Fahrt und Fessel

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Drüben im Westen aber, in dem Lande, das hinter den springenden Wogenkämmen nun langsam versank, fernab vom Meere und seinen fremden Einflüssen, dehnte sich der Bogen der Übergänge vom Balkan bis zum Herzen Deutschlands, ein rhythmischer Fluß von Harmonien, ein ewiges Stirb und Werde.


Ostpontisches Gebirge bei Trapezunt.


Griechischer Friedhof in Trapezunt.

Zweiter Teil.

Anatolien.

Forschung und Finsternis.

- Im ostpontischen Gebirge. -

Sechs Wochen fast mußte ich in Konstantinopel warten, bis das Motorrad von Budapest kam. Doch diese Zeit war reichlich ausgefüllt; ich befaßte mich mit Türkisch und Russisch, holte mir in einem Abstecher nach Angora die Bewilligung und besondere Empfehlungen zu meinen Studien im Ostpontus ein, war für meine deutschen Auftraggeber geschäftlich tätig und schrieb Abhandlungen, um meiner Reisekasse Einnahmen zuzuführen. Dazwischen aber streifte ich immer wieder durch die Stadt, deren Wunder Jahre des Schauens nicht erschöpfen können. Angora, das jüngst noch so kümmerliche, im anatolischen Ödland, ist die verkörperte Macht eines starken Willens, des Willens einer erwachten Nation; Konstantinopel aber, das reiche, bunt schillernde Sprachenbabel an der Grenze, kann keine Formel, kein Begriff voll umfassen. Langsam nur lernt man in den tausendfach abgestuften Nuancen seines Wesens, im Komplexe seiner zahllosen Einzelbegriffe den durchgehenden Dualismus sehen: Pera, steinerne Springflut von Wolkenkratzern, lautes Europäertum, vom Levantiner jeder Kultur beraubt, auf den Stelzen einer Talmizivilisation stolzierend, und Stambul, besonders jenseits des Bosporus in Skutari, versteckt in winkligen Gäßchen, geschart um Moscheen, reinster Orient, mit seinen schiefen Holzhäuschen, Ruinen und Brandstätten in haltloses Nebeneinander zerflatternd. Brücke zwischen Europa und Asien, selbst beide Welten rein in sich umfassend, macht das dualistisch gespaltene Konstantinopel dem Fremden die Grenze von Kontinenten zum Erlebnis.

Es war Januar geworden, als Beschkow, der inzwischen nachgekommen war, und ich mit Rad und Gepäck den Dampfer nach Trapezunt bestiegen. Im Süden schimmerte licht das Marmarameer, ein Spiegel von flüssigem Silber, in scharfen Konturen von den Prinzeninseln überragt; wir aber wandten uns nach Norden, dem Pontus Euxinus zu. Die Sonne Homers versank.

Am Abend lag die weite Wasserfläche vor uns. Das Schiff glitt nicht mehr ruhig im Strome des Bosporus, sondern wurde von dunklen Wellen geschaukelt, die sich als gischtweißes Band an der Steilküste brachen. Und so steil und tief tauchten die Felsen hier ins Meer, daß sich der Dampfer stets in unmittelbarer Landnähe halten konnte. Greifbar zeigte sich uns der Küste spärliches Leben, ein Haus am Hang, Gebüsch an der Berglehne, ein schaukelnder Fischerkahn und selten nur eine Ortschaft. Immer aber glitten die stillen Berge an uns vorüber, kulissenartig in reich variierten Formen ewig neu aufsteigend, buschgrün am Hang und schneeig am Gipfel. So blieb es Tage und Nächte hindurch. Als einzige Veränderung in der ungeheuren Konstanz sahen wir, daß die Schneegrenze, die das aufstrebende Gebirge mit mathematischer Schärfe in zwei horizontale Schichten von Grün und Weiß zerschnitt, sich mählich nach Osten zu hob und sich auch Vegetation und Formen belebten. So kündete sich die Nähe des gesegneten Kolchis an, dem wir zustrebten.

Der erste Eindruck von Trapezunt ging in technisch nüchternen Problemen unter; ich mußte mit unverschämten Bootsleuten um einen erträglichen Überfahrtspreis feilschen, ich verfolgte mit tausend Ängsten die Ausbootung von Rad und Beiwagen, und als ich dann das Gepäck zu dem empfohlenen Hotel führte, erfüllte mich die feste Gewißheit, daß ich nun ein Land betreten hätte, wo ich für Wochen und Monate kein deutsches Wort mehr hören würde. Doch schon beim Abladen des Gepäcks, nachdem ich dem Hoteldirektor in stockendem Französisch die ersten Weisungen gegeben hatte, überraschte mich die lächelnde Erwiderung: »Wollen Sie nicht bei Ihrer Muttersprache bleiben? Ich bin Deutsch-Russe!« Und in diesem Augenblick kam, gefolgt von einem bärtigen Herrn, ein kleiner Junge die Treppe herabgesprungen: »Vater, ein Motorrad ist angekommen; das muß ich Mutti erzählen!« So konnte ich am selben Abend noch mit der Familie des deutschen Ingenieurs die Gründung einer deutschen Kolonie in Trapezunt feiern.

Neben kleinen Orientierungsfahrten waren die ersten zwei Tage der notwendigsten Erfordernis zum bevorstehenden Aufbruch gewidmet, dem Umpacken meiner Habe. Ehrlich ermüdet ruhten wir nach dieser Vorbereitungsarbeit in unserem Nordwestzimmer aus, als uns mitten in der Nacht ein helles Klirren erschreckt auffahren ließ: ein heftiger Windstoß hatte unsere Fenster eingedrückt, und während draußen Blitz und Donner wüteten, fegten Schnee und eiskalte Luft über unsere sommerlichen Lager.

Auch der Tag brachte keine Änderung; ununterbrochen tobte der Sturm, der nachts in plötzlichem Umschlag eingesetzt hatte, und trug neue Schneemassen von Nordwesten heran. Seit fünfzehn Jahren hatte Trapezunt kein solches Unwetter erlebt. Schiffe wurden an der Küste zerschmettert, und Karawanen blieben im Schnee stecken, alle Post und Güterlieferungen stockten plötzlich, so daß bald schon die Verpflegung in der Stadt Schwierigkeiten machte. Unsere Kolonie aber war plötzlich zu stattlicher Größe angewachsen; denn mit den letzten Dampfern waren noch eine deutsche Dame aus Konstantinopel und ein Leipziger Ehepaar angekommen, die hier zu unfreiwilliger Rast gezwungen wurden. So hockten wir, ein wenig verfroren, aber doch höchst vergnügt, im Salon, dem einzig warmen Raum des Hotels, zusammen, bis endlich nach einer Woche der einsetzende Ostwind den Himmel reinfegte. Schaukelnd und schlingernd liefen die ersten Schiffe ein, die in geschützten Buchten einen Unterschlupf gesucht hatten, das Geläut der Messingglocken verkündete die Ankunft der Karawanen, und damit setzte auch für die Menschen in Trapezunt das gewohnte Arbeitsleben wieder ein. Für mich aber blieb die Katastrophe des Unwetters von nachhaltender Wirkung; denn rings lag das Land unter einer tiefen Schneedecke begraben, so daß ich keine Möglichkeit hatte, meine Forschungen zu beginnen, und mich auf das Studium der Stadt beschränkt sah.

Das Liebliche an Trapezunt ist seine Lage am Meer, zwei Bogen, dicht ans Wasser geschmiegt und in ihrem Schnittpunkt durch ein Kastell betont, das vor 500 Jahren die Genueser ausbauten. Das Reizvolle ist sein Aufbau, Häuserzeilen, von Terrasse zu Terrasse geschwungen bis zum Steilabsturz des beschirmenden Boztepe, dessen Trapezform der Stadt den Namen gab. Das Interessante an Trapezunt aber ist sein doppeltes Gesicht, ein Stempel der Völkergeschichte, der das Wesen der Stadt bis ins kleinste bestimmt. Sieht man von den südlichen Höhen auf Trapezunt hinab, so kann der Blick das Gewirr von kleinen Häuschen, deren graue und weiße Wände in der Sonne spiegeln, in seiner Fülle kaum entwirren; denn die Stadt neigt sich schräg vom Beschauer. Zu Füßen drängen sich ein paar ärmliche Türkenhäuschen, stocklos, aus ungebrannten Ziegeln oder aus Holz; ihren Komplex überragend, wölbt eine Moschee die schwere Kuppel und schießt gleich Pfeilen die Minaretts zum Himmel. Unten am Strand aber scharen sich wesensfremde griechische Häuser um eine Kirche. Dunkles Grün legt sich mildernd zwischen die Reihen von hartem Weiß und Grau, Busch und Wiese, Rhododendron und Hasel, Pinien und vereinzelte Fichten. Rechts leuchten die verschneiten Alpen Lasistans, strahlendes Weiß, rosenrot von der Sonne behaucht, und vorn dehnt sich weithin das Meer, dessen Horizont auch heute noch der lichtviolette Schleier des feuchten Kolchis umwallt. Dies ist der Blick aus dem Orient heraus. Reizvoller noch ist der Blick in den Orient hinein, die Sicht vom Meere auf die Stadt. Dann steht dir die Sonne gegenüber, malt Kringel im spiegelnden Meer, und die Stadt vor dir, von Stufe zu Stufe steigend, gleicht einem expressionistisch aufgeschlagenen Bildraum mit erhöhter Perspektive. Die Schatten der Terrassen und Häuser überzieht der Sonnendunst des Gegenlichtes, und all die Firste der breiten Giebel tragen einen Heiligenschein. Hier bilden luftig-lichte Griechenhäuschen mit Stock und Fensterläden die Front, dazwischen liegen einige Bauten im Ernst genuesischer Frührenaissance, und auf meerbespültem Fels thront eine Kathedrale. Weiter und höher erst beginnen die Türkenhäuschen, die Moscheen und das Grün der Friedhöfe. Das Ganze gleicht einem unwirklich schönen Traumbild mit phantastisch hohem Horizont. Am schmalen Strande aber, in den schwarzen Sanden aus Augiten und Hornblenden lagern zu Hunderten die Kamele, blasiert und träge, Zeugen einer fernen Welt.

Fast senkrecht werden die Höhenschichten der Stadt in der Breite von zwei Flüssen geteilt, die einen schmalen Mittelteil herausschneiden: Alt-Trapezos mit seinen Ruinen, brüchigen Wehrmauern und zerfallenden Komnenenpalästen aus jener Glanzzeit, da hier ein Kaiser herrschte, ehe die Stadt als letzte Kleinasiens sich vor dem Halbmond beugte.

Daß Trapezunt, einem Ianuskopfe gleich, nach zwei Seiten ein verschiedenes Gesicht zeigt, ist das Werk der Geschichte, der wiederum der Zwang von Raum und Lage die Richtlinien gab. Denn die Stadt liegt am Kopfe jener uralten Straße, die sich vom Meere, in der Schlucht des Dermenderesu, des Mühlenbaches, ansteigend, über den Ziganapaß nach Baiburt und Erzerum hin öffnet. Als bequemster Übergang über das Randgebirge sammelt der Zigana den ganzen Verkehr, der vom nordöstlichen Anatolien zur Küste strebt, ja, er erstreckt selbst seine Reichweite bis nach Persien hinein, da sich der Weg von Erzerum, durch Becken vorgezeichnet, bis nach Täbris hin fortsetzt. Darum lockte es von jeher die seefahrenden Nationen, Phönizier, Griechen, Genueser und Venezianer, nach Trapezunt, das sich zu einer mächtigen Handelsstadt entwickelte, während auch aus Innerasien die Völker nach diesem Küstenpunkte strebten. War es auch jeweils der Stärkere, welcher der Stadt sein typisches Gepräge gab, so wirkte doch still der Einfluß des Unterlegenen fort, um bei einem neuen Siege neu zu wachsen. Dadurch entstand der levantinisch-orientalische Mischtyp in Trapezunt.

 

Wer je auf der alten Handelsstraße diese Kopfstation am Schwarzen Meere erreichte, sei es ein müdes Heer von 10.000 Griechen, seien es Sultan Mohammeds Kriegerscharen, sei es der wettergebräunte Karawanenführer, der dreimal jährlich Persiens Schätze auf glockenbehangenen Kamelen bringt, seien es die tatarischen Bauern Aserbeidschans mit ihren Ernteprodukten auf derben Ochsenkarren, seien es Kurden aus dem persisch-türkischen Grenzland oder Türken des südlichen Anatoliens, alle, die aus der lichten Leere des Ostens und Südens kommen, grüßen die Stadt am Meere unter dem grünen Pontuswall, als hätten sie das Paradies gefunden. Das ganze Jahr lang zieht es hier hinauf in die Berge und herab zum Meere, Menschen fremder Stämme, Tiere fremder Länder und Gefährte fremder Arten; und all dies läßt dem, der den schmalen Randgarten zwischen Fels und Wogen nie verlassen hat, eine Ahnung von der fremden Welt jenseits der Berge erwachen, von der Welt der Wüsten und Steppen, die keinen Horizont haben.

Ein erster Versuch, über den mäßig hohen Boztepe hinauszudringen, schlug mir fehl; denn zu tief noch lag das Gebirge im Schnee begraben, unter dessen Lasten sich selbst hier unten, in der »Riviera des Schwarzen Meeres«, die immergrünen Pflanzen und die zitronen- und orangenbeladenen Bäume noch ächzend bogen. So kehrte ich in das Gefängnis der Stadt zurück und schritt mit Kompaß und Notizbuch die Straßen ab, um einen Plan des doppelgesichteten Siedlungstyps aufzunehmen. Bald waren es weite Straßen, in Märkte ausmündend, die von den heute leerstehenden griechischarmenischen Häusern begrenzt wurden, bald waren es die Gassen und Gäßchen des Türkenviertels, die sinnlos in den schiefsten Winkeln umsprangen, um dann plötzlich, als sähen sie die geringe Berechtigung ihrer Existenz ein, in engem Sack zu enden. Vor allem aber zeigte sich der Mischtyp darin, daß die Basarstraße, die sich langgezogen vom Zentrum der Stadt zu den Fischständen am Wasser senkte, nicht mit der verkehrführenden Hauptstraße zusammenfiel.

Was ich über Tag auf meinen Gängen vermessen und notiert hatte, trug ich abends in den großen Plan ein. Je interessanter mir aber meine Arbeit erschien, desto mißtrauischer überwachte mich das Auge der Lokalbehörden, denen mein Tun so völlig unverständlich blieb, daß sie schließlich in mir einen russischen Spion argwöhnten. Bald hatten sie mich überall als einen solchen verschrien, ohne daß meine Empfehlungen aus Angora die steten Verdächtigungen zu zerstreuen vermochten. Dazu kam ein neues Unglück: schon jetzt, ehe unsere eigentlichen Studien beginnen konnten, erhielt Beschkow den Befehl, die Türkei innerhalb von drei Tagen zu verlassen, da Anfang Februar die Aufenthaltsfrist von zwei Monaten abgelaufen war, die man Bulgaren zugestand. Briefe und Depeschen nach Angora blieben in dieser kurzen Frist ohne Antwort, und meine Besuche im Wilajet nützten erst recht nichts, da der Wali, hinter den Erlaß der Regierung verschanzt, den Spion achselzuckend abwies. So kam der Abend vor Beschkows Zwangsausweisung; in deprimiertem Schweigen saßen wir über den Zeichentisch gebeugt, um den großen Stadtplan ins Reine zu übertragen, als ein Verwaltungsbeamter im Vorübergehen auf die Zeichnung aufmerksam wurde und sich davon so entzückt zeigte, daß er eine Kopie für die Stadtverwaltung erbat. Da sah ich einen Ausweg: ich erklärte, daß ich an sich gern bereit sei, der Stadt meinen Plan zu schenken, daß ich ihn leider aber ohne Beschkows Hilfe unmöglich vollenden könne. Sofort versprach uns der Beamte, in Angora eine verlängerte Aufenthaltsgenehmigung erwirken zu wollen, und am nächsten Morgen schon kam vom Wilajet eine Verfügung, in der die provisorische Verlängerung der Gnadenfrist bis zum Eintreffen des Entscheides aus Angora gewährt wurde. Daß dieser aber günstig ausfallen mußte, wußte ich im voraus, und so konnten wir endlich wieder mit neuen Hoffnungen an unsere Reisen ins Land denken. Bis zur Ankunft der endgültigen Antwort aus Angora freilich hatte Beschkow Stadtarrest.

So vergebens ich mich stets um die Gunst des Wali mühte, so überraschend leicht gelang es mir übrigens, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Dies begann damit, daß kurz nach meiner Ankunft schon ein Angestellter des Hotels, der an jener bösen, im Orient so verbreiteten ägyptischen Augenkrankheit litt, beim Aufräumen des Zimmers meine kleine Reiseapotheke entdeckte und mich neugierig fragte, ob ich denn ein Arzt sei und ein Mittel gegen seine Krankheit wüßte. Durch ein paar Einspritzungen hatte ich dem Manne leicht geholfen und hielt diese Angelegenheit damit für erledigt; der Diener aber pries mich in seiner Dankbarkeit überall als einen berühmten Augendoktor. Natürlich verfehlte seine Begeisterung ihre Wirkung nicht; denn täglich kamen nun Türken zu mir ins Hotel, die vertrauensvoll alle Augenleiden von der leichtesten Lidentzündung bis zum schwersten Star durch mich geheilt haben wollten. Trotz meiner instinktiven Abneigung gegen solch eine aufgezwungene Praxis sah ich doch bald ein, daß ich in vielen Fällen wirklich Hilfe zu bringen vermochte und außerdem bei den Untersuchungen Gelegenheit zu anthropologischen Vermessungen fand; denn so sehr es sonst dem Empfinden des Mohammedaners zuwiderläuft, vor dem Ungläubigen das Haupt zu entblößen oder sich gar von ihm abtasten zu lassen, so hielten mir die Patienten in diesem Fall doch geduldig still, da sie überzeugt waren, daß sich die Zahl der notwendigen Augentropfen am besten aus der Bestimmung der Schädelweite berechnen ließe. So übte ich denn meine Praxis aus, beobachtete jedoch, da ich mir der schweren Ansteckungsgefahr wohl bewußt war, die peinlichste Sorgfalt in allen Schutzmaßnahmen. Und dennoch geschah es, daß ich mir selbst dabei in einer unbedachten Augenblickshandlung ein Leiden zuzog, das schmerzlich tief meinen ganzen Aufenthalt in der Türkei bestimmen sollte: ich behandelte damals einen Trachomkranken, bei dessen hartnäckiger Entzündung es mir erst spät gelang, eine Besserung zu erzwingen; damit nun die empfindlichen Augen des Patienten durch den ungewohnten Anblick des Schnees nicht wieder erkrankten, riet ich, sie durch eine leicht angerußte Autobrille zu schützen. Bei der nächsten Untersuchung sah auch ich zur Probe hindurch, und damit begann mein Verhängnis.

Denn seit jener Zeit peinigte mich ein Augenleiden, das mich Monate hindurch nicht wieder verlassen sollte. Vorläufig behandelte ich es selbst, ohne mich dadurch in meiner gewohnten Arbeit stören zu lassen und ohne zu ahnen, wie bald es mir das Land meiner Forschung völlig verfinstern sollte.

Indessen schmolz der Schnee unter der stärker werdenden Sonne, und ich beeilte mich, seiner steigenden Grenze nachzurücken. An größere Reisen zwar war, zumal Beschkow noch immer Stadtarrest hatte, nicht zu denken, doch konnte ich immerhin schon in Tagesausflügen wagen, die Umgebung von Trapezunt morphologisch zu untersuchen. So holte ich das Motorrad aus dem Dunkel der Garage und fuhr mit ihm die Straße zum Ziganapaß hinauf. Nach kurzem Anstieg freilich schon mußte ich die Fahrt in den immer dichter gehäuften Schneemassen abbrechen; allein zu Fuß konnte man sich weiter wagen, und so kletterte ich jenseits der Straße die Steilhänge des Dermendere hinauf. Als Material für meine geologischen Kartierungen sammelte ich Gesteinsproben, bis zu tausend Meter Höhe stieg ich, um die komplizierten Terrassenbildungen zu untersuchen, durch Täler und Schluchten verfolgte ich die Wasserläufe bis zu ihren Quellen auf den Höhen, und spät am Abend erst kehrte ich mit schwerem Rucksack zur Maschine auf die Straße zurück. Doch täglich mußte ich meine Ausflüge eher abbrechen; denn so sehr ich meine Kräfte zusammenriß, um sie alle in den Dienst meiner Aufgabe zu stellen, spürte ich doch immer deutlicher, daß ich rein physisch den Anforderungen dieser Forschungszüge nicht gewachsen war. Damals faßte ich zum erstenmal den Entschluß, mir das Rauchen abzugewöhnen. Seitdem fühlte ich mich den Mühen der Forschungszüge weit mehr gewachsen. Nur meine Augen wurden fast stündlich schlechter.

Endlich schien uns das Unglück zu verlassen; Beschkow erhielt die Aufenthaltsgenehmigung und konnte nun zum erstenmal an einem meiner Tagesausflüge teilnehmen. Wir hatten beschlossen, daß dieser Tagesmarsch zum Dermendere zugleich der letzte sein sollte; denn ich hatte inzwischen die Umgebung gut kennengelernt und konnte nun an eine größere gemeinsame Reise denken. Sonnenglitzernd lag das Land vor uns; zum erstenmal atmeten wir frei, da nun alle Hindernisse überwunden schienen. Und dennoch brach am selben Tage ein neues Verhängnis über mich herein: früh waren wir aufgebrochen, am Mittag schon schmerzten meine Augen brennend, am Nachmittag behauptete Beschkow scherzend, ich hätte Augen vom Rot eines Albino, und von der sinkenden Sonne sah ich dann nichts mehr als einen matten Schein hinter dichten Nebelschleiern.

Teuer mußte ich diese Fahrt bezahlen. Eine Woche lang lag ich im verdunkelten Zimmer und verfluchte den unheilvollen Zufall, der mich um einen Augenblick der Unvorsichtigkeit so lange vom lichten Leben ausschloß. Um mich gewaltsam von dem schmerzlichen Gedenken an die verlorene Arbeitszeit im sonnbeglänzten Lande draußen abzulenken, überdachte ich immer von neuem meinen Stadtplan. Wie war mir anfangs sein Bild abstrus erschienen, wie willkürlich und unsinnig das Durcheinander der geraden Straßen und winkligen Gäßchen! Analysierte ich es nun jedoch scharf nach dem Anteil, den in verschiedener Intensität und Größe die einzelnen Faktoren an seiner Ausbildung hatten, die natürlichen Gegebenheiten der Lage, des Meeres und der Terrassen, die Einflüsse der Geschichte, des ständigen Verkehrs, die Lebensgewohnheiten der jeweils herrschenden Völker, dann plötzlich lichtete sich dem Geiste das chaotische Dunkel. Ich erkannte, wie sich in fast mathematisch gesetzmäßiger Eindeutigkeit gerade dieses Resultat aus dem Zusammenwirken der Einzelfaktoren ergeben mußte. So sah die Erkenntnis hinter dem Zufall die Notwendigkeit. Und die Randketten des Pontus? Würden nicht auch sie, die mir während der Küstenfahrt noch als ein gigantisch getürmtes Spiel des Zufalls erschienen waren, mir in wenigen Wochen der Arbeit die großen Gesetze enthüllen, aus denen ihre Form notwendig herausfließt? Denn Zufall ist nur eine Notwendigkeit, deren Gesetze wir nicht kennen. Und so lernte ich allmählich, mich dem verhängnisvollen Zufall meiner Krankheit still beugen.

Nach meiner Genesung bedachten wir die Möglichkeiten der Landreise. Noch lag der Schnee im Gebirge. Auch waren Tragtiere für uns zu teuer; darum entschlossen wir uns, ein Boot zu mieten, um damit längs der Küste nach Osten zu fahren und dabei Stichfahrten ins Landinnere zu unternehmen. So rüsteten wir denn zur Meerfahrt. Als erstes Hauptstück erstanden wir dazu ein billiges Zelt der verunglückten Schmudeschen Expedition. Dann gingen wir auf die Suche nach einem Schiff. Mußten wir auch unsere Träume von einem Motorboot unverwirklicht lassen, so fanden wir doch bald einen Kahn, der außer zwei Ruderern und uns noch das notwendigste Gepäck fassen konnte. Und bei der Lösung all der fremden nautischen Probleme, vor die ich mich jetzt plötzlich gestellt sah, fand ich eine tüchtige Hilfe in dem Père der kapuzinischen Mission. Dieser Mann, der klar sah, daß im Orient nur der geistliche Mission treiben kann, der zugleich eine kulturelle Aufgabe zu erfüllen hat, war allgemein wegen seines reichen Wissens und seiner großen Hilfsbereitschaft beliebt. Auch mich überraschte er mit einem Geschenk aus seiner technischen Schatzkammer: mit einem Motor. Von glücklichem Eifer erfüllt, bauten wir diese kleine Kostbarkeit ein, takelten das Schiff neu auf, strichen es leuchtend weiß an und malten endlich noch in stolzen Steillettern »Kreuzer Leipzig« auf die Planken. Dann wurden die Wimpel der Leipziger Messe gehißt, und nun konnte der Stapellauf erfolgen. Unter vollzähliger Beteiligung der deutschen Kolonie, es waren gerade drei Durchreisende in Trapezunt, und angesichts einer Menge ungeladener Neugieriger stach unser Kreuzer in See. Aber leider kamen wir nicht weit; denn so gern sich der Motor im Stapellauf hatte treiben lassen, so wenig zeigte er sich gewillt, das Boot nun selbst zu treiben. Schmunzelnd ruderten uns die beiden Türken zurück an Land, wo der Motor zerlegt und untersucht wurde. Doch kein Rat und keine Hilfe sämtlicher Sachverständigen von Trapezunt vermochte dies amerikanische Erzeugnis noch einmal in Betrieb zu setzen. Und so blieb »Kreuzer Leipzig« trotz seiner prunkvollen Aufmachung, was er vor seiner Taufe gewesen: ein Ruderboot mit dünnem Rahsegel an schwankem Fichtenmast, in dem wir nun langsam nach Osten zogen.

 

Da ich überzeugt war, daß eine Landstufe im Meer versunken sein mußte, versuchte ich mit einem primitiven Lot die Tiefenverhältnisse an der Küste zu bestimmen. Freilich schwankte unsere Nußschale im wildbewegten Meere so heftig, daß mich eine größere Woge oft mitsamt meinem Lote über Bord spülte. Und wenn ich endlich mit Schwimmen und Prusten den Kreuzer wieder erreicht hatte, empfing mich der bleiche Beschkow mit der wehmütigen Frage: »Schaukelt’s da draußen auch so wie hier drinnen?« Und mit resigniertem Kopfnicken hockte ich neben ihm nieder, durchfroren und seekrank.

Oft landeten wir, um Stichreisen in das Innere oder längs der Küstenberge zu unternehmen und erst am nächsten Tage weiter über das winterliche Meer nach Osten zu schaukeln. Dann kam ein Morgen, wo das Barometer bedenklich tief stand und auch unsere Seeleute, in der Luft schnuppernd wie Spürhunde, zweifelnd den Kopf schüttelten. Immerhin hofften wir noch im Ostwind bis zum nächsten Lagerplatz zu kommen. Kaum aber waren wir draußen auf dem Wasser, so fiel das geblähte Segel schlaff herab, um dann im Spiel der Gegenwinde unruhig hin und her zu flattern; noch zogen die Wogen nach Westen, doch schon legte der einsetzende Sturm ihre Kämme um, so daß sie eine gischtweiße Fläche bildeten. »Das Meer blüht!« sagte unser KapitänSteuermann mit nachdenklichem Kopfwiegen. Und sofort fegten von Westen die scharfen Stöße des Sturmes in immer kürzeren Abständen heran, bis sich unser Boot fast flach aufs Meer legte und an den Bordseiten trotz der erhöhenden Bretter, die wir schleunigst aufsetzten, immer wieder Wasser schöpfte. Doch während nun »Kreuzer Leipzig« wie ein verwehtes Blatt inmitten der heulenden Elemente tanzte, blieben unsere Seeleute unerschütterlich ruhig. Wortlos bedeuteten sie uns, nach den Rudern zu greifen, und begannen dann zu kreuzen, verwegen und vorsichtig zugleich, bis wir am Ziele waren. Schon zogen sie die geseiften Balken hervor, über die das Boot an Land gezerrt werden mußte, und strichen das Segel, als ein heftiger Windstoß das Heck des Schiffleins auf den Sand warf, so daß die Brandung über Gepäck und Mannschaft hereinbrach. Entsetzt sprang ich ins Wasser, das mir in eisiger Kälte fast die Haut zerschnitt und weiße Schaumfetzen um den Kopf warf; mit voller Gewalt stemmte ich mich gegen das schiefliegende Boot und schob es mit aller Kraft mählich in die offene See zurück, bis es sich in der üblichen Weise an Land ziehen ließ.

Triefend und halb erstarrt vor Kälte, empfand ich nur den einen Wunsch, die Kleider wechseln und vor einem warmen Feuer ausruhen zu können. Doch jetzt folgte erst des Trauerspiels zweiter Teil: das Aufschlagen des Zeltes. Heulend griff der Wind in die gespannten Blätter, so daß die Pflöcke der Haltetaue immer wieder aus dem Boden sprangen. Und wären uns nicht Leute aus dem Nachbardorf zu Hilfe geeilt, so hätten wir wohl die ganze Nacht im Freien sitzen müssen.

Und weiter ging es nach kurzen Studienzügen nach Osten. In Syrmene wurde zum ersten Male längere Station gemacht. Während die beiden Seeleute beim Boot blieben, stiegen wir ins Gebirge, wo wir bei einem türkischen Freund unser Lager aufschlugen. Lange studierten wir die komplizierte Tektonik des Gebietes, das durch heftige Erdbewegungen verworfen und zerklüftet war. Nach Tagen erst kehrten wir zu unserm Boot zurück, das uns nun zum nächsten Seitental bringen sollte. Friedlich hockten vor dem Zelt unsere Schiffer mit einem Soldaten zusammen, der bei unserem Nahen nicht im geringsten an ein Fortgehen zu denken schien. Freundlich lächelnd stellte er sich als unser künftiger Begleiter vor, indem er uns ein Schreiben vom Wali von Trapezunt überreichte, das Verbote über Verbote enthielt. Da war verboten, ohne den Bewachungssoldaten in das Land zu gehen, verboten war jede Kartierung, jede photographische Aufnahme, verboten war uns sogar, mehr als das zur Reisetechnik Notwendigste mit den Eingeborenen zu reden. Und unser wackerer Gendarm nahm es mit seinem Befehl sehr ernst. Er lief uns auf beschwerlichen Pfaden und weglosen Hängen nach wie ein treuer Hund, er verhinderte uns mit drohenden Worten an jeder Aufnahme und betrachtete selbst die Gesteinsstücke, die ich unterwegs mitnahm, erst argwöhnisch von allen Seiten, ehe er mir erlaubte, sie in den Rucksack zu stecken. So konnten wir natürlich zu keiner fruchtbaren Arbeit kommen; doch all meine Beschwerden wies man achselzuckend mit dem Hinweis auf den Befehl des Wali von Trapezunt zurück. Schlimmer noch war, daß nicht einmal unsere Bootsleute mehr unseren Befehlen gehorchten. Wollten wir das Lager in einem interessanten unbewohnten Tal aufschlagen, so legten sie unter tausend törichten Ausreden bei einer Siedlung an und waren weder durch Bitten noch durch Drohungen zur Weiterfahrt zu bewegen, bis mir der eine heimlich gestand, er hätte die strikte Weisung erhalten, nur dort zu landen, wo eine Gendarmeriestation in unmittelbarer Nähe sei. Und stets nach unserer Ankunft meldete sich auch ein neuer Soldat, dessen Diensteifer durch die Freude, sich vor Europäern wichtig machen zu können, noch erheblich gesteigert wurde.

Wir mußten uns ins Unvermeidliche schicken. Zudem hinderte uns ein neues Unwetter an weiteren Streifzügen. Tage hindurch heulte der Wind und ließ den Regen monoton auf die Leinenwände unseres Asyls trommeln. Das Unwetter hielt uns gefangen. Doch das Zeltleben war reizvoll und keineswegs langweilig, da wir ja Arbeit im Überfluß hatten. War unser gestrenger Herr Wachtmeister anwesend, so schrieben wir Artikel und Berichte, die er zwar auch nicht verstand, die jedoch so wenig Material brauchten, daß sie ihm nicht anstößig erschienen. Kaum aber wandte der Brave den Rücken, um auf einem Gang ins Dorf den steifen Gliedern ein wenig Bewegung zu schaffen, so holten wir unsere Skizzen und Aufnahmen hervor, um das am Wege flüchtig Eingetragene auszuarbeiten. Dabei sah ich mit Schrecken, wie spärlich unsere Ergebnisse waren im Vergleich mit den Opfern an Zeit und Mühe, die sie uns gekostet hatten. Zwar ließ sich schon deutlich erkennen, daß das Land sich als eine schiefgestellte, mehrfach zerbrochene Tafel von meist vulkanischem Gestein, in verschiedenen Perioden steigend und sinkend, also gleichsam wie von Atemzügen bewegt, aus dem Meere gehoben hatte; auf welche Weise freilich dieser komplizierte Prozeß vor sich gegangen war, ließ sich aus unserem bruchstückhaften Material noch nicht eindeutig erschließen. Ertragreicher als unsere morphologischen Beobachtungen waren die übrigen, die kartographischen und die klimatologischen. Gute Grundlagen lieferten dazu vor allem die Aufzeichnungen meiner automatisch registrierenden Station in Trapezunt, die in meiner Abwesenheit unter der Obhut des treuen Père stand, und außerdem hatten wir ja das Glück oder Unglück gehabt, in ein Jahr zu kommen, das die klimatischen Erscheinungen des Gebietes in schärfster Ausprägung zeigte. So kannten wir die Stürme, die periodisch über unsere Klimainsel fegten und eine kalte Luft nach sich zogen, die im Aufsteigen an den Pontushängen abregnete, so kannten wir die Föhne, die plötzlich zur Nacht über die Berge herabstürzten und die winterliche Temperatur um zehn und mehr Grad hoben; wir kannten auch die Vegetation, die Wirtschaft, die Bodenschätze unserer Umgebung, noch aber waren wir nicht in das dunkle Lasistan vorgedrungen, wo fremde Menschen von fremdem Blut im verschlossenen Land der Medea hausten. Das war unser nächstes Ziel.