Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Der Kut­scher in dich­tem Schafs­pelz rauch­te auf dem Bock sein Pfeif­chen, und die Rei­sen­den wa­ren be­schäf­tigt, ihre Vor­rä­te für den Rest des We­ges un­ter­zu­brin­gen.

Man war­te­te nur noch auf Fett-Kloss. End­lich er­schi­en sie.

Sie war et­was ängst­lich und ver­le­gen; schüch­tern nä­her­te sie sich ih­ren Rei­se­ge­fähr­ten, wel­che sich alle gleich­zei­tig um­wand­ten, als hät­ten sie sie nicht be­merkt. Der Graf nahm wür­de­voll den Arm sei­ner Gat­tin und führ­te sie hin­weg, wie um sie vor ei­ner un­rei­nen Berüh­rung zu be­wah­ren.

Über­rascht blieb Fett-Kloss ste­hen. Dann nä­her­te sie sich, all’ ih­ren Mut zu­sam­men­neh­mend, mit ei­nem lei­se ge­mur­mel­ten »Gu­ten Mor­gen, Ma­da­me!« der Frau des Fa­bri­kan­ten. Die an­de­re nick­te hoch­mü­tig ein we­nig mit dem Kop­fe und be­glei­te­te die­sen Gruss mit ei­nem Blick be­lei­dig­ter Tu­gend. Alle Welt schi­en be­schäf­tigt und hielt sich von ihr fern, als trü­ge sie in ih­ren Klei­dern einen An­ste­ckungs­stoff mit sich her­um. Dann stürz­te man sich auf den Wa­gen, wo sie al­lein als letz­te an­kam und still­schwei­gend ih­ren al­ten Platz wie­der ein­nahm.

Man schi­en sie nicht zu ken­nen; aber Frau Loi­seau, die sie mit Ent­rüs­tung von wei­tem be­trach­te­te, sag­te zu ih­rem Gat­ten: »Glück­li­cher­wei­se sit­ze ich nicht ne­ben ihr.«

Der große Kas­ten setz­te sich in Be­we­gung und die Rei­se be­gann aufs Neue.

An­fangs stock­te das Ge­spräch. Fett-Kloss wag­te nicht die Au­gen auf­zu­schla­gen. Sie fühl­te sich eben­so ent­rüs­tet über das Be­neh­men ih­rer Rei­se­ge­fähr­ten, wie er­nied­rigt durch den Ge­dan­ken sich hin­ge­ge­ben zu ha­ben, be­schmutzt zu sein durch die Küs­se die­ses Preus­sen, in des­sen Arme man sie ge­walt­sam ge­führt hat­te.

»Sie ken­nen, glau­be ich, Ma­da­me d’Étrel­les?« un­ter­brach die Grä­fin zu Frau Carré-La­ma­don ge­wen­det plötz­lich das all­ge­mei­ne Schwei­gen.

»Ja­wohl; es ist eine Freun­din von mir.«

»Welch’ aus­ge­zeich­ne­te Frau!«

»Be­zau­bernd. Wirk­lich eine sel­te­ne Er­schei­nung, sehr ge­bil­det üb­ri­gens und Künst­le­rin bis auf die Fin­ger­spit­zen. Sie singt bril­lant und zeich­net wun­der­hübsch.«

Der Fa­bri­kant plau­der­te mit dem Gra­fen und zwi­schen dem Klir­ren der Fens­ter­schei­ben hör­te man zu­wei­len die Wor­te: »Ku­pon – Wech­sel – auf Ziel – Prä­mie.«

Loi­seau, der das alte, im Lau­fe von fünf Jah­ren schwarz ge­wor­de­ne Kar­ten­spiel aus dem Ho­tel mit­ge­nom­men hat­te, be­gann mit sei­ner Frau eine Par­tie Be­sigue.

Die bei­den Schwes­tern be­te­ten wie­der ih­ren Ro­sen­kranz, mach­ten zu­sam­men das Kreuz­zei­chen, und plötz­lich be­gan­nen ihre Lip­pen sich ra­scher zu be­we­gen; sie be­eil­ten sich ihr Ge­bet zu be­en­den. Von Zeit zu Zeit küss­ten sie eine Me­dail­le, be­kreu­zig­ten sich aufs Neue, und be­gan­nen dann aber­mals ihr un­aus­ge­setz­tes schnel­les Ge­flüs­ter.

Cor­nu­det träum­te still vor sich hin.

Nach Ver­lauf von drei Stun­den räum­te Loi­seau die Kar­ten zu­sam­men. »Ich wer­de hung­rig«, sag­te er.

Sei­ne Frau hol­te ein zu­sam­men­ge­schnür­tes Packet her­vor, dem sie ein Stück Kalbs­bra­ten ent­nahm. Sie schnitt fei­ne Scheib­chen da­von her­un­ter und alle bei­de be­gan­nen zu es­sen.

»Ich däch­te, wir mach­ten es auch so,« sag­te die Grä­fin. Man stimm­te ihr bei, und sie pack­te die Le­bens­mit­tel für die bei­den an­de­ren Fa­mi­li­en aus. Es kam ei­nes je­ner lan­gen Ge­fäs­se zum Vor­schein, auf de­ren Por­zel­lan­de­ckel ein Hase ab­ge­bil­det ist zum Zei­chen, dass sich eine Ha­sen-Pas­te­te dar­un­ter be­fin­det, ein le­cke­res Ge­richt, wo wei­ße Fett­strei­fen die brau­nen, mit fein­ge­hack­tem an­de­ren Fleisch ver­misch­ten Stücke des Wild­prets durch­zie­hen. Dann kam noch ein hüb­sches Stück Schwei­zer­kä­se, in ein Jour­nal ein­ge­wi­ckelt, von dem die Über­schrift »Ver­misch­tes« an der feuch­ten Krus­te haf­ten ge­blie­ben war.

Die bei­den Schwes­tern pack­ten ein Stück Schlack­wurst aus, das stark nach Knob­lauch roch. Cor­nu­det, der mit bei­den Hän­den gleich­zei­tig in sei­ne Rock­ta­schen lang­te, zog aus der einen vier har­te Eier und aus der an­de­ren ein Stück Brot her­vor. Er lös­te die Scha­le, warf sie vor sei­nen Füs­sen ins Stroh und biss wäh­rend­dem in ein Ei, wo­bei gel­be Krüm­chen in sei­nen großen Bart fie­len und dort wie Ster­ne haf­ten blie­ben.

Fett-Kloss hat­te bei der Hast, mit der sie ihr Früh­stück ver­zehrt hat­te, an nichts den­ken kön­nen. Vor Zorn keu­chend, be­trach­te­te sie jetzt alle die Men­schen, die so be­hag­lich as­sen. An­fangs er­griff sie ein wü­ten­der Är­ger und sie öff­ne­te schon den Mund, um ih­nen un­ter ei­nem Strom von Schmä­hun­gen ihre Ge­mein­heit vor­zu­wer­fen, aber der Zorn er­stick­te sie, so­dass sie nicht spre­chen konn­te.

Nie­mand sah sie an, nie­mand küm­mer­te sich um sie. Sie sah sich mit Ver­ach­tung von die­sen ehr­ba­ren To­ren be­han­delt, die sie erst ge­op­fert hat­ten und sie nun wie et­was un­sau­be­res un­nüt­zi­ges bei Sei­te war­fen. Sie dach­te an ih­ren großen Korb mit Lecker­bis­sen, die sie alle hau­fen­wei­se ver­schlun­gen hat­ten, an ihre bei­den ge­lee­glän­zen­den Hüh­ner, an ihre Pas­te­ten, ihre Bir­nen, ihre vier Fla­schen Bor­deaux. End­lich riss ihr der Ge­dulds­fa­den und sie fühl­te, wie ihr die Trä­nen in die Au­gen ka­men. Sie mach­te furcht­ba­re An­stren­gun­gen, ge­brauch­te ihr Schnupf­tuch, schluck­te wie Kin­der die Trä­nen her­un­ter; aber sie ka­men im­mer wie­der, füll­ten ihre Au­gen, und bald roll­ten zwei große Trop­fen über ihre Wan­gen. Im­mer wei­te­re folg­ten und ran­nen wie Was­ser­trop­fen, die durch das Ge­stein si­ckern, auf die hoch­ge­wölb­te Brust her­ab. Sie blieb mit star­rem Blick, blei­chen Ant­lit­zes ge­ra­de sit­zen, in der Hoff­nung, dass man sie nicht an­schau­en wür­de.

Aber die Grä­fin hat­te es be­merkt, und mach­te ih­rem Man­ne ein Zei­chen. Er zuck­te die Ach­seln, als wenn er sa­gen woll­te: »Was willst Du; ich kann nichts da­für. Ma­da­me Loi­seau hat­te ein stil­les tri­um­phie­ren­des Lä­cheln.

»Sie weint über ihre Schan­de,« mur­mel­te sie.

Die bei­den Schwes­tern hat­ten ihr Ge­bet wie­der auf­ge­nom­men, nach­dem sie den Rest der Schlack­wurst wie­der ein­ge­wi­ckelt hat­ten.

Cor­nu­det, der sei­ne Eier ver­dau­te, streck­te sei­ne lan­gen Bei­ne bis un­ter die Bank auf der an­de­ren Sei­te, leg­te sich zu­rück, kreuz­te die Arme, lä­chel­te wie je­mand, dem plötz­lich ein gu­ter Witz ein­fällt und summ­te die »Mar­seil­lai­se« vor sich hin.

Alle Ge­sich­ter ver­fins­ter­ten sich. Die­ses Volks­lied ge­fiel sei­nen Nach­barn ent­schie­den nicht. Sie wur­den ner­vös, reiz­bar und sa­hen aus, als ob sie heu­len woll­ten wie die Hun­de bei den Tö­nen ei­nes Lei­er­kas­tens. Er be­merk­te es; aber nun hör­te er erst recht nicht auf. Zu­wei­len ließ er ganz laut die Wor­te er­klin­gen:

Hei­li­ge Lie­be des Va­ter­lan­des

Füh­re, stüt­ze un­sern Rä­cher­arm,

Frei­heit, teu­re Frei­heit,

Kämpf mit Dei­ner Strei­ter Schwarm!

Da der Schnee hart ge­wor­den war, fuhr man viel schnel­ler. Bis Diep­pe, wäh­rend der lan­gen trü­ben Fahrt, zwi­schen den Stös­sen des Wa­gens, beim An­bruch des Abends bis in der tiefs­ten Fins­ter­nis, setz­te er sein ein­för­mi­ges Ra­che­lied in wil­dem Ei­gen­sin­ne fort. Er zwang sie förm­lich, mit ih­rem mü­den Geis­te sei­nem Ge­san­ge von An­fang bis zu Ende zu fol­gen, sich je­des ein­zel­ne der bis zum Über­druss ge­hör­ten Wor­te ein­zu­prä­gen.

Fett-Kloss wein­te im­mer wei­ter. Zu­wei­len er­tön­te zwi­schen den ein­zel­nen Stro­phen in der Fins­ter­nis ein lau­tes Auf­schluch­zen, das sie nicht hat­te zu­rück­hal­ten kön­nen.

*

Zwei Freunde

Das be­la­ger­te, aus­ge­hun­ger­te Pa­ris lag in den letz­ten Zü­gen. Die Sper­lin­ge auf den Dä­chern wa­ren sel­ten ge­wor­den und die Kloa­ken ent­völ­kert. Man ass, was nur im­mer zu ha­ben war.

Herr Mor­ri­sot sei­nes Zei­chens Uhr­ma­cher und sei­ner au­gen­blick­li­chen Be­schäf­ti­gung nach Staats­bumm­ler wan­der­te an ei­nem hel­len Ja­nu­ar-Mor­gen, die Hän­de in den Ho­sen­ta­schen sei­ner Uni­form mit lee­rem Ma­gen in trüb­se­li­ger Stim­mung auf dem äus­se­ren Bou­le­vard um­her. Plötz­lich blieb er vor ei­nem Waf­fen­ge­nos­sen ste­hen, in dem er einen al­ten Freund wie­der­er­kann­te. Es war Herr Sau­va­ge, den er einst am Ufer der Sei­ne ken­nen ge­lernt hat­te.

Vor dem Krie­ge wan­del­te Herr Mo­ris­sot je­den Sonn­tag mit dem Frührot, eine An­gel­ru­te in der Hand und ein Ge­fäss aus Weiß­blech auf dem Rücken zum Hau­se hin­aus. Er be­nutz­te die Ei­sen­bahn nach Ar­gen­teuil, stieg in Co­lom­bes aus und be­gab sich zu Fuss nach der In­sel Ma­ran­te. Kaum an die­sem Ziel­punkt sei­ner Träu­me an­ge­langt, be­gann er zu fi­schen und fisch­te bis zum Abend.

Je­den Sonn­tag traf er dort einen wohl­ge­nähr­ten, klei­nen, jo­via­len Mann, Herrn Sau­va­ge, einen Krä­mer aus der Stras­se Notre Dame de Lo­ret­te, der wie er ein lei­den­schaft­li­cher Ang­ler war. Sie brach­ten zu­wei­len hal­be Tage ne­ben­ein­an­der zu, die An­gel­ru­te in der Hand, die Füs­se über dem Was­ser bau­melnd, und fühl­ten sich all­mäh­lich von herz­li­cher Freund­schaft zu­ein­an­der hin­ge­zo­gen.

Zu­wei­len spra­chen sie kaum ein Wort mit­ein­an­der; dann plau­der­ten sie wie­der stun­den­lang. Aber auch, wenn sie nicht mit­ein­an­der spra­chen, ver­stan­den sie sich wun­der­bar; denn sie hat­ten den­sel­ben Ge­schmack und die­sel­ben Emp­fin­dun­gen.

Im Früh­ling, mor­gens so ge­gen zehn Uhr, wenn die neu­be­leb­te Son­ne ihre Strah­len auf den Fluss warf, des­sen Flu­ten die­sel­ben fort­zu­tra­gen schie­nen, und zu­gleich im Rücken der bei­den lei­den­schaft­li­chen Ang­ler eine an­ge­neh­me Wär­me zu ent­wi­ckeln pfleg­te, sag­te Mo­ris­sot hin und wie­der zu sei­nem Nach­bar: »Eine mil­de Luft, wie?« und Herr Sau­va­ge ent­geg­ne­te: »Ich ken­ne nichts an­ge­neh­me­res.« Hier­mit war ihr Ge­spräch be­en­det; sie ver­stan­den sich und ehr­ten ihre ge­gen­sei­ti­gen Ge­füh­le.

 

Und im Spät-Herbst ge­gen Abend, wenn der von der un­ter­ge­hen­den Son­ne ge­röte­te Him­mel sei­ne Pur­pur­wol­ken im Was­ser wi­der­spie­gel­te, den gan­zen Fluss zu­gleich mit dem Ho­ri­zont in Flam­men setz­te, das fah­le Laub der Bäu­me ver­gol­de­te, die schon in win­ter­li­chen Rau­schen er­schau­er­ten, dann schau­te Herr Sau­va­ge lä­chelnd sei­nen Freund Mo­ris­sot an und sag­te: »Welch herr­li­ches Schau­spiel!« Und Mo­ris­sot ohne das Auge von sei­nem Kork ab­zu­wen­den ent­geg­ne­te: »Das ist frei­lich schö­ner, als auf dem Bou­le­vard.«

*

So­bald sich die bei­den Freun­de wie­der­er­kannt hat­ten, schüt­tel­ten sie sich hef­tig die Hän­de; bei­de wa­ren tief be­wegt, sich un­ter so ganz an­de­ren Um­stän­den wie­der­zu­fin­den. »Ein trau­ri­ges Wie­der­se­hen,« mur­mel­te Herr Sau­va­ge mit ei­nem tie­fen Seuf­zer. »Und welch ein Wet­ter!« ent­geg­ne­te Herr Mo­ris­sot ge­drückt. Es ist heu­te der ers­te schö­ne Tag im neu­en Jah­re.«


Der Him­mel war in der Tat ganz blau und strahl­te im schöns­ten Son­nen­lich­te.

Trau­rig und träu­me­risch gin­gen sie ne­ben­ein­an­der.

»Und der Fisch­fang, wie?« nahm Mo­ris­sot das Ge­spräch wie­der auf. »Welch schö­ne Erin­ne­rung!«

»Wann wer­den wir wie­der da­mit be­gin­nen?« frag­te Herr Sau­va­ge.

Sie tra­ten zu­sam­men in ein Café ein und tran­ken einen Ab­synth; dann nah­men sie ih­ren Spa­zier­gang auf dem Trot­toir wie­der auf.

Mo­ris­sot blieb plötz­lich ste­hen. »Noch ein Gläs­chen, wie?« Herr Sau­va­ge war ein­ver­stan­den. »Wie Sie den­ken.« Und sie tra­ten in ein an­de­res Wein-Lo­kal.

Sie wa­ren sehr an­ge­regt, als sie das Lo­kal ver­lies­sen, wie Leu­te, die noch nicht ge­früh­stückt ha­ben, aber schon voll Al­ko­hol sind. Die Luft war ver­hält­nis­mäs­sig mild und ein schmei­cheln­des Lüft­chen um­kos­te ihre Stirn.

»Wie wär’s wenn wir hin­gin­gen?« sag­te plötz­lich Herr Sau­va­ge, der in der frei­en Luft sich erst recht be­ne­belt fühl­te.

»Wo­hin?«

»Zum An­geln, mei­ne ich.«

»Aber wo?«

»Auf un­se­rer In­sel na­tür­lich. Die fran­zö­si­schen Vor­pos­ten ste­hen nahe bei Co­lom­bes. Ich ken­ne den Oberst Du­mou­lin; man wird uns ohne Schwie­rig­kei­ten durch­las­sen.«

Mo­ris­sot zit­ter­te vor Be­gier­de.

»Ab­ge­macht,« sag­te er »ich bin da­bei.« Und sie trenn­ten sich um ihr An­gel­zeug zu ho­len.

Eine Stun­de spä­ter be­fan­den sich bei­de be­reits un­ter­wegs. Sie er­reich­ten als­bald die Vil­la, die der Co­lo­nel be­wohn­te. Er lä­chel­te über ihre Pas­si­on und wil­lig­te in ihr Be­geh­ren. Mit ei­nem Durch­lass-Schein ver­se­hen gin­gen sie wei­ter.

Bald hat­ten sie die Vor­pos­ten hin­ter sich, durch­schrit­ten das ver­las­se­ne Co­lom­bes und be­fan­den sich schliess­lich am Ran­de der klei­nen Wein­ber­ge, wel­che sich am Han­ge der Sei­ne zu, be­fin­den. Es war un­ge­fähr elf Uhr. Das Dorf Or­gen­teuil ge­gen­über schi­en wie aus­ge­stor­ben. Die Hö­hen von Ar­ge­mont und San­nois be­herrsch­ten die gan­ze Um­ge­gend. Die große Ebe­ne, die sich mit ih­ren kah­len Kirsch­bäu­men und ih­ren grau­en Fel­dern bis Nan­terre er­streckt, war leer, ganz leer.

»Da oben sind die Preus­sen« sag­te Herr Sau­va­ge mit dem Fin­ger auf die Hü­gel wei­send. Die­se men­schen­lee­re Ge­gend er­füll­te die bei­den Freun­de mit ei­nem un­will­kür­li­chen Grau­en.

»Die Preus­sen!« Sie hat­ten noch nie­mals wel­che ge­se­hen. Aber sie spür­ten ge­nug von ih­nen seit Mo­na­ten, wie sie raub­ten, mor­de­ten und plün­der­ten, sie aus­hun­ger­ten und sich un­sicht­bar wie sie wa­ren, den­noch als all­mäch­ti­ge Her­ren be­wie­sen. Und eine Art aber­gläu­bi­scher Furcht ge­sell­te sich zu dem Has­se, den sie ge­gen die­ses un­be­kann­te sieg­rei­che Volk emp­fan­den.

»Wenn uns ei­ni­ge be­geg­nen, was dann?« stam­mel­te Mo­ris­sot.

»So bie­ten wir ih­nen ein Ge­richt Fi­sche an.« ant­wor­te­te Herr Sau­va­ge mit je­nem ech­ten Pa­ri­ser Hu­mor, der selbst in den schwie­rigs­ten La­gen die Ober­hand be­hält.

Aber es war Ih­nen doch nicht so recht wohl zu Mute, sich ins freie Feld zu be­ge­ben; die­ses weit und breit las­ten­de Schwei­gen flöss­te ih­nen Be­sorg­nis ein.

»Ge­hen wir, vor­wärts!« ent­schied end­lich Herr Sau­va­ge, »aber vor­sich­tig!« Und sie klet­ter­ten einen Wein­berg hin­ab, mit vor­ge­beug­tem Ober­kör­per, schlei­chend, je­des Ge­sträuch als De­ckung be­nut­zend, un­ru­hig um­her­schau­end und ängst­lich auf je­des Geräusch lau­schend.

Noch hat­ten sie einen Erd­hau­fen zu über­klet­tern, um an das Ufer des Flus­ses zu ge­lan­gen. Sie be­gan­nen zu lau­fen und so­bald sie am Ufer an­ge­kom­men wa­ren, ver­steck­ten sie sich in dem ab­ge­stan­de­nen Röh­richt.

Mo­ris­sot leg­te das Ge­sicht an die Erde, um zu lau­schen, ob man Marsch­trit­te in der Um­ge­gend ver­neh­men könn­te. Nichts rühr­te sich in­des­sen. Sie wa­ren al­lein, ganz al­lein.

So be­ru­higt ver­leg­ten sie sich nun eif­rig aufs Fi­schen.

Die In­sel Ma­ran­te ih­nen ge­gen­über, wel­che eben­falls wie ab­ge­stor­ben dalag, ver­barg sie vor dem jen­sei­ti­gen Ufer. Das klei­ne Re­stau­ra­ti­ons­ge­bäu­de auf der­sel­ben war ge­schlos­sen, als wenn es seit Jah­ren nicht mehr be­nutzt ge­we­sen wäre.

Herr Sau­va­ge fing den ers­ten Gründ­ling und gleich dar­auf Herr Mo­ris­sot den zwei­ten. Alle Au­gen­bli­cke zog ei­ner von ih­nen die An­gel­schnur her­aus, an der ein sil­ber­glän­zen­der Fisch zap­pel­te. Sie mach­ten in der Tat einen glän­zen­den Fang.

Vor­sich­tig leg­ten sie ihre Beu­te in einen eng­ma­schi­gen Netz­beu­tel zu ih­ren Füs­sen. Eine leb­haf­te Freu­de er­füll­te sie; jene Freu­de, die man emp­fin­det, wenn man sich ei­nem lan­gent­behr­ten Ver­gnü­gen zum ers­ten Male wie­der hin­gibt.

Die Son­ne schi­en warm auf ihre Schul­tern. Sie hör­ten nichts und dach­ten an nichts mehr. Die Welt rings­um war für sie ver­ges­sen. Sie wid­me­ten sich ganz ih­rem Fisch­fang.

Plötz­lich er­zit­ter­te der Bo­den, wie von ei­nem un­ter­ir­di­schen Geräusche. Es war der Don­ner von Ge­schüt­zen.

Mo­ris­sot wand­te den Kopf und ge­wahr­te jen­seits des Ufers un­ten links die ge­wal­ti­gen Um­ris­se des Mont-Va­le­ri­en, vor des­sen Front eine wei­ße Wol­ke schweb­te: Der Pul­ver­dampf, den er aus­pie.

Als­bald folg­te vom Gip­fel der Fes­te ein zwei­ter Rauch­aus­bruch, und nach ei­ni­gen Au­gen­bli­cken hör­te man aber­mals Ge­schütz­don­ner.

Dann folg­ten wei­te­re Schlä­ge und in re­gel­mäs­si­gen Zwi­schen­räu­men stiess der Berg sei­nen töt­li­chen Atem aus, und blies den milch­wei­ßen Dampf von sich, der lang­sam am kla­ren Him­mel em­por­stieg und eine Wol­ke über sei­nem Gip­fel bil­de­te.

»Sie fan­gen wie­der an,« sag­te Herr Sau­va­ge ach­sel­zu­ckend.

Mo­ris­sot, der ängst­lich das Auf- und Ab­tau­chen des Fe­der­kiels an sei­nem Schwim­mer be­ob­ach­te­te, wur­de plötz­lich von je­nem hef­ti­gen Zor­ne er­grif­fen, den der fried­li­che Mensch ge­gen jene Un­sin­ni­gen emp­fin­det, die so lei­den­schaft­lich kämp­fen. »Man muss wirk­lich be­ses­sen sein, um sich ge­gen­sei­tig so um­zu­brin­gen,« mur­mel­te er.

»Es ist schlim­mer wie bei den Tie­ren,« ent­geg­ne­te Herr Sau­va­ge.

»Und zu den­ken, dass das so wei­ter ge­hen wird, so­lan­ge als es Re­gie­run­gen gibt!« rief Herr Mo­ris­sot aus, der ge­ra­de einen Weiß­fisch ge­fan­gen hat­te. »Die Re­pu­blik wür­de den Krieg nicht er­klärt ha­ben …« mein­te Herr Sau­va­ge.

»Bei den Kö­ni­gen,« un­ter­brach ihn Herr Mo­ris­sot, »spielt der Krieg aus­wärts; bei der Re­pu­blik hat man ihn im ei­ge­nen Lan­de.«

Und nun be­gan­nen sie eine ge­müt­li­che Un­ter­hal­tung über die schwie­rigs­ten po­li­ti­schen Streit­fra­gen mit je­nem ge­sun­dem Ur­teil, wel­ches ein­fa­che ru­hi­ge Leu­te so oft zei­gen, die sich dar­über ei­nig sind, dass man nie­mals wirk­lich frei ist. Der Mont-Va­le­ri­en don­ner­te dazu ohne Un­ter­lass, ver­wüs­te­te fran­zö­si­sche Häu­ser, ver­nich­te­te Men­schen­le­ben, rot­te­te zahl­lo­se Ge­schöp­fe Got­tes aus, zer­stör­te so man­chen schö­nen Traum, so man­che er­sehn­te Freu­de, und er­weck­te in den Her­zen zahl­lo­ser Frau­en, Müt­ter und Mäd­chen drü­ben in an­de­ren Län­dern end­lo­ses Her­ze­leid.

»Das ist das Le­ben,« sag­te Herr Sau­va­ge.

»Sa­gen Sie lie­ber: Der Tod,« ent­geg­ne­te la­chend Herr Mo­ris­sot.

Aber plötz­lich zuck­ten sie er­schreckt zu­sam­men, als sie hin­ter sich Fuss­trit­te ver­nah­men. Sich um­wen­dend, ge­wahr­ten sie dicht ne­ben ih­nen vier Män­ner, vier be­waff­ne­te, große, bär­ti­ge Män­ner, in eine Art Li­vree wie Die­ner ge­klei­det und mit fla­chen Müt­zen be­deckt, wel­che, das Ge­wehr im An­schlag, sie be­ob­ach­te­ten.

Die An­gel­ru­ten ent­san­ken ih­ren Hän­den und trie­ben den Fluss hin­ab.

In ei­nem Au­gen­blick wa­ren sie er­grif­fen, ge­bun­den, fort­ge­führt, in einen Kahn ge­wor­fen und nach der In­sel über­führt. Hin­ter dem Hau­se, wel­ches sie für leer­ste­hend ge­hal­ten hat­ten, be­merk­ten sie jetzt ei­ni­ge zwan­zig deut­sche Sol­da­ten.

Eine Art zot­ti­ger Rie­se, der auf ei­nem Stuh­le rei­tend sei­ne große Por­zel­lan­pfei­fe rauch­te, frag­te sie in gu­tem Fran­zö­sisch: »Nun mei­ne Her­ren, sind Sie mit ih­rem Fisch­fang zu­frie­den?«

Ein Sol­dat leg­te das mit Fi­schen ge­füll­te Netz, wel­ches er sorg­lich mit­ge­bracht hat­te, zu Füs­sen des Of­fi­ziers.

»Ah!« mach­te der Preus­se »es ist gut ge­gan­gen, wie ich sehe. Aber nun von et­was an­de­rem. Hö­ren Sie mich ru­hig an.«

»In mei­nen Au­gen sind Sie zwei Spio­ne, die zu mei­ner Beo­b­ach­tung aus­ge­sandt wur­den. Ich habe Sie auf­ge­grif­fen und wer­de Sie er­schies­sen las­sen. Sie ha­ben sich fi­schend ge­stellt, um ihre ei­gent­li­che Ab­sicht zu ver­heim­li­chen. Nun sind Sie in mei­ner Ge­walt. Umso schlim­mer für Sie. Das ist nun mal im Krie­ge nicht an­ders.«

»Aber, da Sie über die Vor­pos­ten hin­aus­ge­kom­men sind, ha­ben Sie für die Rück­kehr si­cher ein Lo­sungs­wort. Ge­ben Sie mir das­sel­be, und ich las­se Gna­de vor Recht er­ge­hen.«

Die bei­den Freun­de stan­den bleich ne­ben­ein­an­der; ein leich­tes ner­vö­ses Zit­tern be­weg­te ihre Hän­de. Aber sie schwie­gen.

»Nie­mand wird et­was da­von er­fah­ren«; nahm der Of­fi­zier wie­der das Wort. »Sie wer­den un­be­hel­ligt nach Hau­se zu­rück­keh­ren. Das Ge­heim­nis wird mit Ih­nen wie­der ver­schwin­den. Wenn Sie sich aber wei­gern, so ist das Ihr Tod, und zwar so­fort. Also wäh­len Sie.«

Sie blie­ben re­gungs­los ohne den Mund zu öff­nen.

»Be­den­ken Sie,« sag­te der Of­fi­zier ru­hig, mit der Hand nach dem Flus­se deu­tend, »dass Sie in fünf Mi­nu­ten auf dem Grun­de des Was­sers lie­gen wer­den. In fünf Mi­nu­ten. Den­ken Sie an Ihre An­ge­hö­ri­gen.«

Der Mont-Va­le­ri­en don­ner­te wei­ter.

Die bei­den Ang­ler stan­den schwei­gend da. Der Deut­sche er­teil­te in sei­ner Spra­che ei­ni­ge Be­feh­le. Dann schob er sei­nen Stuhl wei­ter zu­rück, um nicht zu nahe bei den Ge­fan­ge­nen zu sein. Zwölf Mann stell­ten sich, Ge­wehr bei Fuss, zwan­zig Schritt vor ih­nen auf.

»lch gebe Ih­nen eine Mi­nu­te Zeit; kei­ne Se­kun­de län­ger.« be­gann der Of­fi­zier wie­der.

Dann er­hob er sich plötz­lich, nä­her­te sich den bei­den Fran­zo­sen, nahm Mo­ris­sot beim Arm, führ­te ihn et­was fort, und sag­te ihm lei­se:

»Schnell das Lo­sungs­wort. Ihr Ka­me­rad wird nichts da­von er­fah­ren. Ich wer­de tuen, als hät­te ich mich an­ders be­son­nen.

Mo­ris­sot ant­wor­te­te nichts.

Der Preus­se wand­te sich nun an Herrn Sau­va­ge und stell­te ihm die­sel­be Fra­ge.

Herr Sau­va­ge ant­wor­te­te nichts.

Nun stan­den bei­de wie­der ne­ben­ein­an­der.

Der Of­fi­zier kom­man­dier­te; die Sol­da­ten leg­ten an.

Da fiel der Blick Mo­ris­sot’s zu­fäl­lig auf das Netz mit Fi­schen, wel­ches ei­ni­ge Schrit­te vor ih­nen im Gra­se lie­gen ge­blie­ben war.

 

Ein Son­nen­strahl ließ den Fisch­hau­fen er­glän­zen, in dem sich noch Le­ben rühr­te. Mo­ris­sot fühl­te eine An­wand­lung von Schwä­che. Sei­ne Au­gen füll­ten sich trotz al­ler An­stren­gung mit Trä­nen.

»Adieu Herr Sau­va­ge.« mur­mel­te er.

»Adieu Herr Mo­ris­sot,« ant­wor­te­te die­ser.

Sie drück­ten sich die Hän­de, wäh­rend ein un­über­wind­ba­res Zit­tern ih­ren gan­zen Kör­per durch­lief. »Feu­er!« kom­man­dier­te der Of­fi­zier.

Wie auf einen Schuss knall­ten die zwölf Ge­weh­re.

Herr Sau­va­ge fiel wie ein Klum­pen vorn­über. Mo­ris­sot, der et­was grös­ser war, zuck­te hef­tig, dreh­te sich um sich selbst und fiel quer über sei­nen Ka­me­ra­den, das Ge­sicht zum Him­mel ge­wandt, wäh­rend das Blut aus sei­ner auf der Brust durch­lö­cher­ten Blou­se rie­sel­te.

Der Deut­sche er­teil­te neue Be­feh­le.

Sei­ne Leu­te ver­schwan­den und ka­men bald dar­auf mit ei­ni­gen Stri­cken und Stei­nen zu­rück, welch letz­te­re sie an die Füs­se der bei­den To­ten ban­den. Dann schlepp­ten sie die­sel­ben an’s Ufer.

Der Mont-Va­le­ri­en hör­te nicht auf zu grol­len; er war jetzt wie ein Vul­kan an­zu­se­hen.

Zwei Sol­da­ten er­grif­fen Mo­ris­sot am Kopf und bei den Füs­sen; zwei an­de­re mach­ten es eben­so mit Herrn Sau­va­ge. Ei­nen Au­gen­blick schwenk­ten sie die leb­lo­sen Kör­per hin und her, dann schleu­der­ten sie die­sel­ben weit fort; sie be­schrie­ben einen großen Bo­gen und tauch­ten dann auf­recht im Flus­se un­ter, in­dem das Ge­wicht der Stei­ne ihre Füs­se zu­erst her­ab­zog.

Das Was­ser klatsch­te laut auf, schäum­te, rausch­te und be­ru­hig­te sich dann wie­der, wäh­rend klei­ne Krei­se, im­mer grös­ser wer­dend, sich bis zum Ufer hin­zo­gen.

Ein leich­ter Blut­strei­fen färb­te für einen Au­gen­blick die kla­re Flut,

»Ein gu­tes Fres­sen für die Fi­sche.« sag­te halb­laut der Of­fi­zier, den sei­ne heitre Lau­ne kei­nen Au­gen­blick ver­las­sen hat­te.

Dann kehr­te er ins Haus zu­rück.

Plötz­lich be­merk­te er die Fi­sche in dem Net­ze wie­der. Er hob sie auf, be­trach­te­te sie lan­ge und rief dann la­chend: »Wil­helm!«

Ein Sol­dat mit ei­ner wei­ßen Schür­ze lief her­bei. Der Preus­se warf ihm das Netz mit den Fi­schen der bei­den Er­schos­se­nen zu. »Du kannst mir gleich die­se klei­nen Tier­chen da bra­ten; sie sind noch ganz frisch. Sie wer­den köst­lich schme­cken.«

Dann rauch­te er sei­ne Pfei­fe wei­ter.

*