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Die Ahnen

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Sie hatte ihn gebeten, eine neue Rolle mit ihr durchzugehen, er hielt das Buch, soufflierte und las in ihren Szenen die Rollen der Gegenspieler; sie spielte ihre Partie vor. Dabei gerieten beide in Künstlereifer, auch er rezitierte lebendiger und nahm die Stellungen, welche der Moment verlangte. Als nun eine Szene von starker dramatischer Bewegung kam, eine Erklärung zwischen zwei Liebenden, welche nach dem Hin- und Herwogen der Leidenschaft einander in die Arme fliegen, da sprang Tina im Charakter ihrer Rolle und in der Begeisterung des Spieles auf ihn zu und warf sich ihm an die Brust; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, er hielt das schöne Weib und fühlte das Wogen warmer Empfindung an seinem Herzen. Da schloß er sie fester an sich und drückte ihr heiße Küsse auf Hals und Schulter. Sie lag eine Weile hingebend in seinen Armen, dann richtete sie sich langsam auf und in ihrem Antlitz zuckte eine Bewegung anderer Art, Trauer und Angst. Sie setzte sich kleinmütig in den Sessel und sagte leise: »Das hättest du nicht tun sollen, Viktor.«

»Täglich fühle ich mehr, wie schön du bist«, rief der entflammte Kamerad. »O zürne nicht, daß das Gefühl aufloderte und die Leidenschaft herausbrach, ich wollte dich nicht kränken.«

Tina aber nickte schmerzlich mit dem Haupte: »Ich wußte, so würde es kommen. Wie war deine Freundschaft so schön!« – und kräftig sich zusammennehmend, rief sie in verändertem Tone: »Du dummer Viktor! Du willst doch nicht mein Anbeter werden oder gar mein Liebhaber? Weißt du, was das heißt, mein Freund? Jetzt gehorche ich dir; wenn du aber küssen willst, wie du eben tatest, mußt du mir gehorchen, du mußt meine üble Laune aushalten, mußt mir Veilchenbuketts zutragen und dir gefallen lassen, daß ich sie beiseite werfe, wenn sie mir nach türkischem Tabak riechen. Finde ich ein Armband hübsch oder ein Spitzenmuster, so mußt du schnell danach laufen und nach dem Preise nicht fragen; du mußt deine Eifersucht – ich sehe dir an, daß du darin stark sein kannst – still hinunterdrücken und gegen andere Männer, denen ich einmal zulache, freundlich sein. Ich werde dich quälen und du mich, du wirst unglücklich sein und wirst zuletzt nicht danach fragen, wie mir zumute ist. Oh, sei kein Tor, Kamerad, und störe nicht den Frieden, in welchem wir jetzt miteinander leben.«

»Du weißt nicht,« rief Viktor widerspenstig, »wie sehr ich unter dem Zauber deines Wesens stehe. Das Kind, das ich einst geliebt, die Künstlerin und das schöne Weib vermag ich nicht mehr auseinanderzuhalten wie verschiedene Leben; für mich bist du immer die eine, nach der ich mich sehne und die ich begehre.«

Wieder sah sie traurig vor sich hin. »Den besten Teil hattest du,« sagte sie leise, »und du willst ihn vertauschen mit etwas anderem, was für uns beide ein Unglück wird. – Arme Tina! Noch einmal war die Unschuld der Kinderzeit in dein Leben zurückgekehrt und du warst so selig darin.« Die Tränen rollten ihr von den Wangen.

»Sprich nicht so zu mir, Mädchen,« versetzte Viktor, erschüttert durch diese Klage. »Traurig kann ich dich nicht sehen und unglücklich sollst du durch mich nicht werden; ich will mich in Zukunft besser behüten. Wenn dir unsere Kameradschaft als das größere Glück für dein Leben erscheint, so will ich mich zu beschränken suchen auf den Teil deines Herzens, den du mir zuwenden kannst, wie bitterlich schwer es mir auch werden mag.«

Sie sah ihn forschend an, und da er ihr die Hand bot, hielt sie diese fest und neigte das Haupt.

Nun ging es äußerlich wieder wie vorher, aber die harmlose Zufriedenheit, die Viktor gefühlt, war verschwunden. Unruhig beobachtete er seine Jugendfreundin und machte sich Gedanken über ihre Vergangenheit, über die Verhältnisse zu anderen Männern, die sie früher bereits gehabt oder die sie ihm wahrscheinlich verbarg, und es half ihm wenig, daß er sich selbst sagte, wie töricht solche Eifersucht gegenüber einer Künstlerin sei, welche aus engen Verhältnissen sich mühsam emporgearbeitet hatte und allen Gefahren und Verlockungen des Berufes und ungewöhnlicher Erfolge ausgesetzt gewesen war. Durch dies Grübeln und Zweifeln fielen zuweilen dunkle Schatten in den frohen Schein, der um den Teetisch der Künstlerin glänzte, Tina merkte die ungleiche Stimmung ihres Freundes, sie bewies ihm gegenüber unverändertes Zutrauen und bei Gelegenheit eine fast demütige Fügsamkeit in seinen Willen. Er hatte einst nebenbei erwähnt, daß ihr eines ihrer einfachen Hauskleider besonders gut stehe, sie trug es seitdem immer, sobald sie seinen Besuch erwarten konnte; er hatte gegen sie ein Buch gelobt, als er das nächste Mal kam, fand er es aufgeschlagen, obgleich sie sonst wenig las; er hatte sein Wohlgefallen an einer ihrer Kolleginnen geäußert, er fand die junge Dame seitdem öfter am Teetisch und merkte, wie Tina sich bemühte, diesen Gast im Gespräch zur Geltung zu bringen.

Als Viktor einst nach einem guten Künstlerabend neben dem alten Regisseur heimwärts ging, begann dieser in seiner Freude über die Schauspielerin: »Da hat unser Herrgott einmal etwas Gutes für das deutsche Theater zurechtgemacht, aber der Teufel wird es uns nicht gönnen und die Arbeit verderben.«

»Was fürchten Sie für ihre Zukunft?«

»Daß sie doch einmal irgend jemanden heiratet«, entgegnete der Schauspieler. »Das besondere Talent, welches sie besitzt, ist ihr vom Himmel nur unter Bedingungen verliehen, wie der Jungfrau von Orleans ihre Stärke. Einer Schauspielerin wie dieser ist die Liebe, ja auch die Hingabe an den Geliebten nicht verwehrt; aber dies muß ein Spiel bleiben, welches ein Ende nimmt. Für Haushalt und Ehepflicht, die mancher anderen Künstlerin zur Kräftigung gereichen, ist diese Natur nicht robust genug. Ich kenne sie seit Jahren.«

Da wagte der eifersüchtige Viktor einzuwerfen: »Sie hat doch sicher schon manches nähere Verhältnis zu Männern durchgekämpft.«

»Das könnte aus ihrem Spiele schließen, auch wer es nicht weiß,« antwortete der Alte, »aber sie ist immer mit ihren Leidenschaften zu rechter Zeit fertig geworden, und diese haben ihre physische und geistige Kraft nicht vermindert. Ich will ihr gern alles nachsehen, nur soll sie sich für keinen Mann opfern.«

Nach dieser Unterredung sah Viktor die Schauspielerin einige Tage nicht. Die Kammerherrin war mit Valerie nach der Residenz gekommen, die Damen wohnten bei Tante Minchen und nahmen seine Dienste sehr in Anspruch. Während ihrer Anwesenheit äußerten sie den Wunsch, die fremde Künstlerin in einer ihrer großen Rollen zu sehen, und Viktor mußte sie ins Theater begleiten. Ihm erschien dies wunderlich. Er saß nicht an seinem gewöhnlichen Platz, wo ihn Tina zu sehen wünschte, und empfand es wie ein geheimes Unrecht gegen die Freundin, daß er ihrem Spiel neben Valerie zusehen sollte. Vielleicht täuschte er sich, doch ihm kam vor, als ob die großen Augen Tinas von der Bühne unruhig und besorgt nach ihm und seiner Nachbarin blickten, besonders als Valerie sich einmal zutraulich nach ihm wandte und leise zu ihm sprach. Wie er einige Tage darauf die Gäste nach dem Bahnhof geleitet hatte, eilte er zur Wohnung der Schauspielerin. Es war nicht die Stunde, wo er sonst zu kommen pflegte, und er fand Tina in Beratung mit ihrer Gesellschafterin, die zu andrer Zeit in einer Hinterstube für die Garderobe der Künstlerin sorgte. Tina nickte ihm freundlich zu, doch war ihr Blick umwölkt, als hätte sie geweint. Über den Sesseln lagen Theaterroben, ein Hermelinmantel und anderer Königsstaat. »Es ist meine Rüstung für die nächste Vorstellung, du kommst in meine Schneiderstunde.« Sie gab der Gehilfin die nötigen Aufträge und sandte sie hinaus, dann trat sie vor Viktor und fragte heftig: »Wer war die junge Dame neben dir in der Loge?«

Mit einem Anflug von Befangenheit gab Viktor Auskunft und setzte hinzu: »Es ist die nächste Freundin meiner Schwester.« Tina sah ihn durchdringend an. »Sie ist schön!« sagte sie in herbem Tone, kehrte ihm den Rücken zu und setzte sich in einen Sessel. Viktor erwartete schweigend, was kommen würde. Nach einer Weile begann Tina, immer noch abgewandt, mit leiser Stimme: »Nimm den Shakespeare, Viktor, und schlage mir im Romeo den zweiten Akt an von den Worten: ›Oh, wie sie auf die Hand die Wange lehnt.‹«

Er nahm und las. Nach einigen Zeilen stand sie auf, wandte sich ihm zu und spielte die Balkonszene so lieblich und innig und doch mit so starker unterdrückter Leidenschaft in ihn hinein, daß er in einem Schauer von Entzücken und Schrecken die Empfindung hatte, als ob sich ihm das Haar auf dem Haupte sträube. Am Ende der Szene fuhr sie plötzlich fort: »Hinab, du flammenhufiges Gespann« und warf sich bei den Worten: »Nacht, gib mir meinen Romeo« mit voller Leidenschaft an seine Brust, der Schal glitt ihr von den Schultern, sie schlug die Arme um seinen Hals und seufzte leise: »Da hast du die Schulter, küsse mich!« Das tat er. Sie aber entwand sich ihm wieder, warf den Purpurmantel um ihren entblößten Nacken und sprach, indem sie mit hinreißender Zärtlichkeit den Arm gegen ihn ausstreckte: »Geh, Lieber, heut abend erwarte ich dich.«

Mit beflügeltem Schritt eilte Viktor durch die Straßen nach seiner Wohnung; ihm pochte das Herz, daß er die Schläge fühlte. Er fand die Straßen mit Menschen gefüllt, ein unruhiges Hin- und Herwogen, in den Haufen pfeifende Straßenbuben, und viele wilde Gestalten, die er so zahlreich in den belebten Stadtteilen nie gesehen. Ihn aber dünkte alles wie Geschrei der Raben auf dem Baume, er sprang in seiner Wohnung die Treppen hinauf, legte die Uhr auf den Tisch und schritt auf und ab. Es wurde dunkel; aus der Ferne tönte ein Brausen herauf, dazwischen einzelne Schreie, wie Geräusch der fernen Brandung und Gekrächze der Möwen, zuweilen wurde es auf Minuten still, dann erhob sich aufs neue das Getöse und Rauschen näher und drohender. Viktor sah wieder nach der Uhr. Unten dröhnte der regelmäßige Tritt marschierender Soldaten, Kommandorufe und der Anschlag der Gewehre auf dem Pflaster. Aus der Ferne aber klang ein Dröhnen und Rasseln, wie von Lastwagen, – waren das Geschütze? Horch, ein scharfes Knattern, – so klangen Schüsse! Da ergriff er seinen Hut und sprang hinaus auf die Straße. Die Straße war leer wie in tiefer Nacht, die Türen geschlossen; er eilte an den Häusern entlang, um zu ihr durchzudringen, die in dieser Stunde ihn zitternd erwartete. Der Weg war erhellt von einem rötlichen, unheimlichen Lichte. Wie er um die Ecke bog, sah er den ganzen Himmel in heller roter Glut, feurige Lohe und schwarze Rußwolken wälzten sich in wildem Tanze über den Häusern dahin. Ein Haufe von Männern und Weibern quoll ihm entgegen, die Gesichter blutlos, in den Augen Wut und Entsetzen; sie brüllten: »Mord! Heraus zur Hilfe!« Viktor sprang heran – auch ihm starrte das Blut in den Adern – auf einem Räderkarren, den sie vorwärts zogen, lag ein Mann in dem Kleid eines Arbeiters und ein halbwüchsiger Knabe, und beide waren getötet, das geronnene Blut klebte an Haaren und Kleidern. Wieder rannte er weiter, zu dem Schrecken kam ein wütender Zorn gegen die Bewaffneten, welche arme Leute niederschossen, und gegen eine Regierung, die so Furchtbares, Wahnwitziges geboten hatte.

 

Als er die nächste Straße erreichte, stand er in einem geschäftigen Haufen Arbeitender zwischen umgestürzten Wagen und ausgebrochenen Pflastersteinen, in dem Dämmerlicht bewegten sich schweigend die dunklen Gestalten, fahl die Gesichter und glanzlos die Augen, gleich gespenstigen Schatten, welche der Tod aus seinem Reiche heraufgesandt hat. Eine heisere Stimme rief dem Zornentflammten in das Ohr: »Zur Hilfe dem Volke, wenn du ein Mann bist!« – ein Gewehr lag in Viktors Hand, er selbst stand hinter den Steinen und stierte nach vorwärts, und über ihm pfiffen die Kugeln, die aus einer Salve gegen ihn und seine Umgebung heranflogen. In demselben Augenblick hörte Viktor von der Seite einen französischen Anruf, und er hörte, wie der Mann, welcher an der Barrikade gebot, einem Genossen in polnischer Sprache Befehle gab. Da schlug er den Kolben des Gewehres, welches er in der Hand hielt, gegen die Pflastersteine, daß der Kolben in Stücke sprang und der Schuß zwischen seinen Fingern hindurch an der Schläfe vorbeikrachte, er selbst setzte mit einem Sprung über die Barrikade in die gesperrte Straße, dem rollenden Gewehrfeuer entgegen. Eine neue Salve! Wieder hörte er das Pfeifen der Kugeln um sein Haupt, während er längs der Häuser dahinlief; auch vor ihm war die Straße durch einen Steinwall gesperrt, dort tobte der Kampf. Er sah sich um nach einem Obdach – alle Türen verschlossen; doch er kannte die Gegend, auf seiner Straßenseite lag ein Weinkeller, den er oft besucht hatte, er sprang in den Schutz der Türbrüstung und pochte in der Art, wie vertraute Gäste pflegten, wenn sie einmal am späten Abend den Eintritt suchten. Nach einer Weile rasselte der Riegel, er warf sich hinab, und der erschrockene Küfer schloß hinter ihm zu, er war gerettet.

Die Schenkstube fand er leer, nur ein Gast saß still in der Ecke, den Kopf auf den Arm gestützt – es war Henner. Viktor war seinem alten Gegner seither öfter begegnet und hatte mit ihm zuweilen gleichgültige Reden ausgetauscht. Heut trat er zu ihm und bot ihm die Hand, welche Henner ergriff und festhielt. So saßen die beiden nebeneinander, während draußen die Salven krachten und die Fenster von dem Donner schwerer Geschütze klirrten.

»Oh, du mein armes Preußen«, rief Viktor. »Die Vormacht sollten wir sein für andere deutsche Stämme, und jetzt liegen wir am Boden in einem Siechtum, das uns anderen verächtlich und den Feinden zur Beute macht.«

»Was würde Ihr Vater dazu sagen?« fragte Henner ruhiger. »Er gehört zu den wenigen Alten, die über ihrem Schlachtruf: Mit Gott, für König und Vaterland! das Verständnis für den Jammer der neuen Zeit nicht verloren haben.«

»Vielleicht wird er sagen,« antwortete Viktor, »daß die Kanonen jetzt dem Sohne dieselbe Lehre zu Ohren donnern, wie einst dem Vater. Die Stunde ist da, wo der Preuße die Sorge um sein eigenes Leben und seines Herzens Gelüst vergessen muß in der Todesnot seines Vaterlandes.«

»Draußen töten sie einander, und wir sitzen müßig hier«, sagte Henner.

»Ich habe mein Gewehr an den Steinen zerschlagen, weil ein fremder Emissär mir es in die Hand drückte«, versetzte Viktor finster.

»Ist aber dieser wilde Aufstand eine Betörung unserer Arbeiter und überlegtes Werk fremder Anstifter,« sagte Henner, »wie kommt es, daß wir alle davon ergriffen sind und kaum der Versuchung widerstehen, Pflastersteine aufzureißen? Wer trägt die Schuld, daß ein redliches und loyales Volk, welches durch so große Erinnerungen mit seinem Fürstenhause verbunden ist, einem solchen plötzlichen Ausbruch seines Grimmes verfällt?«

»Vielleicht sind Regenten und Regierte beide erkrankt, jeder in seiner Weise, und uns allen tut Genesung not«, erwiderte Viktor.

»Was aber vermag der einzelne für solche Besserung zu tun?«

»Zuerst sich selbst gesund zu machen«, rief Viktor. »Der Vater hat mir erzählt, wie ihm einst in der jammervollen Niederlage, als der Staat Friedrichs des Großen zerbrach, der Ruf in die Seele drang, daß auch er sich für das Vaterland hinzugeben habe. Er konnte in seinem Beruf als Arzt dienen und mit seinem Säbel als Soldat. Ich bin nichts als Schriftsteller und habe die ersten frischen Jahre meiner Tätigkeit auf Dinge verwandt, die mir in diesem Augenblick so weichlich und ungesund erscheinen, daß ich mich ihrer schäme. Dies Lippenfechten über schöne Attitüden und über die Geheimnisse einer ästhetischen Wirkung, und ob der Schauspieler das Bein so oder anders setzen soll. Pfui! – unterdes schlich der Haß, die Verzweiflung, die Mordlust in die Seelen der Menschen, neben denen ich täglich vorbeiging. Aus einer furchtbaren Betörung erwache ich. Ihnen aber gelobe ich in dieser Stunde, Henner, ich tue ab von mir jede andere literarische Tätigkeit und all mein üppiges Schwelgen im Lande der Träume. Ich will eine Antwort suchen auf die Frage: Wie uns und unser geliebtes Preußen retten? Der Vater hatte es besser, er sah den Weg vor sich.«

»Damals tat es der Säbel,« sagte Henner, »jetzt vielleicht das gesprochene und gedruckte Wort. Was Sie auch wählen mögen, lassen Sie mich teilhaben an Ihrer Arbeit. Ich bin nicht reich, aber ich kann als unabhängiger Mann leben, und ich denke, diese Freiheit von jeder dienstlichen Abhängigkeit wird jedem nötig sein, welcher von heut ab für die Erhebung seines Vaterlandes tätig sein will.«

Es war draußen stiller geworden, nur einzelne Schüsse und gellende Schreie wurden gehört. An die Tür des Kellers donnerten heftige Kolbenstöße. Viktor sprang auf, ein Offizier mit einer Abteilung Soldaten drang in das Gewölbe, ihnen allen lag in Antlitz und Gebärde das furchtbare Grausen, welches den Menschen entstellt, wenn er andere gewaltsam vom Leben scheidet.

»Hierher hat er sich geflüchtet«, schrie der Offizier. »Packt ihn – zeigen Sie Ihre Hand!« Viktors Hand war von Pulver geschwärzt. »Nieder mit ihm!«

Henner sprang vor, warf sich zwischen die Wütenden und ihr Opfer und drückte ein Bajonett zur Seite, der Stich ging durch Viktors Arm und Seite, das Blut strömte herab. »Er ist unbeteiligt wie ich«, schrie Henner dem Leutnant entgegen.

»Er hatte ein Gewehr in seiner Hand«, sagte der Offizier grimmig. »Dies ist keine Zeit, Herr von Henner, um für andere einzutreten.«

»Er hat das Gewehr eines Empörers an den Steinen zerschlagen.« Der Offizier wandte sich ab und gebot: »Vorwärts, durchsucht den Keller.«

Die beiden blieben allein, Viktor ließ sich schwerfällig nieder. »Das ist auch eine Art von Katharsis«, sagte er mit trübem Lächeln und legte den Arm auf den Tisch. Henner eilte dem Offizier nach, und Viktor vernahm die kurzen Reden einer aufgeregten Verhandlung; ihm war jetzt auf einmal so ruhig zumute, als ginge das ganze wilde Treiben ihn wenig an; auch fühlte er den Schmerz der Wunde nicht sehr. Der Leib war matt, aber der Geist war klar, und er dachte bei sich: Der unnütze Lärm wird aufhören, dann kommt eine friedliche Zeit, wo ich mit Henner wieder zusammen bin. Darüber wurde ihm der Kopf schwer und sank nach vorwärts, aber er hörte deutlich Henners Stimme, als dieser sich über ihn neigte. »Ich habe durchgesetzt, daß wir nicht abgeführt werden, wir müssen hier aushalten, der Kampf dauert fort und die Wege sind gesperrt. Wir helfen Ihnen die Treppe hinauf in die Wohnung des Wirtes. Nebenan ist das Schild eines Arztes, er soll Sie verbinden.« Viktor sah ihn dankbar an. Er wurde auf einem Stuhl in die oberen Zimmer getragen, der Arzt kam und untersuchte die Wunde; der Stich war durch den Arm und an den Rippen vorbeigegangen, und die Verletzung größerer Adern hatte den starken Blutverlust herbeigeführt. Viktor legte den Kopf müde auf das Lager, und Henner saß neben ihm.

Erst gegen Mittag des nächsten Tages war der Verkehr so weit geöffnet, daß Viktor in einem Tragstuhle nach seiner Wohnung geschafft werden konnte. Die Träger kletterten über die Öffnungen zerrissener Barrikaden, und der Wunde sah auf dem Wege die Spuren des kläglichen Kampfes. Als in seiner Wohnung alles zur Pflege eingerichtet war, rief er Henner an sein Bett und sprach ihm leise in das Ohr. »Sage ihr, ich bin in Blut getreten, als ich zu ihr ging. Wenn ich das Leben behalte, so gehört es nicht mehr ihr, sondern einer Pflicht, die noch älter ist, als meine Liebe zu ihr.« Henner ergriff den Hut und entfernte sich.

Als Henner zurückkam und seinen neuen Kameraden leidlich bei Kräften fand, fragte er: »Darf ich dir übergeben, was mir anvertraut wurde?« Viktor nickte, und der andere legte ein Billett auf das Lager und öffnete das Siegel. Tina schrieb: »Lebe wohl für immer, mein geliebter Viktor; ich reise morgen ab. Gedenke in Freundschaft deines unglücklichen Kameraden!«

»Was sagte dir die Schreiberin?« fragte Viktor.

»Sie weinte, da sie mir den Brief gab, und vermochte nicht zu reden. Der Fürst war bei ihr.«

»Lebe wohl, Tina!« sagte Viktor vor sich hin, »ich denke dein.«

Als er eine Woche später nach wohltätigem Mittagschlummer die Augen aufschlug, glaubte er noch zu träumen, denn die Schwester stand neben seinem Bette.

»Der Vater schickt mich der Tante zu Hilfe«, sagte das gerührte Käthchen nach der ersten freudigen Begrüßung. »Henner hat zuerst von deiner Verwundung geschrieben, und seitdem jeden Tag von deiner Besserung.«

»Ich habe lange seinen Wert verkannt,« antwortete der Bruder, »er ist mir in schwerer Stunde ein treuer Freund geworden. Ihm verdanke ich, daß ich nicht ein Opfer jener Unglücksnacht wurde.«

Bei diesem Lobe des Freundes leuchteten Käthes Augen, und eine hohe Röte zog über ihr Antlitz, so daß der Bruder sie forschend ansah; da beugte sie sich zu ihm herab und drückte ihr Haupt an das seine. »Bist du ihm gut?« fragte er leise. Er fühlte, daß sie nickte. »Und er dir.« »Ich glaube auch«, sagte sie fast unhörbar.

»Es ist noch jemand aus der Heimat hier,« fuhr Käthe nach einer Weile mutiger fort; »darf sie hereinkommen? Sie wollte mich in diesen schrecklichen Wochen nicht allein lassen, und sie wohnt auch bei der Tante.«

Valerie trat herein und setzte sich still auf den Stuhl an seinem Lager.

Die Heilung ging nur langsam vonstatten. Sobald für Viktor ein Umzug möglich wurde, bestand die Tante darauf, daß er bis zur vollständigen Genesung zu ihr ziehen sollte.

»Der Stich hat mir einen guten Dienst getan,« sagte Viktor, »er überhebt mich jeden Tag der Notwendigkeit, diesen widerwärtigen Karneval der Gasse anzusehen. Liebe Tante, geh an das Bild des Alten Fritz und entferne den Trauerflor; die Presse ist frei, und Henner und ich werden Zeitungsschreiber.«