glitten.
Als der Dampfer in unmittelbare Nähe der »Perle« kam, zog Herr Roland seinen Hut, schwenkte ihn grüßend, die Damen wehten mit ihren Taschentüchern und ein halbes Dutzend Sonnenschirme erwiderten diese Höflichkeit vom Deck des Postdampfers aus, der sich rasch entfernte und nur ein leichtes Wellengekräusel auf der glatten, leuchtenden Fläche zurückließ.
Von allen Seiten sah man nun Fahrzeuge mit oder ohne die kleine Rauchmütze dem weißen Hafendamm zueilen, der sie wie ein gieriger Riese zu verschlingen schien. Fischerbarken und große Segelschiffe mit leichten Masten, zum Teil von nicht wahrnehmbaren Bugsierschiffen gezogen, glitten am hellen Horizont hin und näherten sich langsam oder schnell dem gefräßigen Riesen, der von Zeit zu Zeit, wie übersättigt, eine ganze Flotte von Postschiffen, Zweimastern, Briggs, Goeletten, Dreimastern mit ihrem vielspitzigen Takelwerk in die offene See hinausschleuderte. Eilig entflohen die Dampfer nach rechts und links auf der weiten Fläche des Ozeans, wahrend die Segelschiffe, sobald die kleinen Schlepper, die sie in Bewegung gesetzt, sie im Stich ließen, unbeweglich da lagen und sich nun vom Topmast bis zur Bramstenge mit weißen oder braunen Segeln bekleideten, die im Licht der untergehenden Sonne blutigrot leuchteten.
Mit halbgeschlossenen Augenlidern sagte Frau Roland leise: »Gott, wie schön ist dieses Meer!« worauf Frau Rosémilly, mit einem Seufzer, der zwar sehr lang war, aber den Hörer nicht besonders traurig stimmte, die Bemerkung machte: »Ja gewiss, und doch kann es uns so viel Herzeleid antun.«
»Da ist sie ja, die ›Normandie‹, dort am Hafeneingang. Ein stolzes Schiff, nicht?« rief Vater Roland, und fing dann an, seinen Fahrgästen die einzelnen Punkte der Küste da unten, jenseits der Seinemündung – »die Mündung ist zwanzig Kilometer breit,« sagte er – zu bezeichnen und zu erklären. Er zeigte ihnen Villerville, Trouville, Houlgate, Luc, Arromanches, die Mündung des Flüsschens von Caëns, und machte sie auf die Calvadosfelsen aufmerksam, welche die Schifffahrt bis Cherbourg gefährden.
Hierauf erörterte er die Sandbänke in der Seine, welche sich von einer Flutzeit zur anderen völlig umgestalten und selbst den Schiffersleuten von Quilleboeuf zu schaffen machen, sobald sie auch nur einen einzigen Tag den Kanal nicht befahren. Darauf folgte eine kleine Abhandlung über die Normandie im Allgemeinen: er hob hervor, dass Havre genau die Grenze bilde zwischen der unteren Normandie, deren flache Ufer als fettes Weideland, Ackerfeld und Wiese bis ans Meer auslaufen, während der nördliche Teil der Provinz, die obere Normandie, im Gegenteil in senkrechten Felsen, als schroffes, stolzes, wild zerklüftetes Gestade gegen die See abfalle – eine gewaltige Mauer, in deren Ritzen sich überall ein Dorf oder ein Seehafen berge und einniste, so: Etretat, Fécamp, Saint-Valery, Le Tréport, Dieppe etc.
Eingelullt von der weichen, wohligen Bewegung des Bootes, innerlich bewegt vom Anblick des unendlichen Meeres mit dem bunten Allerlei von Fahrzeugen, die dahinschossen, wie das Tier in seine Höhle, hörten die beiden Frauen nicht auf seine Erklärungen und Abhandlungen; in Schweigen versunken vor dem herrlichen, farbenschimmernden Schauspiel des Sonnenunterganges, in der Unendlichkeit von Wasser und Luft, vom Gefühl menschlicher Kleinheit ergriffen, sprach keine ein Wort, was aber den würdigen Seemann nicht abhielt, unaufhörlich weiterzuschwatzen. Er gehörte zu den Leuten, die nichts aus ihrem Fahrwasser bringt, und hatte keine Ahnung von jener den Frauen eignen nervösen Stimmung, in der man, ohne sich Rechenschaft über das Warum zu geben, jedes unnütze Gerede als verletzend und roh empfindet.
Peter und Hans hatten ihr Gleichgewicht wieder gefunden und ruderten gemächlich mit leisen, langen Zügen, und winzig klein neben den hohen, mächtigen Schiffen, lief die »Perle« in den Hafen ein. Sobald sie am Quai anfuhr, war Papagris, ihr alter Hüter, der sie erwartet hatte, den Damen beim Aussteigen behilflich, und man ging der Stadt zu. Eine zahlreiche, vergnügliche Menschenmenge, wie sie allabendlich zur Flutzeit sich am Damme zusammenfindet und drängt, war ebenfalls im Heimweg begriffen.
Frau Roland und die junge Witwe gingen voraus, die drei Herren folgten. In der Rue de Paris blieben die Damen manchmal vor einem Juwelierladen oder dem Schaufenster eines Putzgeschäftes stehen, tauschten ihre Ansichten über einen Hut oder ein Armband aus und setzten dann ihren Weg fort.
Auf dem Börsenplatze hielt Roland inne, um sich, wie er das täglich zu tun pflegte, das Vassin du Commerce zu betrachten, in welchem, Rumpf an Rumpf gedrängt, in vier bis fünf Reihen die Schiffe nebeneinander liegen.
Längs des mehrere Kilometer langen Quais erhebt sich Mast an Mast, Rahe an Rahe, als ob hier, mitten im Herzen der Stadt, ein lebloser, toter Wald gen Himmel starrte, und über diesen laub- und astlosen Bäumen kreist die Seemöwe und lauert auf jedes Stück Küchenabfall, das ins Wasser geworfen wird, um blitzschnell, wie ein herabgeschleuderter Stein, darauf niederzustoßen, und ein Schiffsjunge, der am äußersten Ende einer Oberbramstenge einen Block festbindet, sieht wahrhaftig aus, als wollte er Vogelnester ausnehmen.
»Wollen Sie nicht mit uns nach Hause kommen und mit unsrem einfachen Mahl vorlieb nehmen – es wäre doch hübsch, wenn wir den Tag gemeinsam beschließen könnten?« fragte Frau Roland ihre junge Freundin.
»Von Herzen gern – ich nehme Ihre Einladung ohne weiters an. Es wäre gar so traurig, jetzt in meine leeren vier Wände zurückzukehren.«
Peter, welcher Frage und Antwort mit angehört hatte und der etwas gereizt war über die Gleichgültigkeit, mit welcher die hübsche Frau ihn behandelte, sagte halblaut vor sich hin: »Aha, die Witwe nistet sich gehörig ein.«
Er hatte seit einigen Tagen angefangen, nicht anders von ihr zu sprechen, als von »der Witwe«, und wenn dies Wort auch an und für sich keine schlimme Bedeutung hatte, so brachte es doch Hans immer in Harnisch, weil er den Ton, in dem es gesprochen wurde, boshaft und verletzend fand.
Ohne ein Wort zu wechseln, waren die drei Herren an der häuslichen Schwelle in der Rue Belle-Normande angelangt; das Haus war schmal und enthielt ein Erdgeschoss und zwei kleine Stockwerke. Das Dienstmädchen, eine neunzehnjährige ländliche Dienerin für geringen Lohn mit entsprechenden Leistungen, öffnete die Tür, machte sie wieder zu, stieg hinter ihrer Herrschaft in den eine Treppe hoch gelegenen Salon hinauf und meldete erst dort, indem sie von ihrem Talente, verblüfft und dumm dreinzuschauen, den ausgiebigsten Gebrauch machte: »Es ist ein Herr schon dreimal dagewesen.«
Der Hausherr, welcher überhaupt nur brüllend und fluchend mit ihr verkehrte, donnerte: »Wer ist dagewesen, in Kuckucks Namen?«
Die stimmlichen Kraftanstrengungen ihres Dienstherrn verfehlten stets jegliche Wirkung auf Josephinens Gemüt, und sie erwiderte mit Ruhe: »Ein Herr vom Herrn Notar!«
»Von was für einem Notar?«
»Vom Herrn Notar Canu.«
»Und was hat dieser Herr gesagt?«
»Dass der Herr Canu heute Abend selbst kommen werde, hat er gesagt.«
Herr Lecanu war der Notar und auch einigermaßen der Freund Herrn Rolands, dessen Geschäfte er besorgte. Dass er seinen Besuch für heute Abend noch in Aussicht gestellt hatte, deutete unbedingt darauf hin, dass es sich um eine dringende Angelegenheit von nicht geringer Wichtigkeit handelte, und die vier Glieder der Familie Roland blickten einander mit jenem Unbehagen an, das den bescheidenen Rentier gewöhnlich ergreift, sobald es sich um die Einmischung eines Notars handelt, dessen Titel ihm Verträge, Erbschaften, Prozesse und derlei mehr oder weniger wünschenswerte Dinge vor die Seele ruft. Nach einigem Nachsinnen bemerkte das Famlienhaupt: »Was kann denn das zu bedeuten haben?«
»Eine Erbschaft, verlassen Sie sich darauf,« lachte Frau Rosémilly. »Ich bringe Glück!«
Da durchaus keine folgenreichen Todesfälle in der Familie zu hoffen waren, fand der Gedanke wenig Anklang, doch machte sich Frau Roland, die ein vorzügliches Gedächtnis für noch so weitverzweigte Verwandtschaft besaß, sofort daran, im Kopfe alle Linien ihrer und ihres Mannes Familie bis ins zehnte und zwölfte Glied durchzugehen.
»Sag doch, Vater« (sie nannte ihren Mann zu Hause immer »Vater«, vor Fremden meist Herr Roland), »sag doch, wen hat Joseph Lebru in zweiter Ehe geheiratet?«
»Eine kleine Duménil, die Tochter eines Papierfabrikanten.«
»Sind Kinder aus dieser Ehe da?«
»Das will ich meinen, wenigstens vier oder fünf.«
»Nein; dann ist von der Seite nichts zu erwarten,« bemerkte sie, und nun fuhr sie fort, den Stammbaum der Rolande nachzuforschen, was sie so ausschließlich in Anspruch nahm, dass sie nicht einmal daran dachte, ihren Hut abzulegen. Dabei ward sie immer eifriger und erwärmte sich mehr und mehr bei dem Gedanken, wie erfreulich es wäre, wenn ihnen ein bisschen Wohlstand so schlechtweg aus den Wolken fallen wollte, sodass Peter, der ihren Hang zum Träumen kannte und der die schmerzliche Enttäuschung voraussah, die notwendig eintreten musste, wenn diese hochgespannten Erwartungen sich nicht verwirklichten, die Nachricht des Notars sich vielleicht als eine unerfreuliche herausstellte, es für passend hielt, einen Dämpfer aufzusetzen.
»Steigere dich nur nicht in solche Ideen hinein, Mama, die Zeiten der Onkel aus Amerika sind vorüber. Mir ist viel wahrscheinlicher, dass es sich um eine Heirat für Hans handeln wird.«
Alle waren überrascht von diesem Gedanken, der viel Einleuchtendes hatte; Hans fühlte sich peinlich berührt, dass sein Bruder denselben in Frau Rosémillys Gegenwart hatte verlauten lassen.
»Weshalb soll sich denn ein solcher Plan gerade auf mich beziehen? Die Vermutung ist zum mindesten höchst anfechtbar. Du bist der Ältere, also versteht sich’s von selbst, dass man zuerst an dich denken wird. Üeberdies heirate ich nicht.«
»Du bist also verliebt?« fragte Peter mit spöttischem Lachen.
»Muss man notwendigerweise verliebt sein, wenn man sagt, dass man noch keine Lust zum Heiraten hat?« gab der Bruder verstimmt zurück.
»Ach! Nun lass ich mir’s gefallen. Du hattest vorhin das ›noch‹ ausgelassen – das ›noch‹ macht alles gut, du wartest also vorderhand.«
»Nimm’s, wie du willst.«
Das Familienhaupt, welches bis jetzt schweigend zugehört hatte, war mit einmal auf eine höchst wahrscheinliche Lösung des Rätsels gestoßen.
»Du lieber Himmel, sind wir dumm, uns so die Köpfe zu zerbrechen,« rief er. »Der Notar weiß ja doch, dass Peter und Hans geeignete Wohnungen suchen, um ihre Praxis als Rechtsanwalt und Arzt zu beginnen – jedenfalls hat er für den einen oder den anderen etwas Zweckentsprechendes gefunden.«
Das lag so nahe und hatte so viel für sich, dass alle sofort die Annahme festhielten.
»Es ist angerichtet,« meldete Josephine, und man kam erst jetzt dazu, sich in die verschiedenen Schlafzimmer zurückzuziehen und sich ein wenig zurechtzumachen.
Zehn Minuten später saß man in dem kleinen Speisezimmer im Erdgeschoss. Anfangs schwiegen alle, nach kurzer Zeit aber fing Herr Roland an seine eigne, mit so viel Beifall aufgenommene Mutmaßung wieder in Zweifel zu ziehen.
»Schließlich, weshalb hat er nicht geschrieben?« bemerkte er. »Weshalb hat er dreimal seinen Gehilfen geschickt? Weshalb kommt er denn jetzt noch selbst?«
Peter konnte daran nichts Auffallendes finden.
»Höchst wahrscheinlich muss er sofort Antwort haben, vielleicht handelt es sich auch um einige Bedingungen, die vertraulicher Art sind, und die Herr Lecanu nicht gern schriftlich erörtern wollte!«
Die ganze Familie war nicht im stande, sich von diesem Ideenkreis loszureißen, und zugleich empfanden alle die Gegenwart einer Fremden bei einer derartigen Unterredung störend und bereuten, Frau Rosémilly zum Bleiben aufgefordert zu haben.
Kaum hatte man sich wieder in den Salon hinaufbegeben, als der Notar gemeldet wurde. Herr Roland eilte ihm entgegen: »Willkommen, verehrter Freund, willkommen!«
Frau Rosémilly erhob sich und versicherte, dass sie sich sehr ermüdet fühle und nach Hause gehen wolle. Die äußerst schwachen Versuche, sie an der Ausführung dieses Entschlusses zu hindern, wies sie bestimmt zurück und sie ging, ohne dass einer der drei Herren ihr seine Begleitung angeboten hätte, was sonst immer geschah.
Frau Roland war in liebenswürdigster Weise um den neuen Gast bemüht.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Herr Notar?«
»Nein, danke, ich komme eben von Tisch.«
»Aber vielleicht eine Tasse Tee?«
»Das will ich nicht verschwören, aber bitte erst etwas später: wir wollen zuerst unsre Geschäfte besprechen.«
Diesen Worten folgte ein so tiefes Schweigen, dass das Ticken der Wanduhr und das Geklapper, welches Josephine, die viel zu dumm war, um an den Türen zu horchen, in den unteren Regionen beim Geschirraufwaschen verursachte, mit unheimlicher Deutlichkeit vernehmbar waren.
Der Notar begann: »Haben Sie in Paris einen gewissen Herrn Marschall, Léon Marschall, gekannt?«
Aus einem Mund riefen Herr und Frau Roland: »Gewiss, gewiss!«
»Er war mit Ihnen befreundet?«
»Der beste Freund, den ich überhaupt besitze, Herr Notar,« versicherte Vater Roland; »nur ist er leider einer jener einseitigen, eigensinnigen Pariser, die nicht von ihren Boulevards wegzukriegen sind, weshalb wir ihn seit unserm Wegzug von der Hauptstadt nicht mehr gesehen haben. Mit der Korrespondenz war’s auch nicht weit her, wie das so zu gehen pflegt, wenn man sich nicht mehr sieht. …«
Mit ernster Stimme fuhr der Notar fort: »Herr Marschall ist nicht mehr!«
Mann und Frau zeigten gleichzeitig jenes wehmütige Erschrecken, das man mit mehr oder weniger Wärme und Wahrheit, immer aber unverzüglich an den Tag zu legen pflegt, wenn man eine solche Nachricht erhält.
»Ein Pariser Kollege,« fuhr Herr Lecanu fort, »hat mir soeben den wesentlichen Inhalt seines Testaments mitgeteilt, wonach er Ihren Sohn Hans, Herrn Hans Roland, zu seinem Haupterben gemacht hat.«
Das Erstaunen war so groß, dass keins der Anwesenden Worte fand.
Frau Roland, die zuerst ihre Erregung bemeistern konnte, stammelte: »Mein Gott, der arme Léon … unser armer Freund … mein Gott … mein Gott … tot!«
Tränen traten ihr in die Augen, jene lautlosen Tränen der Frauen, die klaren Schmerzenstropfen, die aus der Tiefe des Herzens quellen und von wahrem Leid zeugen. Ihr Gatte beschäftigte sich weniger mit der traurigen Seite dieses Verlustes, als mit den angenehmen Aussichten, die sich an denselben knüpften, doch empfand er eine gewisse Scheu, sofort nach den einzelnen Bestimmungen des Testaments oder nach der genauen Summe des Vermögens zu fragen, und um sich allmählich dem eigentlich interessanten Thema zu nähern, begann er: »Woran ist denn der arme Marschall gestorben?«
Leider konnte Herr Lecanu über diesen Punkt durchaus keine Auskunft geben.
»Ich weiß nur,« sagte er, »dass der Testator, der keine Leibeserben hinterlässt, sein ganzes Vermögen, das in dreiprozentigen Obligationen angelegt, einen jährlichen Zins von etwa zwanzigtausend Franken abwirft, Ihrem zweiten Sohn, den er von Kindesbeinen an gekannt und den er dieses Vermächtnisses würdig glaubt, bestimmt hat. Sollte Herr Hans sich weigern, die Erbschaft anzutreten, so würde das Vermögen den Waisen- und Findelhäusern zufallen.«
Länger konnte Herr Roland seine Herzensfreude nicht mehr verbergen.
»Sapperlot! Das war ein famoser Einfall von dem guten Mann! Ich meinerseits, wenn ich kinderlos wäre, würde den wackeren Freund sicherlich auch nicht vergessen haben.«
»Es hat mir wirklich Freude gemacht,« bemerkte der Notar lächelnd, »Ihnen persönlich Mitteilung von der Sache zu machen. Es gibt doch nichts Schönres, als der Überbringer einer frohen Botschaft zu sein.«
Dass diese frohe Botschaft, bei Licht betrachtet, die Nachricht vom Tode eines Freundes, Herrn Rolands nächstem Freund war, hatte der vortreffliche Mann dabei übersehen, wie auch Herr Roland selbst die kurz vorher so stark betonte Innigkeit dieser Beziehungen vergessen zu haben schien.
Die Mutter und die Söhne hielten dagegen eine ernste, traurige Stimmung fest. Frau Roland weinte fort und fort, trocknete sich die Augen und drückte ihr Tuch gegen die Lippen, wie um ein Schluchzen zu ersticken.
Der Doktor ging im Zimmer auf und ab und sagte halblaut: »Er war ein braver Mann, gut und liebevoll. Wie oft hat er uns nicht zu Tisch eingeladen, meinen Bruder und mich.«
Hans, der mit weitgeöffneten, leuchtenden Augen dasaß, strich seiner Gewohnheit nach mit einer Hand den großen blonden Vollbart, als wollte er ihn in die Länge ziehen und möglichst schmal zusammenpressen. Zweimal schon hatte er die Lippen bewegt, um etwas zu sagen, schien aber nur mit ziemlicher Schwierigkeit die gesuchten schicklichen Worte finden zu können, und brachte schließlich nichts als die Bemerkung zu stände: »Er hat mich sehr lieb gehabt. So oft ich ihn besuchte, hat er mich geküsst.«
Die Gedanken des Vaters bewegten sich in rascherem Tempo und galoppierten längst dieser Erbschaft entgegen, diesem Vermögen, das seinem Sohne schon gehörte, das nur hinter der Tür versteckt stand und jeden Augenblick auf sein Geheiß hereinströmen konnte.
»Es wird doch keine Schwierigkeiten geben?« fragte er plötzlich. »Keinen Prozess? Keine Testamentsanfechtung?«
Herr Lecanu erklärte, ohne irgend eine Besorgnis zu zeigen: »Dem Berichte meines Pariser Kollegen zufolge ist alles in schönster Ordnung. Herr Hans braucht die Erbschaft einfach anzutreten.«
»Vortrefflich, vortrefflich. … Das Vermögen ist sicher angelegt?«
»Ganz sicher.«
»Die nötigen Formalitäten sind alle erfüllt?«
»Gewiss, alle.«
Unwillkürlich, halb unbewusst überkam den alten Juwelier ein Gefühl der Scham, dass er diese Erkundigungen gar so hastig eingezogen, und er sagte entschuldigend: »Sie können sich jawohl denken, dass ich nach diesen Dingen nur frage, um meinem Sohn späterhin Unannehmlichkeiten zu ersparen, von denen er keine Ahnung hat. In solchen Fällen können Schulden da sein, allerhand verwickelte Geschichten, was weiß ich? Schließlich rennt man sich in lauter Schwierigkeiten hinein und bleibt drin hängen wie im Dorngestrüpp. Mich persönlich berührt die Sache ja wenig, aber ich denke natürlich an meinen Kleinen.«
Die ganze Familie nannte Hans »den Kleinen«, und die Tatsache, dass er seinem Bruder bedeutend über den Kopf gewachsen war, hatte dieser Gewohnheit nichts anhaben können.
Nun war es, als ob Frau Roland, die aus einem Traum zu erwachen schien, etwas ganz Fernliegendes, schon fast Vergessenes einfiele, wovon sie vor langer Zeit einmal gehört, ohne sich noch mit Sicherheit daran zu erinnern, und sie fragte stotternd: »Haben Sie nicht gesagt, dass unser armer Freund, Herr Marschall, meinem kleinen Hans sein Vermögen hinterlassen habe?«
»Allerdings, Frau Roland!«
»Das macht mir große Freude,« sagte sie einfach, »denn es beweist, dass er uns sehr lieb gehabt hat.«