Mehrere Tage hintereinander waren die Überreste der geschlagenen Armee durch die Stadt gezogen. Eine Truppe konnte man das schon nicht mehr nennen, sondern höchstens eine zügellose Horde. Den Bart lang und schmutzig, die Uniform zerfetzt, ohne Fahnen, ohne Ordnung zogen die Leute in lässiger Haltung dahin. Alle schienen von der Überanstrengung ermattet, keines Gedankens, keiner Entschliessung fähig, nur noch aus Gewohnheit weiter zu marschieren; sobald Halt gemacht wurde, sanken sie vor Ermüdung um. Sie bestanden in der Hauptsache aus Mobilgarden, friedlichen Leuten, harmlosen Spiessbürgern, die unter der Last des Gewehres zusammenknickten, kleinen muntren Schwätzern, zum Bramarbasieren und jeder Art von Begeisterung gern geneigt, ebenso bereit zum Angriff wie zur Flucht. Darunter bemerkte man dann hin und wieder einige Rothosen, die Trümmer einer in der Hauptschlacht aufgeriebenen Division, die dunklen Uniformen der Artilleristen, in Reih und Glied mit der Infanterie; und ganz zuweilen den blanken Helm eines Dragoners der mit schweren Tritt nur mühsam dem Tempo der leichten Truppen folgte.
Mehrere Franktireurs-Legionen mit pomphaften Bezeichnungen, wie »Rächer der Schmach« – »Bürger des Grabes« – »Genossen des Todes« folgten jetzt; es waren die reinen Banditengesichter.
Ihre Führer, ehemalige Tuch- oder Getreidehändler, Kerzen- und Seifen-Krämer, die der Zufall zu Kriegern gestempelt hatte und die ihres Geldes oder ihrer langen Schnurrbärte wegen zu Offizieren gewählt wurden, plauderten, waffenstrotzend mit Tressen und Borten überladen, mit weithinschallender Stimme, erörterten ihre Feldzugspläne und taten, als ob sie mit ihrem großen Maule ganz allein das unglückliche Vaterland retten könnten. Vor ihren eigenen Leuten, richtigem Galgengesindel, ebenso aufgelegt zum Kampf, wie zum Rauben und Plündern, schienen sie jedoch einen gewissen Respekt zu haben.
Die Preussen würden, wie es hiess, demnächst in Rouen einziehen.
Die Nationalgarde, die seit zwei Monaten mit großer Vorsicht die umliegenden Wälder durchstreifte und dabei zuweilen ihre eigenen Posten niederschoss, die sich sofort gefechtsbereit machte, wenn nur ein Kaninchen durchs Gebüsch huschte, war heimgekehrt. Ihre Waffen, ihre Uniformen, ihr ganzer Aufputz mit dem sie sonst auf drei Meilen in der Runde die Strassengräben verzierte, waren plötzlich verschwunden.
Die letzten französischen Soldaten überschritten endlich die Seine um über Saint-Sever und Bourg-Achard sich nach Pont-Audemer zu wenden. Ihnen folgte der verzweifelte General, der mit diesen gelockerten Verbänden nichts mehr anfangen konnte und selbst von dem Zusammenbruche eines Volkes mit fortgerissen wurde, das, gewohnt zu siegen, trotz seiner sprichwörtlichen Tapferkeit schmählich geschlagen war. Er ging zu Fuss zwischen zwei Ordonnanz-Offizieren.
Dann verbreitete sich tiefe Ruhe, eine furchtsame, schweigende Erwartung in der Stadt. Ängstlich harrten die besorgten Bürger auf die Ankunft der Sieger; sie zitterten bei dem Gedanken, dass man ihren Bratspiess oder ihr großes Küchenmesser für eine Waffe ansehen könnte.
Alles Leben schien zu stocken, die Läden waren geschlossen, stumm lagen die Strassen da. Hin und wieder schlich ein Bürger, bedrückt von der schwülen Stille hastig längs der Häuser.
Diese Erwartung war so beängstigend, dass man die Ankunft des Feindes fast herbeisehnte.
Am Nachmittage des Tages, der dem Abmarsch der Franzosen folgte, tauchten plötzlich einige Ulanen auf und ritten im schnellsten Tempo durch die Strassen der Stadt. Dann stieg etwas später eine dunkle Masse vom St. Katharinenberge herunter, während auf den Strassen von Darnetal und Boisguillaume zwei weitere Abteilungen in die Stadt eindrangen. Die Avantgarden dreier Korps vereinigten sich gleichzeitig auf dem Platz vor dem Rathause. Auf allen angrenzenden Strassen kamen die deutschen Truppen heran, und das Pflaster erdröhnte unter dem festen gleichmässigen Tritt der Bataillone.
Längs der Häuser, die verlassen und wie ausgestorben dalagen, ertönten in tiefen Kehllauten fremdartige Kommandorufe. Hinter den geschlossenen Läden betrachteten ängstliche Augen die Sieger, die nun durch »Kriegsrecht« Herren der Stadt, Herren von Eigentum und Leben geworden waren. Die Einwohner hatten in ihren dunklen Zimmern einen ähnlichen peinlichen Eindruck, wie ihn ein Erdbeben, eine furchtbare Erschütterung des Hauses hervorruft, der gegenüber alle Vorsichtsmassregeln und alle menschlichen Kräfte wirkungslos sind. Dasselbe Gefühl ergreift uns stets, wenn wir sehen, dass alle Ordnung gestört ist, dass jede Sicherheit schwindet, und dass alles was sonst menschliche und natürliche Gesetze beschützen, sich in Händen einer unbekannten rohen Gewalt befindet. Ein Erdbeben, das eine ganze Einwohnerschaft unter den Trümmern der Häuser begräbt, ein Fluss, der aus seinen Ufern tritt und mit seinen Wogen die Leichname ertrunkener Landleute, die Kadaver von Rindvieh und Balken-Trümmer dahinwälzt, oder eine siegreiche Armee endlich, welche die Verteidiger niedermetzelt, die friedfertigen Bürger als Gefangene fortschleppt, welche im Namen des Schwertes raubt und Gott mit dem Donner der Kanonen feiert, sind alles schreckliche Prüfungen, die jeden Glauben an die ewige Gerechtigkeit vernichten, jede Hoffnung zerstören, die man uns auf den Schutz des Himmels und die Klugheit der Menschen einzuflössen sucht.
Bald klopften an jeder Haustüre kleine Abteilungen, die dann im Innern verschwanden. Es war die Einquartierung, die der Besitznahme folgte. Den Besiegten erwuchs jetzt die Pflicht, sich den Siegern gefällig zu zeigen.
Nach einiger Zeit, als der erste Schrecken einmal überwunden war, trat aufs Neue eine gewisse Beruhigung ein. In vielen Familien ass der preussische Offizier mit bei Tische. Häufig zeigte er sich als wohlerzogener Mann, der aus Höfligkeit Frankreichs Lob sang und sein Bedauern aussprach, gegen dasselbe kämpfen zu müssen. Man war ihm dankbar für sein Zartgefühl; und zudem konnte man nicht wissen, ob man nicht demnächst seiner Fürsprache bedurfte. Wenn man sich gut mit ihm stellte, würde man vielleicht weniger Einquartierung erhalten. Und warum überhaupt jemanden beleidigen, von dem man gänzlich abhängig war? Das wäre eher vermessen als kühn gewesen. – Schliesslich sagte man sich auch, – indem die bekannte französische Gastfreundlichkeit zum Grunde dienen musste, – dass es wohl gestattet sei, im Inneren des eigenen Hauses gegen den fremden Krieger höflich zu sein, vorausgesetzt dass man sich öffentlich vor jeder Vertraulichkeit hütete. Draussen freilich kannte man sich nicht, während man zu Hause gerne plauderte, sodass der Deutsche jeden Abend ein Stündchen länger blieb, um sich am Familienleben zu beteiligen.
Die Stadt selbst nahm allmählich ihr gewöhnliches Aussehen wieder an. Die Franzosen gingen zwar selbst noch nicht aus, aber die preussischen Soldaten schwärmten durch die Gassen. Im Übrigen schienen auch die Offiziere der blauen Husaren, welche mit einer gewissen Anmassung ihre Säbel auf dem Trottoir schleppen liessen, nicht mein Verachtung gegen die einfachen Bürger zu hegen, als die Offiziere der Chasseurs die das Jahr vorher in demselben Café gezecht hatten.
Immerhin lag etwas in der Luft, etwas eigentümlich Fremdes; etwas seltsam unerträgliches, wie ein Dunst, der sich verbreitet; der Dunst der Invasion. Er erfüllte die Wohnungen und öffentliche Plätze, gab den Speisen seinen Beigeschmack und machte einem den Eindruck, als sei man auf Reisen fern bei einem gefährlichen Wilden-Stamm.
Die Sieger verlangten Geld, sehr viel Geld. Die Einwohner zahlten stets; sie waren ja wohlhabend. Aber je reicher ein normannischer Kaufmann ist, umso schwerer wird ihm jedes Opfer, das er bringen soll, desto schmerzlicher trennt er sich von jedem Geldstückchen, das er in andere Hände wandern sieht.
Unterdessen fischten zwei oder drei Meilen unterhalb der Stadt bei Croisset, Dieppedale oder Biessart die Fischer und Bootsleute hin und wieder den Leichnam eines Deutschen auf, der durch einen Dolchstich, durch einen Steinhieb den Hinterkopf, durch einen Sturz von der Brücke sein Leben eingebüsst hatte. Der Schlamm des Flusses bedeckte diese Opfer einer furchtbaren aber gerechten Rache, eines stummen Heldenmuts, eines stillen Überfalls, gefährlicher als die offene Schlacht und ohne den verdienten Lohn des Ruhmes.
Der Hass gegen den fremden Eindringling drückt eben manchem Furchtlosen, der bereit ist für eine Idee zu sterben, die Waffe in die Hand.
Da übrigens die Eindringlinge schliesslich, wenngleich sie unbedingten Gehorsam gegen alle ihre Befehle verlangten, in keiner Weise die schrecklichen Gerüchte bestätigten, welche ihrem Siegesmarsche vorausgelaufen waren, so fasste man wieder Mut, und der Geschäftssinn begann sich allmählich wieder im Herzen der einheimischen Kaufleute zu regen. Einige von ihnen hatten wichtige Angelegenheiten in Havre abzuwickeln, welches die französische Armee noch besetzt hielt. Sie hofften diesen Hafen zu erreichen, indem sie sich auf dem Landwege nach Dieppe begaben, um sich dort einzuschiffen.
Durch Vermittlung der deutschen Offiziere, deren Bekanntschaft sie gemacht hatten, erlangten sie vom kommandierenden General die Erlaubnis zur Abreise.
So wurde denn ein großer vierspänniger Omnibus für diese Reise genommen, an der sich zehn Personen beteiligten. Die Abfahrt sollte an einem Dienstag Morgen noch vor Tagesanbruch stattfinden, um jedes Aufsehen zu vermeiden.
Um halb fünf trafen sich die Reisenden im Hofe des Hôtel de Normandie, wo der Wagen bereitstand. Sie waren noch schlaftrunken und zitterten unter ihrer Umhüllung vor Kälte. Anfangs war ein Erkennen in der Dunkelheit schwer möglich; die zusammengerafften dichten Winterkleider liessen alle die Leute wie behäbige Pfarrer in langen Sutanen aussehen. Zwei Herren erkannten sich indessen und ein dritter trat auf sie zu. »Ich bringe meine Frau fort« sagte der eine. »Ich ebenfalls.« »Und ich auch.« »Wir werden nicht nach Rouen zurückkehren; und wenn die Preussen sich Havre nähern sollten, gehen wir nach England,« fügte der erste hinzu. Alle hatten dieselbe Absicht, die ihrer gleichartigen Gemütsbeschaffenheit entsprach.
Der Wagen war noch nicht angespannt. Zuweilen tauchte eine kleine Laterne, die ein Stallknecht trug, aus einer finsteren Türe auf, um gleich darauf in einer anderen wieder zu verschwinden. Man hörte Pferdegetrampel und lautes Fluchen aus dem Innern des Stallgebäudes. Leichtes Schellengeklingel bewies, dass man das Geschirr auflegte. Bald wurde dieses Geklingel zu einem deutlichen fortgesetzten Läuten, welches je nach der Bewegung des Tieres zuweilen ganz aufhörte, um dann plötzlich umso lauter wieder zu beginnen, während der Boden unter dem Hufeisen wiederhallte.
Plötzlich wurde die Türe zugemacht; jedes Geräusch verschwand. Auch die fröstelnden Bürger schwiegen; starr und unbeweglich standen sie umher.
Der Schnee fiel in dichten Flocken unablässig nieder; er hüllte alle Gestalten, alle Gegenstände mit seiner eisigen Masse ein. Bei der tiefen Grabesstille, in der die Stadt noch ruhte, hörte man nur dieses unbestimmte einförmige Geriesel des Schnees. Es war mehr eine Empfindung wie ein Geräusch, dieses Erzittern leichter Atome, die den ganzen Luftraum erfüllten und langsam die Erde bedeckten.
Der Mann mit der Laterne erschien abermals und zog am Zügel ein verdrossen dahinschreitendes Pferd hinter sich her. Er stellte es an die Deichsel und legte die Stränge an, wobei er sich mehrfach versicherte, dass am Geschirr alles in Ordnung sei. Da er in der einen Hand die Laterne halten musste, so brauchte er ziemlich viel Zeit zu dieser Beschäftigung. Als er sich endlich umwandte, um das zweite Pferd zu holen, bemerkte er die regungslos dastehenden schon ganz in Schnee gehüllten Reisenden.
»Warum steigen Sie nicht ein? Sie sind doch im Wagen wenigstens geschützt,« fragte er erstaunt.
In der Tat, daran hatte noch keiner gedacht; und nun stürzte alles auf den Wagen zu. Die drei Herren von vorhin liessen zuerst ihre Frauen Platz nehmen und folgten dann. Dann nahmen die übrigen bis zur Unkenntlichkeit eingemummten Gestalten schweigend ihre Sitze ein.
Der Boden war zum Schutz der Füsse mit Stroh bedeckt. Die Damen im Hintergrunde hatten sich kleine kupferne Wärmapparate mitgebracht und zündeten jetzt die präparierte Kohle derselben an, wobei sie sich mit leiser Stimme von den längst bekannten Vorteilen derselben unterhielten.
Endlich war der Omnibus bespannt; des schlechten Weges halber hatte man sechs Pferde statt der ursprünglich bestimmten vier genommen. »Ist alles eingestiegen?« fragte eine Stimme draussen. »Jawohl« ertönte es von innen, und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Es ging langsam, sehr langsam, in gemächlichem Schritt vorwärts. Die Räder versanken im Schnee; der ganze Kasten ächzte und krachte. Die Pferde rutschten, schnaubten und dampften. Die lange Peitsche des Kutschers knallte ohne Unterlass. Sie flog bald hier bald dorthin, ihre Schnur rollte sich zusammen wie eine Schlange, um dann plötzlich auf der Kruppe eines Pferdes wieder niederzusausen, das nun mit einem merkbaren Ruck aufs neue anzog.
Unmerklich brach der lichte Tag an. Die leichten Flocken, welche ein Reisender, ein echtes Rouener Kind, mit einem Watteregen verglichen hatte, fielen nicht mehr. Zwischen dunklen trüben Wolken zeigte sich eine matte Helle, welche die Schneefläche nur umso deutlicher hervortreten ließ, von der sich bald eine Reihe reifbedeckter Bäume, bald ein einzelnes schneebeladenes Strohdach abhob.
Beim trüben Dämmerlicht des anbrechenden morgens begann man sich im Wagen gegenseitig neugierig zu betrachten.
Ganz im Hintergrunde auf den letzten Plätzen schlummerten einander gegenüber Herr und Frau Loiseau, Weingroßhändler aus der Strasse Grand-Pont. Als sein Prinzipal seiner Zeit Bankerott machte, hatte Loiseau das Geschäft übernommen und sein Glück dabei gefunden. Er verkaufte seinen sehr schlechten Wein sehr billig an die kleinen Kneipwirte auf dem Lande und galt bei seinen Freunden und Bekannten für einen schlauen Fuchs; er war ein echter Normanne, aus List und Gutmütigkeit zusammengesetzt.
Nebenbei war Loiseau berühmt durch seine vielseitigen guten und schlechten Witze. Man hörte in der Tat nie von ihm reden, ohne dass nicht dazu gesagt wurde: »Er ist wirklich unbezahlbar dieser Loiseau.«
Sein Äusseres machte den Eindruck eines Ballons, auf dem oben auf ein rötliches, von zwei ins Graue spielenden Koteletten umrahmtes, Gesicht sass. Seine Frau, groß und stark von Wuchs, sehr energisch, mit hoher Stimme und schneller Entscheidungsgabe, war das lebendige Lager und Kassenbuch des Geschäfts, welches sie durch ihre unermüdliche Tätigkeit belebte.
Neben ihnen sass in würdiger Haltung ein Mann, der schon um eine Klasse höher galt, Herr Carré-Lamadon; ein angesehener Wollhändler, der drei Spinnereien besass. Er war Offizier der Ehrenlegion und Mitglied des Generalrats. Er war während der ganzen Zeit des Kaiserreichs Führer einer wohlwollenden Opposition gewesen, lediglich um sich wegen seiner anständigen Kampfesweise seine Nachgiebigkeit, wie er selbst sagte, umso teurer bezahlen zu lassen. Madame Carré-Lamadon, bedeutend jünger als ihr Gatte, war der Liebling der Offiziere aus guter Familie, die zu Rouen in Garnison standen. Sie sass ihrem Manne gegenüber ganz in ihr Pelzwerk gehüllt, sehr niedlich, sehr hübsch, sehr zart, und schaute betrübt in dem ungemütlichen Kasten umher.
Ihre Nachbarn, der Graf und die Gräfin Hubert de Bréville gehörten einem der vornehmsten und ältesten Geschlechter der Normandie an. Der Graf, ein alter Edelmann von stattlichem Äussern, suchte durch allerhand Toilettekünste seine natürliche Ähnlichkeit mit Heinrich den IV. noch mehr hervorzuheben. Einer Sage nach, auf welche die Familie sich sehr viel einbildete, hatte dieser König mit einer Bréville ein Kind gehabt, deren Mann dann Graf und Gouverneur der Provinz geworden war.
Graf Hubert vertrat im Generalrat, wo er mit Herrn Carré-Lamadon zusammensass, die orleanistische Partei seines Departements. Die Geschichte seiner Vermählung mit der Tochter eines kleinen Rheders zu Nantes war stets etwas dunkel geblieben. Aber da die Gräfin sehr gute Manieren besass, ein brillantes Haus machte und man sogar behauptete, einer der Söhne Louis Philippes habe ihr längere Zeit zu Füssen gelegen, so stand sie beim ganzen Adel in hohem Ansehen und ihr Salon galt als der vornehmste des Landes: als der einzige, wo man noch die alte Galanterie bewahrte und zu dem man sehr schwer Zutritt erhielt.
Die Brévilles hatten, wie man sich erzählte, fünfmalhunderttausend Livres Rente.
Diese sechs Personen nahmen, wie gesagt, den Fonds des Wagens ein; sie repräsentierten die wohlhabende bessere Gesellschaft, in der Religion und Grundsätze herrschen.
Fast sämtliche weibliche Reisende hatten zufällig die eine Bank inne. Die Gräfin hatte neben sich noch zwei Ordensschwestern, die an langen Rosenkränzen ihr »Pater noster« und ihr »Aves« herunterbeteten. Die ältere von beiden hatte ein blatternarbiges Gesicht, als wenn sie aus nächster Nähe eine volle Kartätschenladung bekommen hätte. Die jüngere, hübschere, machte einen schwächlichen kränklichen Eindruck. Ihre Brust war eingefallen und auf ihren hektischen Wangen schimmerte ein verräterisches Rot.
Ein Mann und eine Frau, die den beiden Schwestern gegenüber sassen, zogen bald die Blicke aller Reisenden auf sich.
Der Mann war der wohlbekannte Demokrat Cornudet, der Schrecken aller anständigen Leute. Seit zwanzig Jahren trieb er sich mit seinem großen roten Bart in allen demokratischen Kneipen und Zirkeln herum. Mit seinen Freunden und Brüdern hatte er ein hübsches Vermögen durchgebracht, das ihm sein Vater, ein ehemaliger Zuckerbäcker, hinterliess. Jetzt wartete er sehnsüchtig auf die Republik, die ihm endlich den verdienten Lohn für seine revolutionäre Agitation bringen sollte. Am 4. September hatte er, durch einen schlechten Witz getäuscht, sich bereits zum Präfekt ernannt geglaubt. Als er aber seine Stellung antreten wollte, verweigerten ihm die Copisten auf dem Büro, die allein noch am Platze geblieben waren, ihre Anerkennung, und so sah er sich zum Rückzug gezwungen. Von Herzen gutmütig und gefällig hatte er sich mit anerkennenswertem Eifer um die Verteidigung der Stadt bemüht. Er hatte ringsum auf allen Wiesen tiefe Löcher eingraben und mittels der jungen Bäume aus den benachbarten Wäldern überall Verhaue herstellen lassen. Auf allen Strassen legte er Wolfsgraben an, und als dann der Feind sich näherte, zog er, befriedigt von seiner Tätigkeit sich so schnell wie möglich in die Stadt zurück. Er gedachte, sich jetzt in Havre, wo es an ausreichenden Verschanzungen fehlen sollte, noch weiter nützlich zu machen.
Die Frau war eine sogenannte Allerweltsdame und ihrer hervorragenden Leibesfülle wegen berühmt, die ihr den Beinamen Fett-Kloss eingetragen hatte. Sie war klein, durchaus rund, speckig, und ihre aufgedunsenen, an den Gliedern eingekerbten Finger machten den Eindruck von aneinander hängenden Würstchen. Mit ihrer glänzenden straff gespannten Haut und einer mächtigen wogenden Brust blieb sie doch immer noch begehrenswert und appetitlich, weil der Anblick ihrer Frische einen sympathisch berührte. Ihr Gesicht glich einem roten Apfel, einer knospenden Pfingstrose, die im Begriff ist, aufzublühen. Aber da drinnen unter der Stirn leuchteten zwei prächtige Augen, von dichten schwarzen Wimpern umschattet, die das Dunkel noch vermehrten. Und weiter unten zeigte sich ein reizender kleiner Mund, zum Küssen wie geschaffen und mit zierlichen Perlzähnchen ausgerüstet.
Im Übrigen besass sie, wie man sagte, mehrere ganz unschätzbare Eigenschaften.
Sobald man sie erkannt hatte, entstand unter den ehrbaren Damen ein Geflüster und Worte wie »Prostituierte,« »öffentlicher Skandal« wurde so vernehmlich gewispert, dass sie aufschaute. Sie warf ihrer Umgebung einen so trotzigen herausfordernden Blick zu, dass sofort tiefe Stille eintrat, und jeder vor sich hinschaute. Nur Loiseau betrachtete sie mit lebhafter Miene.
Aber bald begann die Unterhaltung zwischen den drei Damen, welche sich durch die Gegenwart dieser Person unwillkürlich näher zu einander hingezogen fühlten, wieder lebhafter zu werden. Es schien ihnen, als müssten sie ihre Würde als Gattinnen miteinander vereinigen gegenüber dieser Dirne, die sich ohne Wahl an jeden verkaufte. Die legale Liebe sieht nun einmal stets mit Verachtung auf ihre freie Schwester herab.
Auch die drei Herrn, die dem Demokraten Cornudet gegenüber sich in einem gewissen konservativen Instinkt enger aneinander schlossen, sprachen über Geldsachen mit einer Art von Verachtung für die Armen. Graf Hubert erzählte von den Verwüstungen, welche die Preussen bei ihm angerichtet, von den Verlusten, die sie ihm an seinem Viehbestand zugefügt hätten und von der verlorenen Ernte mit dem Selbstbewusstsein eines zehnfachen Millionärs, der nach einem Jahr schon nicht mehr an dergleichen denken wird. Herr Carré-Lamadon, der große Woll-Industrielle, hatte die Vorsicht gehabt, sechsmal hunderttausend Francs nach England zu schicken, ein Tropfen für den Durst, den er sich für alle Fälle sichern wollte. Was Herrn Loiseau anbetraf, so hatte er es fertig gebracht, der französischen Intendantur den ganzen Rest seiner gewöhnlichen Weine, den er noch in seinen Kellereien hatte, zu verkaufen, sodass die Regierung ihm ein hübsches Sümmchen schuldete, das er jetzt in Havre zu erheben hoffte.
Alle drei warfen sich bei diesem Gespräch öfters vertrauliche Blicke zu. Wenn auch verschieden an Lebensstellung fühlten sie sich doch durch den Geldpunkt verbunden, der sozusagen die Freimaurer-Loge aller Besitzenden, aller derer ist, denen das Gold in der Tasche klingt, sobald sie darauf klopfen.
Der Wagen fuhr so langsam, dass man gegen zehn Uhr morgens noch kaum vier Meilen zurückgelegt hatte. Die Herren stiegen dreimal aus, um bergan zu Fuss zu gehen. Man begann unruhig zu werden, denn man wollte in Tôtes frühstücken und es war jetzt sehr zweifelhaft, ob man vor Abend noch dahin gelangen würde. Man sah sich gerade vergeblich nach einem Wirtshaus an der Strasse um. als der Omnibus in einem Schneehaufen stecken blieb. Es brauchte volle zwei Stunden, um ihn wieder flott zu machen.
Der Appetit wuchs und machte sich unangenehm bemerkbar. Und kein Wirtshaus zeigte sich, keine Weinschänke stand offen, da infolge des Anmarsches der Preussen und des Durchzuges der ausgehungerten französischen Truppen alle derartige Geschäfte geschlossen waren.
Die Herren liefen um irgendwelche Nahrungsmittel in die Gehöfte an der Strasse, aber es war nicht einmal Brot dort zu erlangen. Denn die misstrauischen Landleute hatten ihre Vorräte aus Furcht vor den plündernden Soldaten verborgen, die in ihrem Hunger alles, was sie entdecken konnten, gewaltsam an sich nahmen.
Gegen ein Uhr Mittags erklärte Loiseau, dass er entschieden einen ganz abscheulichen Magenschmerz verspüre. Allen übrigen ging es nicht besser, und der heftige Essensdrang hatte schliesslich jede Unterhaltung zum Schweigen gebracht.
Von Zeit zu Zeit fing einer an zu gähnen, und ein anderer folgte ihm darin sofort. Und der Reihe nach öffnete jeder, je nach Charakter, Lebensart und sozialer Stellung entweder geräuschvoll oder leise den Mund, um dann schnell mit der Hand die Öffnung zu bedecken, aus der ein warmer Hauch entströmte.
Fett-Kloss hatte sich mehrmals vorgebeugt, als sehe sie nach irgendetwas unter ihren Röcken. Sie zauderte einen Augenblick, blickte ihre Nachbarin an, und richtete sich dann ruhig wieder auf. Die Gesichter der Reisenden waren bleich und verzerrt Loiseau schwor, dass er tausend Francs für ein Schinkenbrötchen geben würde. Seine Frau machte eine Gebärde, als wollte sie etwas einwenden; aber sie beruhigte sich wieder. Sie litt immer darunter, wenn sie von Geldverschleuderung reden hörte; selbst ein Scherz über diesen Gegenstand war ihr verhasst. »Ich fühle mich tatsächlich unwohl; wie konnte ich nur vergessen mir was zum Frühstücken mitzunehmen?« diesen Vorwurf machte sich jeder einzelne im Wagen.
Cornudet hatte allerdings eine Feldflasche voll Rum bei sich. Er bot dieselbe herum, aber man dankte ihm kühler Zurückhaltung. Nur Loiseau nahm einen Schluck. »Das tut auf alle Fälle gut«; sagte er die Flasche mit Dank zurückgebend »es wärmt und vertreibt den Hunger.« Der Alkohol machte ihn guter Laune und er schlug vor, es zu machen wie die Schiffbrüchigen und den wohlgenährtesten Passagier aufzuessen. Diese deutliche Anspielung auf Fett-Kloss missfiel den wohlerzogenen Leuten, und es antwortete ihm niemand; nur Cornudet lächelte. Die beiden Ordensschwestern hatten mit dem Rosenkranz-Gebet aufgehört. Sie sassen regungslos, die Hände in ihren weiten Ärmeln vergraben und der Blick hartnäckig zur Erde gesenkt. Ohne Zweifel opferten sie dem Himmel ihr Leid auf.
Endlich gegen drei Uhr, als der Wagen durch eine endlose Ebene fuhr, auf der weit und breit kein Haus zu entdecken war, bückte sich Fett-Kloss hastig und zog unter der Bank einen umfangreichen Korb hervor, der mit einer Serviette bedeckt war.
Sie entnahm demselben zunächst einen Porzellanteller, einen zierlichen silbernen Becher, dann eine große Terrine, in welcher zwei ganze in Gelee eingemachte Hühner waren. Ausserdem bemerkte man in der Tiefe des Korbes noch allerlei leckere Sachen verpackt, Pasteten, Früchte und Eingemachtes; kurz es war ein Reisevorrat für reichlich drei Tage, ohne eine Wirtshausküche in Anspruch nehmen zu müssen. Sie holte sich ein Hühnerflügelchen heraus und begann dasselbe zu einem jener Brödchen, die man in der Normandie »Regence’s« nennt, zierlich zu verspeisen.
Aller Blicke waren auf sie gerichtet. Der leckere Duft verbreitete sich mehr und mehr und kitzelte den Geruchssinn der Mitreisenden, deren Mund unwillkürlich wässerig wurde, während die Kinnladen sich schmerzhaft zusammenzogen. Der Abscheu der Damen gegen diese Dirne steigerte sich zur völligen Wut; man hätte sie am liebsten umgebracht oder sie samt ihrem Becher, ihrem Korb und ihren Esswaren zum Wagen hinaus in den Schnee geworfen.
Loiseau verzehrte indessen die Hühner-Terrine mit seinen Blicken. »Madame sind vorsichtiger gewesen, als wir übrigen,« sagte er. »Es gibt eben Damen, die an alles denken.« Sie sah zu ihm auf. »Wenn Sie Lust haben, mein Herr«; sagte sie »es ist fatal, wenn man von früh morgens an nichts zu essen hat.« Er verbeugte sich. »Meiner Treu, wenn ich offen sein soll, so nehme ich dankend an; ich kann mir nicht mehr helfen. Im Kriege muss man wie im Kriege leben, nicht wahr, Madame?« Dann blickte er um sich. »In solchen Augenblicken ist man froh, so zum Danke verpflichtet zu sein.« Er breitete eine Zeitung auf dem Schosse aus, um seine Beinkleider nicht zu beflecken und entnahm mit der Spitze seines Taschenmessers ein ganz in Gelee gehülltes Stück, zerriss es mit den Zähnen und kaute es mit solchem Wohlgefallen, dass seine Reisegefährten ihn mit Abscheu betrachteten.