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Die verlorene Handschrift

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4.
In der Höhle

Das dunkle Wasser gurgelte und strömte zum Thale, der Wiederschein des Abendroths glänzte von den Erkerfenstern des alten Hauses, unter dem Stein der Höhle stand allein das Weib des Gelehrten. Wo einst die Frauen der alten Sachsen auf das Rauschen der Waldbäume gelauscht, wo das Weib des gejagten Räubers die Steine geschleudert auf die Verfolger, stand wieder eine flüchtige Tochter des Felsens und sah hinab auf das wilde Treiben der Gewässer und hinauf zu dem Hause, wo der Feind ihres Gatten im Lehnstuhl des Vaters lag. Noch hob sich ihre Brust in tiefen Atemzügen, aber sie blickte freundlich auf den braunen Fels, der sich über ihr zum schützenden Obdach wölbte. Unter ihr wälzte sich wilde Fluth und Zerstörung, um sie herum spielte sorglos das kleine Leben der Natur. Die Libellen jagten einander über dem Wasser, die Bienen summten um die Kräuter der Berglehne, die Waldvögel sangen ihr Abendlied. Sie setzte sich auf die Steinbank und rang nach friedlichen Gedanken, sie legte die Hände zusammen und neigte das Haupt; das Wetter, welches durch ihr Inneres gefahren, schwand dahin in der Thräne, welche ihr aus dem Auge floß. »Ich will nicht an mich denken, nur an meine Lieben. Die Kleinen werden nach mir verlangen, wenn sie zu Bett gehen, heut hören sie nicht die Stadtgeschichten, die ich ihnen zum Einschlafen erzählen muß. Sie waren alle naß von ihrer Fischerarbeit, und in der Verwirrung wird Niemand für trockne Strümpfchen sorgen, ich habe über Anderem vergessen, was ihnen nöthig war. Der Jüngste besteht eigensinnig darauf, ein Professor zu werden. Mein Knabe, du weißt nicht, was du willst. Was mußt du lernen und an dir ändern! denn die Arbeit, die das Leben an uns thut, ist unermeßlich. Als ich hier neben dem Vater saß, glaubte ich einfältig, daß die Menschen um so edler sind, je höher ihr Amt ist, die vornehmsten unter Allen die besten, und daß alles Gewichtige auf Erden groß und mit seinem Geiste gemacht wird. Auch da die beiden Gelehrten kamen und ich an dieser Stelle mit Felix zuerst über Bücher sprach, da wähnte ich noch, was gedruckt zu lesen ist, das müsse ungefälschte Wahrheit sein, und Jeder, der schreibt, ein grundgelehrter Mann. So kindisch denken noch Viele. Aber ich bin ein Trotzkopf geworden, der sich heftig auflehnt gegen Andere, sogar gegen die Worte meines Mannes, der bei mir am höchsten steht.« Sie sah mit trübem Lächeln vor sich hin, aber gleich darauf neigte sie das Haupt, und wieder rannen die Thränen in den Schoß.

Vom Garten herüber erscholl der Zuruf des Bruders. »Holla, Ilse, bist du da? Noch sind die Fremden im Hause, sie binden einen Tragsessel für den Kranken zusammen, er soll nach der Oberförsterei geschafft werden. Der Vater hat zu thun, Boten auszusenden. Auch die Brücke nach Rossau ist mit dem Wasser davongegangen, wir können nicht nach der Stadt und Niemand aus der Stadt zu uns. Wir ängstigen uns, wie du zu uns herüber kommen sollst.«

»Sorge nicht um mich, Hans; sage den Mädchen, sie sollen unsern lieben Gast nicht vergessen über den Fremden, und grüße mir die Kinder, ich will nicht, daß sie zum Gutenachtgruß an den Wasserrand kommen, denn das Ufer ist glatt.«

Ilse setzte sich an den Eingang der Höhle und blickte in dem Raume umher, erst am Morgen hatte sie hier gesessen; als das hohe Wasser heranfloß, war sie über den Steg geeilt, die Geschwister zu warnen. Noch lag ihre Arbeit auf der Bank und ein Buch, das ihr einst, da sie noch Mädchen war, der Pfarrer geschenkt. Es war das Leben der heiligen Elisabeth, von einem eifrigen Geistlichen ihrer Kirche geschrieben. »Als ich zuerst von dir erfuhr,« dachte sie, »Frau Ilse von der Wartburg, du vornehme Namensschwester, war mir dein Leben rührend, und Alles, was du gethan und was die Sage von dir erzählt, schien mir ein Beispiel für mich selbst. Du warst ein Weib, fromm, verstandvoll und liebenswerth und einem wackern Herrn vermählt. Da machte ihn die Sehnsucht, in seinem Ritterstand besondere Ehre und Kriegsruhm zu erwerben, blind gegen die nächste Pflicht seines Lebens, er verließ dich und die Bauern seiner Heimat und zog in die Fremde und das Land Italien. Wohl zwei Jahre ritt er umher, er kehrte müde und nüchtern zurück. Aber er fand sein liebes Weib nicht wie er sie verlassen. Du hattest dich in der Einsamkeit nach dem Manne gebangt, und in deiner Schwermuth gegrübelt über die großen Geheimnisse des Lebens. Dein eigenes Dasein war voll Sehnsucht gewesen, darüber warst du zu einer frommen Büßerin geworden. Du trugst das härene Hemd und schwangst die Geißel über deinem Rücken, du beugtest Stirn und Gedanken vor einem unduldsamen Priester. Und du thatest, was nicht recht war und nicht schicklich, du legtest den Aussätzigen, um deinem Gott zu gefallen, in das Bett deines lieben Mannes. In deiner überspannten Frömmigkeit hast du dein warmes Herz und die schamhafte Weiblichkeit verloren. Du wurdest von den Geistlichen heilig gesprochen, aber du arme Frau hattest in deinem Ringen um das, was sie die Gnade Gottes nannten, menschliches Gefühl und milde Sitte hingeopfert. Es ist nicht gut, Ilse, wenn Mann und Frau sich ohne zwingende Noth voneinander scheiden.

Wer gegen den Geliebten hart wird, der begeht dies Unrecht doch nur, weil er selbst ihm Leides gethan oder weil er sich von ihm gekränkt meint. Woher kam es doch, daß du erkrankte Fremdlinge auf dem Lager pflegtest, das dein Gatte verlassen? Ich fürchte, heilige Elisabeth, es war der Trotz gekränkter Liebe und es war die geheime Rache über die lange vergebliche Sehnsucht nach deinem Gatten. Dein Beispiel ist für uns keine Lehre, es ist eine Warnung. Meine alte Freundin Penelope, das arme heidnische Fabelweib, war menschlicher, und sie war eine bessere Frau als du. Sie weinte jede Nacht um den Geliebten, und als er endlich zu ihr zurückkam, da schlang sie ihre Arme um ihn, weil er die geheimen Zeichen des Lagers noch kannte.«

Wieder klang es von der andern Seite des Wassers. »Hörst du mich, Ilse?« rief der Landwirth am Uferrand.

»Ich höre, Vater,« antwortete Ilse, sich erhebend.

»Die Fremden ziehen zum Hofe hinaus,« sagte der Vater, »der Kranke ist so schwach, daß er Andern schwerlich zu schaden vermag; du aber bist in Wahrheit von uns geschieden. Es dunkelt und es ist keine Aussicht, zur Nacht den Steg über das Wasser zu zimmern. Geh auf deiner Seite thalab über die Hügel nach Rossau, dort bleibe bis morgen bei unsren Bekannten. Es ist ein weiter Umweg, aber du kannst vor Nacht dort sein.«

»Ich bleibe hier, mein Vater,« rief Ilse hinüber, »der Abend ist mild, es sind nur wenige Stunden bis zum nächsten Morgen.«

»Mir ist’s hart, Ilse, daß mein wildes Kind unter dem Felsen ruhen soll im Angesicht ihres Hauses.«

»Sorge nicht um mich. Der Mond geht über mir und die Sterne; du weißt, ich fürchte mich nicht vor den Zwergen der Höhle, und auf meinen Bergen auch nicht vor Gewalt der Menschen.«

Die Dämmerung des Abends sank über das tiefe Thal, aus dem Wasser hob sich der Nebel, er schwebte langsam von Baum zu Baum nach der Höhe, er wogte und ballte sich und zog zwischen Ilse und dem Vaterhaus seine dämmrigen langen Schleier. Die Stämme der Bäume, das Schieferdach des Hauses verschwanden, die Höhle schwebte in Wolken und Luft, gelöst von der übrigen Erde, unter undeutlichen Schatten, sie hingen sich an das Thor des Felsens und flatterten an Ilse’s Füßen dahin, sie fuhren zusammen und zerflossen.

Ilse saß am Stein des Einganges, die Hände über das Knie gefaltet, in ihrem hellen Gewande selbst einem Fabelweibe aus alter Zeit, einer Herrin der schwebenden Schatten vergleichbar. Sie blickte auf ihrer Uferseite entlang nach dem Bergweg, der von Rossau herführte.

Da schallte dumpf durch den Nebel der ferne Schritt des Wanderers, dem eine hilfreiche Göttin seinen Pfad in dunklen Wolken verbarg. Ilse faßte an den feuchten Stein. Neben ihr am Boden bewegte sich’s, undeutlich huschte etwas vorüber, vielleicht eine Nachtschwalbe oder Eule. »Er ist es,« sagte Ilse leise, sie stand langsam auf, aber die kräftige Frau bebte und hielt sich an die Felsen.

Aus dem weißen Dunst trat die Gestalt eines Mannes, auch er hemmte erstaunt seinen Schritt, als er das Weib an der Felswand stehen sah. »Ilse,« rief eine helle Stimme.

»Ich erwarte dich hier,« rief sie leise. »Halte dort still, Felix. Du findest dein Weib nicht, wie du sie verlassen. Ein Andrer hat sich begehrt, was dir gehört, ein giftiger Hauch hat mich getroffen, man hat gewagt, mir Worte zu sagen, welche ein ehrliches Weib nicht hören darf, und man hat mich betrachtet wie eine gekaufte Sklavin.«

»Du hast dich dem Feinde entzogen.«

»Ich habe es gethan, darum stehe ich hier. Aber ich bin in den Augen der Leute nicht mehr, wie ich einst war. Du hattest ein säuberliches Weib; die jetzt vor dir steht, ist im Gerücht wegen Vater und Sohn.«

»Geräusch der Zungen verklingt wie der Wasserschwall vor deinen Füßen. Wenig gilt, was die Anderen meinen, wenn wir gethan haben, was uns selbst befriedigt.«

»Mir thut wohl, daß dir die einzelnen Menschen so wenig sind gegen deine Gedanken. Aber ich bin nicht so stolz und frei. Ich berge mein Leid, aber ich fühle es immer. Ich bin erniedrigt vor mir und ich fürchte, Felix, auch vor dir. Denn ich habe mir mein Unglück selbst bereitet, ich bin zu herzlich gewesen gegen Fremde und ich habe ihnen ein Recht gegeben über mich.«

»Du bist erzogen im Glauben an die Autorität. Wer löst sich von frommer Gläubigkeit ohne Schmerzen?«

»Ich bin erwacht, Felix. Antworte mir noch einmal,« fuhr sie mit stockendem Athem fort, »wie kommst du zu mir zurück?«

»Als ein müder, irrender Mann, der das Herz und die Vergebung seines Weibes sucht.«

»Was hat dir dein Weib zu vergeben, Felix?« frug sie wieder.

»Daß mir die Augen geblendet wurden bei meinem Suchen und daß ich der nächsten Pflicht vergessen, um ein Traumbild zu jagen.«

»Ist das alles, Felix? Hast du mir dein Herz zurückgebracht, wie es sonst gegen mich war?«

 

»Liebe Ilse,« rief der Gatte sie umschlingend.

»Ich höre den Ton deiner Liebe,« rief sie leidenschaftlich und warf ihre Arme um seinen Hals. Sie zog ihn in die Grotte, strich ihm mit den Händen die Wassertropfen aus dem feuchten Haar und küßte ihn auf den Mund. »Ich halte dich, geliebtes Leben, ich klammere mich fest an dich und keine Gewalt soll mich mehr von dir scheiden. Hier sitze, vielduldender Wanderer, ich halte deine Schultern und dein Haupt, laß mich aus deinem Munde hören allen Kummer, den du erlebt.«

Der Gelehrte hielt sein Weib im Arm. Er fühlte ihr Beben, als er von seinen Abenteuern berichtete. »Mich hetzte heißer Zorn und Angst hinter dem Fürsten her auf dem Wege nach Rossau,« schloß er seinen Bericht, »unerträglich schien mir der Aufenthalt beim Wechsel der Pferde. Unten in der Stadt traf ich ein Wagengetümmel, ärger wie am Markttag, vor der Herberge Gewirr der Räder, Geschrei der Menschen, Landleute und Lakaien des Hofes, welche nicht über das Wasser kamen. In der Stadt erfuhr ich von Fremden, daß der Feind unseres Glückes durch die Hand des Schicksals getroffen ward, die in dem Wasser nach seinem Leben schlug. Man rief mir entgegen, daß die Brücke zu dir gebrochen sei, ich sprang aus dem Wagen, um den Fußpfad über die Berge zu suchen und den Weg hinter dem Garten. Da fuhr mir der Hund unseres Hauswirths um die Beine, ein Kutscher unserer Stadt trat grüßend zu mir und erzählte, daß er Fritz und Laura nach der Stadt gebracht, sie aber waren hinausgegangen, weit unten stromab einen Uebergang zu finden. Du magst denken, daß ich zu warten nicht vermochte.«

»Ich wußte, daß du diesen Weg suchen würdest,« rief Ilse. »Heut bist du zu mir gekommen, zu mir allein, nur mir gehörst du an, heut bist du mir auf’s Neue geschenkt, und zum zweiten Mal gelobst du dich mir. Die Menschenwohnungen um uns sind verschwunden, wir beide stehen einsam in dem wilden Geklüft der Zwerge, du, mein Felix, dem die ganze Welt gehört, der alle Geheimnisse des Lebens kennt, Vergangenes weiß und Künftiges ahnt, du hast jetzt nichts als die Decke dieser Felskluft und das Grastuch der armen Anna, worein ich dir die müden Glieder hülle. Noch ist der Stein warm, und ich streue dir das Gras unseres Berges zum Lager. Nichts hast du in der Wildniß, mein Held, als Fels und Kraut und die Ilse an deiner Seite.«

Jetzt ist stille Nacht, leiser rauscht die Strömung, um die Brombeerranken über der Höhle hängt sich der weiße Nebeldunst zu dichtem Vorhange. Dämmrige Schemen gleiten das Thal entlang, sie schweben in langem, weißem Gewande am Felsthor vorüber, hinab in das Freie, wo sie ein frischer Luftzug zerweht. Hoch oben spannt der Mond sein weißes schimmerndes Zelt, aus Lichtstrahlen und Wasserdunst gewebt, über das Thal, und lustig lacht der alte Gaukler herab auf die Felsgrotte. Wie das täuschende Mondlicht die Sterblichen neckt durch wesenlosen Schein, so necken sie sich selbst durch die Bilder ihrer Phantasie, in Liebe und Haß, in Laune und Zorn; ihr Leben verrinnt, indem sie ihrer Pflicht gedenken und dabei irren, die Wahrheit suchen und dabei träumen. Der Geist fliegt hoch und das Herz schlägt warm, aber der Kobold Phantasie wirtschaftet unablässig zwischen dem Ernst des Lebens, der Klügste täuscht sich selbst, und den Besten betrügt sein Eifer.

Schlummre in Frieden, Frau Ilse. Du sitzest auf der Steinbank und hältst das Haupt deines Gatten im Schoß, selbst in der Seligkeit dieser Stunde fühlst du noch das Leid, das dir und ihm geschehen, und ein leiser Seufzer schwirrt wie ein Nachtfalter an dem Gestein der Höhle. Schlummre in Frieden. Denn du hast in diesen Wochen erlebt, was dir Gewinn wird für alle Tage deiner Zukunft. Du hast gelernt, aus der Tiefe deines eigenen Lebens Urtheil zu holen und entscheidenden Entschluß. Sieh, Ilse, der leichtgebauten Erzählung von dem, was du erlittest, wollte nicht geziemen, die hohen Fragen über das Ewige, die du erhobst, den Zweifel und deine Gewissenskämpfe einzeln aufzuzählen. Das wäre zu schwere Ladung für den flüchtigen Nachen. Aber wie der rudernde Schiffer, welcher das Auge nach unten richtet, doch die Himmelswolken im Wiederscheine der Fluth erkennt, so wird deine innere Befreiung aus dem Wiederschein deiner Gedanken sichtbar, aus Antlitz und Geberde und aus deinem Thun.

Schlummert ruhig, ihr Kinder des Lichtes, manche Hoffnung ward euch getäuscht und mancher holde Glaube ist durch rauhe Wirklichkeit zerstört. Gestalten vergangener Zeit, Gestalten, die ihr mit Ehrfurcht in eurem Herzen getragen, haben lebendig auch in euer Leben gegriffen. Denn was der Mensch denkt und was der Mensch träumt, das gewinnt eine Gewalt über ihn; was einmal in die Seele gefallen, das wirkt lebendig darin fort, erhebend und treibend, herabziehend und zerstörend. Auch um euch erhob sich ein Spiel phantastischer Träume. That es euch weh in einzelnen Stunden, die Kraft eures Lebens hat es doch nicht geschädigt, denn die Wurzeln eures Glückes liegen so tief, als dem Menschen, der vergänglichen Blüthe der Erde, im Boden zu haften vergönnt ist. Schlummert friedlich unter dem Dach des wilden Felsens, Wärme haucht der Stein um euer Lager, und die uralte Wölbung der Decke spannt sich schützend über die müden Augen. Um euch ruht und träumt der Wald; am Eingange der Höhle sitzen die alten Bewohner des Felsens, weiß nicht, sind es die Erdmännchen, an welche Ilse nicht glaubt, oder sind es alte Freunde des Gelehrten, die kleinen gaißfüßigen Pane, welche ihr Waldlied auf der Rohrpfeife blasen. Sie halten ihre Finger an den Mund und hauchen zuweilen leise in ihr Rohr, daß es zu dem Rauschen des Wassers tönt, wie der sanfte Laut eines schlafenden Vogels.

5.
Tobias Bachhuber

Ilse berührte leise das Haupt des Gatten, welches in ihrem Schoße lag. Felix schlug die Augen auf, schlang den Arm um sein Weib und sah einen Augenblick befremdet auf die wilde Umgebung. Wie ein weißer Vorhang schwebte der Nebel vor dem Bogen der Höhle, der erste Schimmer des Morgens färbte in dem dunklen Gewölbe einzelne vorspringende Zacken mit hellerem Braun, das Rothkehlchen sang, und die Amsel pfiff, das holde Licht des Tages war nahe. »Hörst du nichts?« flüsterte Ilse.

»Die Vögel singen, und das Wasser rauscht.«

»Aber unter uns im Berge arbeitet eine fremde Gewalt. Es wühlt und stöhnt.«

»Es ist ein Waldthier,« sagte der Professor, »ein Fuchs oder ein Kaninchen.«

Lauter wurde das Geräusch um den Sitz der Beiden; Etwas stieß an den Stein der Bank, arbeitete und seufzte wie ein Mann, der eine schwere Last trägt.

»Sieh,« flüsterte Ilse, »es kommt heraus, es schleicht um unsere Füße, dort sitzt das fremde Ding, es hat glänzende Augen, es hat einen blitzenden Mantel um.«

Der Professor stützte sich auf seine Hand und schaute nach der dunklen Stelle am Boden, wo eine kleine Gestalt saß mit bärtigem Gesicht, den Leib verhüllt in steifem, schimmerndem Gewande.

Die beiden Gatten sahen regungslos auf die Erscheinung.

»Glaubst du jetzt an die Geister des Ortes?« frug leise der Gatte.

»Ich fürchte mich, Felix, ich sehe deutlich das Gold des Kleides, ich sehe einen kleinen Bart und ein häßliches Gesicht.« Sie erhob sich.

»Bist du der Zwergkönig Alberich?« frug der Professor, »und liegt hier der Nibelungenhort?«

»Es ist der rothe Hund,« rief Ilse, »er hat ein Röckchen an.«

Der Professor sprang auf, der Hund legte sich ihm winselnd vor die Füße; der Gelehrte beugte sich nieder, fühlte einen fremden Stoff um den Leib des Hundes und riß die Hülle ab. Er trat in den Eingang und hielt sie gegen das Dämmerlicht; es war alter vermoderter Stoff mit Goldfäden durchwirkt. Der Hund fuhr befreit von seiner Last mit Geknurr aus der Höhle. Der Professor sah lange auf das zerschlissene Gewebe, ließ den Lappen fallen und sagte ernsthaft: »Ilse, ich bin am Ziel meines Suchens. Dies sind die Ueberreste eines geistlichen Meßgewandes. Der Hund hat dies aus einem Loch gezogen, in das er spürend gekrochen war, der Schatz der Mönche liegt hier in der Höhle. Ich bin fertig mit meinen Hoffnungen. Vor wenig Tagen hätte mich diese Entdeckung schwindeln gemacht, jetzt liegt eine so finstere Erinnerung darüber, daß mir die Freude an Allem, was die Tiefe bergen mag, fast geschwunden ist.«

Am andern Ufer wurden Stimmen laut; Hans rief wieder durch den Nebel ein Holla, er grüßte die Schwester und Felix, welche auf die Platte vor der Höhle traten, mit lautem Jubelruf: »Das Wasser ist gefallen.« Die andern Geschwister stürmten nach, traten dicht an das Wasser, jauchzten und schrieen; Franz brachte ein Butterbrod in Zeitungspapier und erklärte seine Absicht, dies Frühstück hinüberzuwerfen, damit die Leute drüben nicht verhungerten. Die Kinder bekämpften diesen Entschluß, und eifrig wurde über einen Plan gehandelt, Bindfaden an einem Ball überzuwerfen und das Butterbrot daran zu befestigen. Das Tagesleben des Gutes klang wieder in gewohnter Weise.

»Ist Fritz angekommen?« rief der Professor über den Strom.

»Sie sind noch in Rossau,« rief Hans, »die Brücke ist erst gegen Morgen fertig geworden. Herr Hummel ist auf und hinab.«

Auch der Vater kam, gefolgt von einem Trupp Arbeiter, welche Balken und Breter herzutrugen. Die Männer gingen ins Wasser und trieben dort eine Unterlage in den weichen Boden, auf der sie einige schlanke Baumstämme über das Wasser legten. Der Professor zog an dem zugeworfenen Seile; nach stündiger Arbeit war ein schmaler Steg errichtet. Der Landwirth war der erste, der zu seinen Kindern herüberkam. Die Männer wechselten ernsten Gruß. »Haben die Leute am Tage eine Stunde Zeit,« sagte der Professor, »so mögen sie hier noch ein letztes Werk thun; der Versteck des Mönches war in dieser Höhle.«

Zu derselben Zeit stieg Herr Hummel mit schnellen Schritten zur Stadt Rossau hinab. Noch arbeiteten die Zimmerleute über der Brücke, er warf einen bedenklichen Blick auf die Stelle, wo er im Wasser die Füße des jungen Prinzen gefaßt hatte, und brummte: »Er ging unter wie eine Kanonenkugel. Tüchtigkeit zur See fehlt diesem Volke oben und unten, sie haben in der ganzen Gegend nicht einmal einen Kahn. Vor zwanzig Jahren soll einer hier gewesen sein, wie das Gerücht geht; er ist zu Kaffeholz zerschlagen. Der beste Dank an diesen Bielstein für die Unruhe, die wir ihm machen, wird sein, daß ich ihm einen Kahn unter seine Strohbündel schicke.«

Mit diesem Vorsatz trat er in die Thür des Lindwurms. Dort traf er auf den verschlafenen Wirth. »Wo ist das junge Paar, das gestern Abend hier ankam?«

»Sie werden wohl noch oben sein,« sagte dieser gleichgültig, »die Rechnung ist noch nicht bezahlt.«

»Sie sind ein Gastwirth für reisende Faulthiere, aber nicht für Menschen,« rief Herr Hummel, »ich habe längst gewünscht, ein solches monströses Fossil lebendig zu erblicken. Natürlich, Ihr Hotel ist zu groß, als daß Sie sich um jeden gemeinen Reisenden kümmern könnten. Ihre Gäste putzen sich die Stiefeln, und Sie schreiben die Rechnung. Haben Sie die Güte, mir die Klingel zu Ihrem Portier nachzuweisen.« Als er zum Oberstock hinaufsteigen wollte, hörte er einen Freudenschrei. »Vater, mein Vater,« rief Laura die Treppe hinabstürzend; sie warf sich ihm an den Hals und hielt ihn fest mit so warmem Ausdruck ihrer Zärtlichkeit und Trauer, daß Herr Hummel gnädig wurde. »Gesindel!« rief er, »habe ich euch erwischt? Wartet, ihr sollt mir die Entführung theuer bezahlen.«

Der Doctor polterte ebenfalls von oben herab und begrüßte freudig Herrn Hummel. »Euer Wagen fährt mit den Sachen nach, wir gehen voran,« befahl Herr Hummel. »Wie war dein Don Juan?« frug er die Tochter leise.

»Vater, er hat wie ein Engel für mich gesorgt und die ganze Nacht auf einem Stuhl vor meiner Thür gesessen. Es war schrecklich, mein Vater.«

»Und wie gefällt dir eine solche Entführung? Sie ist poetisch, sie gibt große Gefühle, man vermeidet dadurch den Baumkuchen und die ungesalzenen Scherze des Mimen.«

Laura aber drückte sich an den Vater und sah ihn flehend an, bis Herr Hummel sagte: »Es war also eine Kur. Dann will ich gern die Rechnung des Lindwurms bezahlen.«

Sie schritten miteinander zum Thor hinaus, Hummel zwischen den beiden Entführten. »Wie war sie unterwegs?« frug er den Doctor vertraulich.

»Sehr liebenswürdig,« rief dieser, den Arm des Vaters drückend, »aber ängstlich, ich wurde viermal auf den Kutschbock geschickt, weil ihr die Reue ankam.«

»Warum sind Sie als Mann hinaufgeklettert?« frug Hummel entrüstet.

»Mir war lieb, daß sie das Ungewöhnliche der Reise so tief empfand.«

»Mir ist lieb, daß mein Pudel ins Wasser geht, sagte der Floh und ertrank,« spottete Herr Hummel. »Weshalb sahen Sie die Angst meines Wurms nicht ruhig an? Es hätte Ihnen manchen Tanz mit ihr erspart, wenn Sie gleich am ersten Tage fest gewesen wären.«

 

»Sie war noch nicht meine Frau, Herr Hummel,« sagte der Doctor.

»Also geduldige Bosheit,« versetzte der Vater, »Sie mögen Ihr Schicksal abwarten.«

Als sie in die Nähe des Hofes kamen, die Tochter am Arm des Vaters, den sie nicht mehr loslassen wollte, begann dieser: »Heut kein Wort über eure greuliche Entführung. Vor den Leuten hier habe ich deinen Unsinn vertuscht und einen Mantel umgehangen, damit du die Augen aufschlagen kannst. Ihr seid angemeldet und erwartet als ruhige Reisende. Wir bleiben heut hier zusammen, morgen spreche ich als Vater ein letztes Wort mit deiner Poesie.«

Vor dem Thore empfing die Wanderer fröhlicher Gruß der Hausgenossen. Der Professor und der Doctor lagen einander in den Armen. »Du kommst zu guter Stunde, Fritz, das Abenteuer, welches wir vor Jahren hier begannen, heut kommt es zum Ende. Der Schatz des Frater Tobias ist entdeckt.«

Nach einigen Stunden brach die ganze Gesellschaft zur Höhle auf, die Werkleute folgten mit Eisen und Hebebäumen.

Der Landwirth betrachtete den Steinblock im Hintergrunde der Höhle, unten an der Seite sah er ein Loch, dasselbe, aus welchem der Hund zur Oberwelt gestiegen war. »Diese Oeffnung ist neu,« rief er, »sie war jedenfalls durch einen Stein verschlossen, der hinabgefallen ist.«

Die große Steinbank wurde mit Anstrengung weggewälzt, eine Oeffnung, so weit, daß ein Mann ohne Schwierigkeit einkriechen konnte, zeigte sich dem Blick. Die Lichter wurden hineingehalten, sie erhellten eine abwärts geneigte Fortsetzung der Höhle, die noch mehre Ellen tief in den Berg hineinging. Es war ein wüster Raum. Sicher war er in der Mönchszeit trocken gewesen, aber er war es nicht mehr. Baumwurzeln hatten den zerklüfteten Felsen auseinandergetrieben, oder Schichten des Gesteins hatten sich in nasser Zeit gesenkt, es war vom Berge her ein Zugang für Wasser und Thiere entstanden, Waldstreu und Knochen bildeten eine wirre Masse. Die Arbeiter fuhren mit ihren Werkzeugen hinein und räumten auf, neugierig saßen und standen die Anwesenden umher, der Professor trotz seiner Ruhe, dicht an dem Schatze. Den Doctor aber litt es nicht lange zuzusehen, er zog seinen Rock aus und stieg in die Oeffnung. Vermoderte Stücke eines dicken Tuches wurden heraufgebracht, wahrscheinlich war der Schatz in einem großen Sack zu seinem Versteck gefahren worden. Dann kamen Altardecken und geistlicher Ornat.

Ein froher Ruf, der Doctor reichte ein Buch hinauf, das Antlitz des Professors war hoch geröthet, als er darnach griff. Es war ein Missale auf Pergament. Er gab es dem Landwirth, der jetzt mit großem Antheil auf den lange geleugneten Schatz blickte. Der Doctor reichte das zweite Buch, Alle drängten sich herzu, der Professor saß auf dem Boden und las, es war eine jämmerlich zugerichtete Handschrift des heiligen Augustinus. »Zwei,« sagte er, seine Stimme klang rauh vor innerer Bewegung. Der Doctor reichte das dritte Buch, wieder geistliche lateinische Hymnen mit Noten. Das vierte ein lateinischer Psalter. Der Professor hielt die Hand hin, und die Hand zitterte; »gib her,« rief er.

Dumpf klang die Stimme des Doctors aus der Höhlung: »Es ist nichts mehr darin.«

»Sieh genauer nach,« sagte der Professor mit stockendem Athem.

»Hier das letzte,« rief der Doctor und reichte ein viereckiges Bretchen heraus, »und hier noch eins.« Es waren zwei Bücherdeckel aus festem Holz, die Außenseite mit geschnitztem Elfenbein überzogen. Der Professor erkannte beim ersten Blick an der gebräunten Platte, in den abgestoßenen Figuren die byzantinische Arbeit der letzten römischen Zeit, eine Kaisergestalt auf dem Throne, über ihr Engel mit der Glorie. Großes Quadrat, Arbeit des fünften oder sechsten Jahrhunderts. »Es sind die Deckel der Handschrift, Fritz, wo ist der Text?«

»Kein Text vorhanden,« tönte wieder die dumpfe Stimme des Doctors.

»Nimm das Licht und leuchte.« Der Doctor nahm auch die zweite Leuchte hinein, er fuhr mit Hand und Hacke an jedem Punkte des Felsens umher, er warf die letzte Nadel Waldstreu hinaus, und den letzten Ueberrest des Sackes. Es war nichts von der Handschrift zu sehen, kein Blatt, kein Fidibus. Der Professor sah auf die Deckel. »Man hat sie abgerissen,« sagte er tonlos, »wahrscheinlich hielten die Mönche den römischen Kaiser in Elfenbein für einen Heiligen.« Er hielt die Deckel an das Licht, auf der innern Seite des einen waren unter Staub und Moder in alter Mönchschrift die Worte zu lesen:

»Von Ausfahrt des Schweigenden.«

Jetzt fuhr der Schweigende aus seiner Höhle, aber er schwieg, sein Mund blieb stumm für immer.

»Unser Traum ist zu Ende,« sagte der Professor gefaßt, »die Mönche haben den unleserlichen Text aus den Deckeln gerissen und zurückgelassen, die Handschrift ging wohl nicht mehr in den gefüllten Sack. Der Schatz ist verloren für das Wissen unseres Geschlechtes. Die Hand berührt, was einst Hülle der Handschrift war, und uns wird das schwere Gefühl nicht erspart, um das Unwiederbringliche zu trauern, als wäre es vor unsern Augen untergegangen. Wir aber kehren besonnen an das Licht zurück und thun unsere Pflicht, lebendig zu machen, was erhalten blieb, für unser Geschlecht und für die, welche nach uns sein werden.«

»Bachhuber hieß dieser Genius,« rief Herr Hummel, »er war seinem Zeichen nach ein Esel.«

Der Landwirth aber legte die Hand auf die Schulter des Sohnes. »Gegen den Landwirth habt ihr Gelehrten zuletzt doch Recht behalten,« sagte er. »Schließt die Oeffnung wieder mit der Steinbank,« befahl er den Arbeitern, »die Höhle soll werden, wie sie war.«

Still kehrte die Gesellschaft zum alten Hause zurück, die Knaben trugen die Bücher, die Mädchen die Bündel zerschlissener Mönchsgewänder, sie machten Pläne, die Goldfäden für sich herauszuziehen, der Professor hielt die Deckel der verlorenen Handschrift.

Als sie das Haus betraten, klapperte von der andern Seite Hufschlag, der Landwirth trat in die Thür, der alte Oberförster hielt auf seinem Rappen an. »Ich reite in Eile über den Hof, Bescheid zu sagen; bei uns geht’s drunter und drüber, Hofbeamte, Minister, von allen Seiten werden Aerzte geholt, meine Leute sind sämmtlich fortgeschickt, ich muß selbst nach Rossau, einen Courier zu bestellen. Ich fürchte, mit dem Herrn steht’s schlecht, er erkennt Niemanden. Jetzt erwartet der Erbprinz noch die Ankunft des Leibarztes, sobald dieser die Erlaubniß gibt, wird die Gesellschaft nach der Residenz aufbrechen. An allem Schrecken ist dieser unglückliche Umbau meiner stillen Wohnung schuld. Noch Eins, weil mir’s gerade einfällt. Ihr Schwiegersohn sucht ja alte Papiere und Bücher. Da stehen bei uns noch einige Kisten mit solchem Plunder aus uralter Zeit, wo die Oberförsterei noch fürstliches Pürschhaus war, über der Thür ist unter der Tünche ein fremdes Wort zu erkennen: Solitudini, welches ›in der Einsamkeit‹ bedeuten soll. Die Kisten sind morsch, beim Bau werden sie doch von der Stelle geschafft. Ist’s bei uns ruhiger, dann könnte der Herr Professor vielleicht einen Blick darauf werfen.«

»Da ist auch das Lustschloß Solitude mit den echten Kisten der Beamten,« rief der Professor. »Ich thue keinen Schritt mehr nach jenem Hause.«

Der Doctor ergriff seinen Hut, sprach leise mit Laura und dem Landwirth. »Ich bitte mich für heut zu beurlauben,« sagte er hinausgehend.

Erst am Abend kehrte er zurück. »In den Kisten sind Baurechnungen vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts über Ausbesserungen am Klostergebäude und über diesen Hof. Außerdem einige Bände Corneille. Der Candidat, welcher nach Amerika ging, ist mit dem Oberförster verwandt.«

»Wir sind geneckt worden,« sagte der Professor ruhig. »Es ist gut, daß jeder Zweifel geschwunden ist.«