Fahrt und Fessel

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Ich war Geograph genug, um Sehnsucht nach fremden Ländern zu haben und nach ihrem geistigen und seelischen Besitz. Ich hatte mich lange genug gesehnt, um glauben zu dürfen, daß diese Sehnsucht allein reinste Erfüllung fordern dürfte.

So begann ich meinen Weg. Wohin würde er mich führen?


Hafen von Passau.


Kasanenge im Donaudurchbruch durch das Banatergebirge.

Stimmen des Stromes.

- Der Bogen zum Orient. -

Durch die vertrauten, noch morgendlich stillen Straßen von Leipzig fuhr ich in den Oktobermorgen hinaus, und die Stimmung eines Abschieds auf ungewisse Zeit ließ mir all dies leis verklärt erscheinen. In Chemnitz verabschiedete ich mich von den Herren der Wandererwerke; mit sorgenvollem Kopfschütteln prüften sie nochmals die überladene Maschine durch und entließen mich mit mehr Zweifeln als Zuversicht, mehr Wünschen als Erwartungen. In Regensburg erreichte ich die Donau, die den ersten Teil meiner Reise wesentlich bestimmen sollte. Und weiter ging es auf bekannten Wegen: Passau, Linz, die Wachau, Krems, der Kahlenberg und, o wie freudig ich es grüßte, Wien.

Übrigens hatte ich all diese Tage gegen ein heftiges Fieber zu kämpfen gehabt, das ich einer bösen Erkältung auf der Herbstfahrt verdankte. Hier nun kam es so heftig zum Ausbruch, daß ich einige Tage das Hotelzimmer nicht verlassen konnte und das gerade in Wien, wo tausend Erinnerungen aus der Studentenzeit mich hinauslockten! Ich lag ruhelos und lauschte bis spät in die Nacht dem Singen der Geigen, den Donauwalzern und Wiener Liedern, die gedämpft von unten, vom Café, durch das Klirren von Geschirr und das Plaudern froher Menschen zu mir heraufdrangen. Diese Freude am müßigen Geplauder, die große Vorliebe fürs Kaffeehaus, dies Zuhause in der Öffentlichkeit ist der erste, noch schüchtern angedeutete Zug orientalischen Wesens im Bilde des rein deutschen Raums; denn hier in Wien beginnt der Weg nach Asien, der sich jetzt meinen Gedanken breitete, ehe er sich erfüllte.

Vom Stefansdom bis zur Hagia Sofia spannt sich ein Bogen von Übergängen, der sich nach Osten zu immer sanfter böscht, um endlich im Orient, wo die Übergänge zu Gleichklängen werden, zu verflachen. Dieser Bogen führt vom deutschen Tannenwald zur asiatischen Steppe, von weicher Anmut deutscher Mittelgebirge zu strenger Herbe horizontloser Ebenen, von Vielheit und Wechsel reicher Landschaftsformen zur Einheit und zum Uniformen, von Präzisierung zu Stilisierung. Dieser Bogen spannt sich vom deutschen Frühling zum Lenzlosen der Steppe, von Wiesen zu Wüsten, von Seen zu Salzsümpfen, von warmen, dunklen Nächten zu frostig sternenklarer Helle; von planvoll angelegten Dörfern zu regellosen, von Ruinen durchfressenen Siedlungen; von der Zentrierung der Straßen in Ring und Domplatz zum Gewühle enger Basargassen; von der Frau zum Weib, vom Wien der süßen Mädels zu den Ländern ohne Liebe; vom Individualismus des Willensmenschen zum Formalismus des beschaulichen Muselmanen, vom kategorischen Imperativ zum Kismet.

In diesen Bogen von Übergängen nun legt sich die Donau als eine Sehne, die in der Spannung zwischen beiden Gegenpolen schwingt. Wie längs ihrer gleitenden Wasser das deutsche Motiv abklingt und das asiatische anschwillt, gleicht sie einer großen Symphonie, durch die Cäsuren der Landschaftsscheiden in vier Sätze geteilt. Lebendig in Individualität bringt der erste das deutsche Eingangsthema rein bis Wien; lang ausgesponnen, jedoch wechselnd im Tempo, folgt das Moderato durch Ungarn, wo das zweite Thema schon leise in der Unterstimme anklingt; zum Maestoso von ungeheurer Wucht schwillt der dritte Satz, der Durchbruch durch das Banatergebirge, während der letzte, in dem sich das Gegenthema sieghaft durchsetzt, in stillem Andante verklingt. Von den großen Komplexen, den Akkorden der Städte und den Kadenzen der Landschaften spielt jede Erscheinung, selbst bis zur geringsten, in dieser Symphonie mit, sinngemäß den jeweiligen Grad der Abwandlung wiedergebend. So spiegelt sich dies Spiel im Auge der Frau, das sich mehr und mehr verdunkelt, vom lachend klaren der Wienerin über das flirtende der Ungarin, das kühl interessierte der Serbin und das melancholische der Bulgarin bis zum fremd blickenden der bulgarischen Türkin, das dich nur selten streift, gleichgültig und fern wie ein Stern, der hinter Wolken verschwindet; und so spürt man die Wandlung noch in der Süße der Speisen, die immer aufdringlicher, und im Dufte der Zigaretten, der immer milder wird.

Die zwischengelagerten Nationen schwingen mit im Spiele von Thema und Gegenthema, ohne jedoch an der schicksalhaften Durchführung mehr ändern zu können als Tonart und Klangfarbe; denn auch sie werden beherrscht vom wechselseitigen Bedingtsein des deutschen und des orientalischen Wesens. Nur die Donau selbst ist stark genug, um die gegebenen Themen nach eigenem Gepräge zu formen, indem sie durch ihre Stromgewalt die Symphonie steigert vom Pol zum Gegenpol hin. Sie läßt ihr Stromland mit sich wachsen, indem sie im Schwarzwald Dörfer und gotische Kleinstädte nährt, später aber Geschlechter, Nationen und endlich Staaten zu ihren Seiten trägt. Zu Anfang Schauplatz örtlicher Geschichte, wird sie später geschichtlicher Ort, um endlich selbst Geschichte zu formen. Und im gleichen Sinne wandelt sie auch die Reihe ihrer Städte ab vom mühelos strombeherrschenden Passau über Budapest, das als letzter Einheitsorganismus die Ufer umspannen kann, über die ersten ungarischen Doppelstädte, die sich von beiden Seiten die Hand über den Strom reichen, und über die anderen, deren Streben nach Vereinigung die wachsenden Wasser zunichte machen, bis zur rumänischen Großstadt, die sich brückenlos mit nur einem Ufer neben den mächtigen Fluten bescheiden muß. So steigert der Strom mit seiner wachsenden Macht den Ausdruck der Formen, die er beherrscht, wie in Mahomets Gesang.

Und diese ganze Symphonie, durch den Kampf der Gegenthemen gegeben und durch den Eigenwillen der Donau variiert, ruht nicht in starrem Sein, die fließende Zeit durchpulst sie in stetem Werden. So wie sie heute erklingt, ist die Symphonie das Werk einer vielhundertjährigen Geschichte, die jedoch den gesamten Weg des Werdens so klar in die Fassung der Gegenwart aufgenommen hat, daß all die einstmals führenden Stimmen noch heute im Rauschen des Stromes nachhallen. Vor tausend Jahren noch lag die Scheide zwischen den beiden Themen weit mehr westlich, vor dem neugegründeten Bistum Passau. Von hier aus ließen kluge Bischöfe, wie Artmann und Piligrim, den deutschen Gedanken mit den gleitenden Wassern nach Osten ziehen, bis Passau seine Mission als deutsche Grenzmark an Melk und dann an Wien abtreten mußte. Von Osten brandete es längs der Donau heran: Hunnen, Avaren, Magyaren und Türken, das ganze für das Mittelalter so schreckhafte Asien, dessen Wellen sich mählich immer eher am Widerstande Deutschlands brechen mußten; denn von hier antwortete man diesen Stürmen, immer kühner und weiter vordringend, mit den Nibelungen, Karl, Otto und Prinz Eugen. So floß das Blut deutscher Kämpfer die Donau hinab, und deutsche Kolonisten zogen ihm nach bis dorthin, wo sich die Wellen des rückflutenden Orients zu stauen begannen. Steht die Moschee in Wien als letztes Wahrzeichen des Orients nach Westen zu noch einsam in fremder Umgebung, so hat Belgrad schon ein eigenes Türkenviertel, und Ada Kale, die Donauinsel bei Orsova, trägt die erste rein türkische Siedlung. In Lom und Rustschuk berühren die orientalischen Züge nicht mehr fremd, selbstverständlich reihen sie sich hier in das Stadtbild ein. Und in der Dobrudscha, wo die ersten mündungslosen Flüsse an innerasiatische Ströme gemahnen, die in sonndurchglühten Wüsten versiegen, herrscht oft reinster Orient, und er würde durchweg herrschen, wenn nicht fremde Nordsüdströmungen und die Einflüsse eines besuchten Meeres auf das Küstenland das Bild verwischten.

So klingt durch Raum und Zeit das deutsch-asiatische Gegenspiel in der Donausymphonie ab. In seinem Schatten mußte lange das Leben der zwischengelagerten Nationen verkümmern, der Bulgaren, Rumänen, Serben, Kroaten und selbst der Magyaren, die doch durch die Lage ihres Raumes zur zentralen Donaunation bestimmt waren. Vermochten sie lange Jahrhunderte hindurch nichts, als dem großen Kampfe der Fremden die spezifische Farbe ihres Landes zu geben, so hat nunmehr die Gegenwart mit ihrem scharfen Abbröckeln des Orients und ihrer Angleichung des deutschen Stiles an eine internationale Maschinenkultur den gebundenen Eigenwillen all dieser Nationen befreit. Doch zu lange waren die Donauländer nur Schauplatz fremder Geschichte, um jetzt plötzlich den kulturellen Aufschwung ganz aus eigener Kraft leisten zu können. Um die verlorenen Jahrhunderte nachzuholen, arbeiten sie jetzt so fieberhaft, daß ihre neue Kultur nicht in natürlich entfaltetem Eigenstil erblühen kann, sondern fremde Blüten im Treibhaus ausreifen lassen muß. Da sie keine Zeit finden, auf organische Stilentwicklung zu warten, übernehmen sie nach alter Gewohnheit, was ihnen längs der Donau zuströmt: ist es heute auch nicht mehr der typisch deutsche, so ist es doch der konventionell europäische Gedanke; kann er auch das Eigenwesen der Länder nicht rein ausdrücken, so läßt er sich doch durch leicht nationale Assimilation individuell kleiden. Im rücksichtslosen Eifer jungen Nationalbewußtseins und kulturellen Wollens werden nun ganze Städte, die vor kaum fünfzig Jahren erst von den Türken verlassen wurden, niedergerissen, damit sie als Ausdruck modernen europäischen Lebens völlig neu erstehen können. Weil aber selbst die Welle moderner Baugedanken Zeit braucht, um die Donau hinabzufluten, geschieht es, daß Städte des Ostens ihre Modernisierung noch mit Stilen durchführen, die wir schon als historisch empfinden: Rustschuk baut heute im Stil der Gründerzeit.

 

So rauscht es hinauf und hinab an der Donau, diesem Strome, den wir so selten nur verstanden, weil er uns zu weit von Europa wegfließt, und weil wir vergaßen, daß er uns den einzigen natürlichen Weg nach dem grenzenlosen Osten weist.

Nach meiner Gesundung nahm ich vom Kahlenberg aus Abschied von Wien und ließ mir dort als Weihopfer für meine vergangenen Studentenjahre ein Gulasch, einen G’spritzten und ein Salzstangl bringen, jenen herrlichen Dreiklang, der mich damals am Monatsersten stets voll umrauscht hatte, um dann in arithmetischer Reihe abzuklingen und am Monatsletzten im dünnen Einklang des Salzstangls zu enden. Blitzend in der Mittagssonne, zogen drüben die Wasser des Flusses vorbei, den der Wiener so gern als seine schöne blaue Donau preist. Ein wenig Übertreibung, vielleicht auch ein leiser Wunsch, das Schicksal zu korrigieren, liegt übrigens in diesen Weisen vom Donauwien; denn nur der Donaukanal gehört der Stadt wirklich. Kann man doch jahrelang in Wien leben, ohne die Donau zu sehen. Was in der Welt mit all seiner Anmut und Musik als das echte Wien empfunden wird, liegt im Schatten der Donau und nicht in ihrem Lichte wie Budapest; denn dies alte Wien mußte sich furchtsam am Hochufer neben der Donau halten, da es die wildernde Gewalt der Wasser noch nicht zu zähmen vermochte. Das moderne Wien aber, das den Strom mit den Hilfsmitteln unserer Technik zu bändigen und in sich einzubeziehen verstand, ist in seinem Stile des Maschinenzeitalters eine typisch europäische Fabrik und Hafenstadt. Dem Wien, das wir lieben, ist es wesensfremd.

Ein letzter Gruß zum Stefansdom hinüber, und weiter fuhr ich nach Osten zu, von der Donau ab ins Burgenland und zum Neusiedler See. Auf schmalem Palisadenweg ging ich zwischen Binsen weit über die Ufer hinaus, bis sich endlich die Wasserfläche vor mir breitete. Als dünner Saum verschwammen drüben die Hügel von Ruszt, auf denen jetzt der rote Wein der Ernte entgegenglühen mußte. Es war die heimelnde Zeit zwischen Dämmerung und Nacht; noch glänzte der reglose Spiegel in lichtem Schimmer, doch immer weiter und tiefer schon huschten die Schatten aus dem Rohre in den See hinein. Geheimnisvoll erwachte leises Flüstern im Schilf, während ein müdes Dämmergrau allmählich das Land verschloß, das am Tage wieder zu grenzenloser Weite erwachen sollte. Hier beginnt eine neue Welt, die man durch Wien, das Tor zum Osten, betritt. In epischer Breite hebt nun der zweite Satz der Donausymphonie an. Geschwunden sind die breiten Bergrücken, die anmutigen Täler und saftigen Wiesen; an ihrer Statt dehnen sich fast unübersehbare Äcker, hinter denen man die Steppe wittert. Noch freut sich das Auge der sprießenden Saaten, aber schon kann der sonnglitzernde Sandboden vom Grün nicht mehr ganz zugedeckt werden. Noch weiden Rinder auf weiten Wiesen, aber schon scheint das Grün des Grases leicht angekränkelt, und das weiche Lila der Herbstzeitlose ist der Farblosigkeit trockener Disteln und Strohblumen gewichen. Ein kleiner Hain von Linden, Akazien und Eichen beschattet die Dörfer; aber wo ist der Wald, wo die Tannen und Fichten? Du hast sie in Wien gelassen.

An der Grenze riefen mich drei Soldaten in der alten österreichisch-ungarischen Uniform an. Als ich auf ihre Frage nach meinem Namen mit »német barátom« antwortete, schüttelten sie dem »deutschen Freunde« strahlend die Hand. Ein Deutscher ist schon an sich in Ungarn willkommen, spricht er aber gar einige Brocken Magyarisch, so wird er doppelt herzlich empfangen. Es gibt wohl kaum ein Volk, das seine kleine Sprache so liebt und alle Versuche Fremder, sie zu sprechen, so dankbar anerkennt und versteht wie die Magyaren. Kennt ein Fremder die Landessprache nicht, so findet man es in Deutschland störend, in Frankreich dumm, in England arrogant, in Ungarn aber natürlich. Müht sich ein Fremder, die Landessprache trotz geringer Kenntnisse zu sprechen, so findet man es in Deutschland komisch, in Frankreich peinlich, in England selbstverständlich, in Ungarn aber großartig.

Längs der ungarischen Straßen ziehen sich deutsche Kolonistensiedlungen hin. Nicht ein Volk, sondern einen Raum zu besiegen, waren die Kolonisten nach Osten gekommen; aber der Raum hatte sie besiegt. Wohl hielten die schwäbischen Bauern an der deutschen Form fest, aber die Raumfülle dehnte und lockerte das streng Geschlossene, so daß die engen Gäßchen zu breiten Straßen wurden, die, von baumbeschatteten Steigen begleitet, in unbeirrt geradem Zuge selbst Kirchen und Kapellen umfließen. Dann die letzte Stadt deutschen Gepräges: Raab.

Trotzdem hier schon fremde Laute das Ohr treffen, fühlt man sich doch heimisch zwischen Dom, Ring, Markt und Wall einer alten deutschen Stadt. Aber ärmliche, stocklose Giebelhäuser und ungefüge, halbmoderne Kolossalbauten im Zentrum bringen fremden Mißklang in den Akkord. Gerade in dieser Dissonanz seines Wesens zeigt Raab die Entwicklung Ungarns symbolhaft: das altansässige Magyarentum wurde an die Peripherie gedrängt, als das Deutsche, mächtig vorstoßend, Ungarn im Kern erfüllte. Nachdem aber der deutsche Gedanke in der Wiener Hofburg zum Habsburgischen umgeprägt war, opferte österreichische Hauspolitik den deutschen Städter der Magyarisierung. Während der schwäbische Bauer weiterhin zäh am Heimatlichen festhielt, konnten in alten deutschen Städten ungefüge Neubauten den Sieg des modernen Magyarentums verkünden.

Weiter ging es durch ein Land mit Weiden voller Schweineherden, mit Akazien und breiten Straßen, nach einem Höhenzug wieder deutsche Dörfer, durch deren reinliche Straßen die Dirnen, in langer Kette eingehakt, schlenderten und heimatliche Lieder in den Abend hinaus sangen.

Und dann rauscht der vollste und ausgeglichenste Akkord der Symphonie auf: Budapest. Vor zweihundert Jahren noch in den Händen Asiens am Rande der Welt stromnah und innerlich doch stromfern dahindämmernd, ist es jetzt das Herz des Donaulandes geworden. Seine Stellung als Hauptstadt verdankt es der zentralen Lage am Schnittpunkt natürlicher Verkehrsstraßen und am Übergang zwischen den zwei ungarischen Becken. Daß es aber zum Edeltyp einer modernen Hauptstadt werden konnte, verdankt das junge Budapest seiner glücklichen Geburtsstunde; denn die national frei gewordenen Magyaren konnten ihre Kräfte gerade zu jener Zeit in Pest konzentrieren, als sie gelernt hatten, die Durchdringungsmöglichkeiten des bevorzugten Raumes zu verwirklichen. So konnte diese Hauptstadt trotz ihrer Jugend ihre Länder umspannen und geistig beherrschen. Und da gleichzeitig auch die Technik den wildernden Strom und das Eiserne Tor bezwungen hatte, so daß die Schiffahrt bedeutend an Wert gewann, legte man die Pracht der Hauptstadt an den Strom selbst, den die Stadt als letzter Einheitsorganismus nach Osten zu beherrscht. Nicht Ring und Markt wie im donaufernen historischen Wien, nicht das Gedränge der Basargassen wie in den Siedlungen des Ostens, der Strom selbst, von sechs gertenschlanken Brücken überspannt, bildet das Zentrum der Stadt. Hier liegt auch ihr Hafen, wo am modernen Kai elektrische Kräne Tag und Nacht arbeiten, um die hunderterlei Waren in weiträumigen Magazinen zu verstauen. Als im vorigen Jahrhundert die Städtebauzeit begann, fand der architektonische Gedanke in Pest keinen historisch erstarrten Komplex vor, dem er sich anzupassen hatte, sondern freien Spielraum für seine wesensgemäße Entfaltung. Langsam die Donau hinabgleitend, traf er Pest am ehesten; und so ist hier der Stil der Bauten nicht der von vorgestern, den unser Verstand schon als historisch und unser Auge noch als geschmacklos empfindet, wie in den Donaustädten des Balkans, die heute noch im Jugendstile bauen; er ist auch nicht der tastend noch suchende wie im modernen Westen; er ist der uns gleichaltrige, eben abgeschlossene. Während die Städte stromabwärts noch an ihrem Ausbau arbeiten, hat Pest seinen Charakter bereits rein und voll ausgebildet. So steht die Stadt heute da wie eine schöne Frau in voller Reife.

Übrigens riet man mir hier aus Sicherheitsgründen so dringend von einer Motorradreise durch Rumänien ab, daß ich mich zur Dampferfahrt auf der Donau entschloß. Zwar war die Personenbeförderung so spät im Jahr bereits eingestellt, doch vermittelte mir die deutsche Gesandtschaft einen Platz auf einem Schleppdampfer, der acht Frachtkähne talwärts zu ziehen hatte. Die Tage bis zur Abfahrt nutzte ich durch einen Abstecher zum Plattensee, dem ungarischen Meere. Steil schon hat sich der Bogen zum Orient gewölbt; denn zum ersten Male erlebt man hier das Wunder der Farbe, wenn auch nicht an nacktem Gestein, sondern am Wasser: vom schweren Violett der Morgendämmerung über den tiefen Purpur bei Sonnenaufgang und das gleißende Gold zur Mittagszeit steigert sich die Kraft und Fülle der Farben bis zur Stunde der sinkenden Sonne, wo die letzten Strahlen sich in der von feinem Staub erfüllten Luft wie in einem Prisma zu breitem bunten Bande brechen.

Zwischen Scylla und Charybdis von scheuenden Pferden und Straßengraben kam das Motorrad hier zum ersten Male stark zu Schaden, so daß eine traurige Eisenbahnfahrt den Abstecher beschloß. In der Reparaturwerkstatt in Budapest versprach man mir, das Rad sofort nach Fertigstellung mit der Bahn nach Warna zu schicken, so daß ich es bei meiner Ankunft schon vorfinden sollte. Warten konnte ich leider nicht darauf, da wir einen Tag später unsere Donaufahrt begannen. Schnell hatten wir uns angefreundet: der Kapitän, im Stromdienst ergraut, ein sonniger Süddeutscher als sein Stellvertreter, ein junger Rheinländer, der mit Lyrik und Gottvertrauen eine Fußreise von Konstantinopel nach Indien machen wollte, und ich.

In langausgesponnener, ungeheurer Einförmigkeit rauscht der zweite Satz der Symphonie schleppend zu Ende. Spröde und zurückhaltend in ihren Offenbarungen, findet diese Landschaft ihre stärkste Abwehr in der Langweile, die sie einflößen kann. Nur dem erschließt sie ihre tiefe Lyrik, der sie in versonnener Muße zu genießen versteht: mit Geduld für den Morgen, wenn schwere Herbstnebel das Schiff lange vor Anker halten, mit Hingabe für den Tag, wenn die Landschaft in breiten Wiederholungen vorübergleitet wie die Bilder eines Filmbandes, das man zwischen den Händen aufrollt, mit Humor für den Abend, wenn der Kapitän seine gewürzten Geschichten erzählt, und mit Poesie für die Nacht, wenn die Ufer schwarz verhüllt und schweigend schlafen und nur die Wellen leis rauschend die Ankerkette umspielen. Zwei Motive modulieren die Landschaft: das erste zeigt rechts ein Steilufer von meist regenzerfurchtem Löß, das jeden Fernblick verwehrt, und links die endlos gebreiteten Ebenheiten Ungarns mit ihren einsamen Herden, knorrigen Ziehbrunnen und zerfallenen Pußtahütten; öfter aber schließt ein dichter, lianendurchflochtener Urwald die Ebene vom Strome ab. Im anderen Motiv liegt der Mantel dunkler Auenwälder zu beiden Seiten der Donau gebreitet. Im dichten Gitter des Grüns verbirgt sich dort ein Wild, das noch kein Jäger gejagt, tote Wasser schlafen zwischen den hundert Inseln, wo noch kein Fischer seine Netze gespannt; nur der Adler ist Herr dieser Landschaft. Er sammelt sich zu Dutzenden auf den weißen Kiesbänken, reckt seine mächtigen Schwingen und sonnt sich. Hinter der Festung Erdut, der ersten türkischen Ruine, tauchen als Ausklänge des deutschen Themas die Dörfer der Banater Schwaben auf, mit breiten Straßenzeilen schon ganz der Raumfülle angeglichen, doch im Kranze fleißig kultivierter Weinberge, Mais und Hopfenfelder seltsam von der grauen Heide rings abstechend. Mit ihnen wechseln die schachbrettartig angelegten magyarischen Dörfer, steingefügte Zeltlager von seßhaft gewordenen Nomaden. Die Städte schwingen als unentschieden gesetzte Akkorde zwischen den beiden Themen: schon von Mohacs an hat sich ihr Zentrum in enge Straßen verschoben. Die Geschäfte bergen dort ihren Kram halb nach europäischer Art im Ladendunkel, halb stellen sie ihn nach orientalischer Sitte im Freien zur Schau. Von der modernen Bauwelle, die auch hier auf der ersten einer einfachen Kolonisation aufsetzte, zeugen neue Verwaltungsgebäude, eine seltsame Verquickung von nationalen Gütern mit europäischen, von altmodischem Kitsch mit moderner Strenge. Noch tragen zumal die Hauptstraßen deutsche Züge, doch beherrschend krönt sie schon der fremde Zwiebelturm. Fast alle diese Städte stehen auf dem rechten Steilufer; wo aber das linke einmal mit festem Boden eine Stromüberführung erlaubt, da wachsen sofort, sich gegenseitig befruchtend, die ungarischen Doppelstädte auf.

Dann hebt in jähem Crescendo der Mittelsatz der Symphonie, das Maestoso des Eisernen Tores, an. Schon vor Belgrad wird diese Steigerung vorbereitet: der begleitende Laubwald, mehr und mehr sturmzerfetzt, verflacht in regellosen Buschbestand. Höher wachsen die Hügel, die das Ufer säumen; von ferne ziehen Gebirgsketten immer näher an den Strom und schließen sich endlich so dicht, daß man nicht mehr weiß, wie die Wasser sich hindurchwinden werden. Und dann setzt plötzlich in gewaltigen Kadenzen der Gipfelpunkt der Symphonie ein: der Durchbruch durch das Banater Gebirge. Kleine Erweiterungen geben kurze Atempausen, doch immer dichter folgen die Engpassagen, wo steile Felsschluchten den Strom zu erdrücken drohen.

 

Senkrecht stürzen die Hänge unter dem Wasser ab, senkrecht schwingen sie sich hundert Meter darüber auf, um erst bei tausend Meter Höhe verflachend zu enden. Im Herbstscheine brennt die Birke, lodert der Ahorn und glimmt die Buche. Gurgelnd kräuselt sich das Wasser über spitzen Felsen am Grunde, als sprudelten Quellen von Kohlensäure im Donaubett. Kanäle sind hier gesprengt und gemauert worden, um den Schiffsverkehr zu ermöglichen, und dennoch schießt das Wasser so wild durch die Schnellen des letzten Kanals, daß es die schwachen Dampfer zurückreißt.

Fischen da nicht Männer im Fes? Wir nahen dem Orient. Von Kahn zu Kahn entspinnt sich eine Unterhaltung: »Die Untermauerung der kunstvollen Szechenyistraße soll herabgebrochen sein? Nun, was tut’s schon! Dann fahrt man halt auf dieser Straße nicht!« Orsova scheint noch einmal einen reinen Nachklang deutschen Wesens zu bringen; denn deutsch ist sein Markt, deutsch die Aufschriften, und Deutsch reden die Leute in den Straßen. Aber die Talmieleganz der rumänischen Oberschicht, geschminkter Offiziere mit schlecht sitzendem Monokel und gezierter Damen, in Wolken aufdringlichen Parfüms gehüllt, grell abstechend von der zerlumpten Armut ihrer Umgebung, erinnern schon peinlich an das Levantinertum des Bosporus. Ada Kale, eine Donauinsel unterhalb der Stadt, trägt zwischen vereinzelten Pappeln und Ruinen alter Festungswerke eine Moschee mit Minarett und schiefe Stockhäuschen mit holzvergitterten Haremsfenstern. Aber noch fügt sich dies rein türkische Bild nicht harmonisch genug in die Umgebung; es wirkt vielmehr, als hätte der Orient auf seinem Rückzüge etwas zu hilfloser Einsamkeit vergessen.

Langsam klingt die Steigerung nun ab, die großartig bewegten Formen stilisieren sich verflachend, und wenn das Fortissimo wieder in den stillen Gang des zweiten Satzes zurückgeglitten ist, hat sich das Gegenthema durchgesetzt: das Deutsche ist dem Osten gewichen. Steilufer zur Rechten und Flachland zur Linken säumen wieder den Strom, aber dunkle Melancholie umschattet nun beide. Die Auenwälder sind mit kümmerlichen Weiden uniform geworden; oft auch fehlen sie ganz. Dann breitet sich zur Linken mit Viehweiden, Schilfhütten und Ziehbrunnen eine trostlose Ebenheit, über die bitterkalte Nordoststürme fegen und die wenigen Bäume entwurzeln. Fern erst steigt eine Terrasse an, die Felder trägt. Das Steilufer zur Rechten aber ist waldlos nackt. Und weiter abwärts wird das Stromland eine weite Zone, die sich fast unübersehbar zwischen entfernten Uferrändern dehnt, geädert von hundert Totwassern und Seitenarmen, die im Kreuzgange von Pappelweiden dämmern. Hier ist die Heimat von Millionen Schwimmvögeln, die aus den schrumpfenden Tümpeln ihre Nahrung schöpfen, bis ein neues Hochwasser die Becken wieder mit Fischen füllt. Selten nur taucht links eine Siedlung auf, fern den feuchten Ufern und ohne zentrierende Gipfelung im Kirchturm.

Ganz fremd schon ist Turnu Severin am Beginne des letzten Satzes. Das regelmäßig gekastelte System seiner Straßen mündet nicht im Herzen eines Platzes, sondern in der Ader einer Langstraße, wo die Leute, nach orientalischer Sitte freilich nur Männer, den lieben langen Tag hindurch vor dem Kaffeehaus an der Sonne sitzen. Rechtwinklig biegt eine andere Straße ab, eine Zeile von Geschäft auf Geschäft: der erste Basar. Felle, Mützen und silberbeschlagene Hochzeitstruhen, all das drängt sich in buntem Durcheinander auf die östlich lärmerfüllte Straße. Nur ein großes modernes Theater sticht grell von der Umgebung ab; freilich wurde es auf deutsche Reparationskosten gebaut. Ein ähnlicher Typ herrscht in Lom, dem Donauhafen für Sofia. Nur ist das Orientalische hier noch wesentlicher geworden, wie sich auch überall auf den Straßen schon die bulgarische Türkin, unverschleiert, aber vom weiten Mantel streng verhüllt, zwischen die Bulgarinnen mit ihren breiten, ernsten Gesichtern mischt. Immer lauter werden die Stimmen des Ostens: Erinnerungen an den Befreiungskampf der Bulgaren, Nikopoli mit seiner meist türkischen Bevölkerung und die Ruinen der Paläste von Orechowo, dem Bade der fürstlichen Haremsfrauen.

In Rustschuk, wo Beschkow mich erwartete, verließ ich das Schlepp, um mit der Bahn nach Warna zu fahren. Rustschuk macht den Eindruck einer halbfertigen Platte im Bade des Entwicklers: denn hier rollt eben erst die große Bauwelle heran, die vor Jahrzehnten schon Pest erstehen ließ. So reißt man denn Reihen von orientalischen Wohnungen rücksichtslos nieder, um für völlig neue Straßenzeilen mit halbmodernen Großbauten Platz zu schaffen. Überraschend ist vor allem die Brutalität der europäischen Durchdringung; denn die neue Stadt kümmert sich nicht um die Gesetze der alten, so daß manchmal alte und neue Straßen mit erheblichem Niveauunterschied aufeinandertreffen und nur roh durch lange Stufenreihen aneinandergehängt werden. In Razgrad, das abseits von der Donau liegt und daher fast noch unberührt von modernen Strömungen ist, blieben wir bei Bekannten zur Nacht. Während wir bequem im breiten Ehebett schliefen, begnügten sich unsere bulgarischen Freunde mit einem bescheidenen Lager auf dem Fußboden: orientalische Gastfreundschaft!

In Warna war meine Europareise zu Ende. Obwohl noch kein Einfluß deutschen Wesens vom Westen bis hierhin vordringen konnte, zeigt Warna nur wenig orientalische Züge; denn fremde Nordsüdströmungen und die Lage am Meere geben diesem größten Hafen Bulgariens einen eigenen Ausdruck von fleißiger Arbeit und modernem Leben. Der Rhythmus des eifrigen Ausbaues erfüllt die ganze Stadt. Zumal am Hafen mit Kaimauer, Leuchtturm und Wellenbrechern treten die neuen Konturen schon scharf hervor. In der Stadt selbst herrscht noch mancher Wirrwarr und manches Unausgeglichene, zumal wo von modernen breiten Straßen unvermittelt orientalische Gäßchen mit der schmutzigen Enge ihrer Holzhäuschen abbiegen. Am peinlichsten aber berührt den Mitteleuropäer das krause Stilgemisch der Neubauten, die meist einen verfälschten Stil vergangener Generationen übernehmen. Besonders bevorzugt ist dabei wieder die Bauart der Gründerzeit; aber da zum großen Prächtigen weder Raum noch Geld vorhanden ist, begnügt man sich mit dem kleinen Prächtigseinwollen, indem man bei kolossalen Fassaden verschnörkelte Giebel betont, Türmchen aufsetzt und Statuen anbringt, in deren erhobenen Händen nachts rote und grüne Glühbirnen leuchten. So hat Warna bei aller Fülle seiner neuen Formen keinen Stil, so daß seine alten Türkenviertel, die sich konservativ gehalten haben, geschlossener und formvoller wirken durch die Tatsache ihres Eigenstiles, so kümmerlich er an sich sein mag. Daß bei Bulgariens Ausbau, an dem in musterhaftem Fleiß eine ganze Nation mitarbeitet, keine Zeit zur Besinnung auf eigenen Stil bleibt, zeigt sich an dem fortgeschrittenen Warna in schärfster Deutlichkeit.

Am Kai schaukelte der Dampfer »Warna« in einem stürmischen Wellengang, der die 25 Meter hohen Hafenmauern mit weißem Gischt überspritzte. Während Beschkow noch einige Tage auf das Rad warten wollte, das natürlich noch nicht eingetroffen war, fuhr ich nach Konstantinopel voraus. Nach tanzender Fahrt durch die Nacht legte der Dampfer in Burgas an. Hat Warna Vergangenheit, so hat Burgas Zukunft; denn bald wird dieser Tabakhafen mit seiner großen Reichweite den alten Getreidehafen überflügelt haben, der sein Hinterland, die Dobrudscha, an Rumänien verloren hat. In Burgas beginnt der Ausbau erst und greift in orientalisches Leben ein; darum sind hier die Gegensätze weit schroffer als in Warna. Nur der neue Typ, den man hier trifft, das vielfenstrige Griechenhaus mit seinem vierfach gegiebelten Dache, reiht sich leicht und natürlich dem europäischen Stile ein, der sich schon deutlich durchsetzt. Denn wir sind am Meer.