Wie isses nur tödlich

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Wie isses nur tödlich
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Wie isses nur tödlich

1  1. Geschichte: Die Boßeler

2  2. Geschichte: Die Schrankenwärterin

3  3. Geschichte: Die Pfandsucherin

4  4. Geschichte: Das Dachbodenfenster

5  5. Geschichte: Der Beichtstuhl

6  6. Geschichte: Das Arboretum

7  7. Geschichte: Die Kläranlage

8  8 . Geschichte: Der Strandkorb

9  9. Geschichte: Der Schleusenwärter

10  10. Geschichte: Der Zeitungsbote

11  11. Geschichte: Goldene Hochzeit

12  12. Geschichte: Der Einkaufswagen

13  13. Geschichte: Hausbesuche

14  14. Geschichte: Nachtschicht - Bertas letzter Fall

1. Geschichte: Die Boßeler

Akke Döhring-Feyke sah an diesem frühen Samstagmorgen mit besorgter Miene in den Himmel. Am Vortag hatte es noch sehr gestürmt und geregnet. So langsam beruhigte Akke sich. Seit Tagen beobachtete er den Wetterbericht und nach den Tagesschaunachrichten durfte seine Frau Nelli in diesen Tagen während des Wetterberichtes im Fernsehen keinen Mucks von sich geben. Akke sah und hörte sich angestrengt den Wetterbericht nicht nur an, nein, er saugte die Informationen nur so aus dem Fernsehgerät. Neben seiner Fernbedienung für die Flimmerkiste hatte er rechtzeitig einen Kugelschreiber und seinen Block gelegt, um sich die wichtigen Daten zum Wetter aufschreiben zu können. Auch prüfte Akke schon mit einer beunruhigenden Manie die Messgeräte im Haus für den Luftdruck in Hektopascal, starrte mit einem bedenklichen Blick auf das häusliche Messgerät aus Bayern, das mit knorrigen Wurzeln dekoriert an der Wand die Zimmertemperatur, die Luftfeuchtigkeit und den Luftdruck maß . Diese Station war im letzten Urlaub in Bayern mit in den vollen Koffer gestopft worden. In dem Arbeitszimmer von Akke hing an der Decke ein Glasgefäß mit blau gefärbtem Wasser, ein sogenanntes Goethebarometer. Wenn der Luftdruck stieg, also sich schlechtes Wetter ankündigte, stieg ein Teil des Wassers in eine kleine gebogene Röhre. Allerdings konnte seine Frau Nelli ihm schon Tage vorher von einem drohenden Wetterumschwung durch ihre Kopfschmerzen berichten. Seine Frau war als Oberärztin in dem Landeskrankenhaus in der Psychiatrie in Emden tätig.

Akke war im Beruf Richter an dem Amtsgericht in Aurich und kümmerte sich um die hilflosen Personen in seinem Gerichtsbezirk. Er war der Betreuungsrichter und musste sich um Einweisungen in Altenheimen und in Krankenhäusern mit angegliederter Psychiatrie kümmern. Kein leichter Job, denn Akke musste sich jeden Fall selber ansehen und das bedeutete, dass er immer viel auf Achse war. Die Anzahl der Menschen, die an Demenz und Alzheimer erkrankten, nahm zu und Akke ging immer ganz lieb mit diesen Personen um. Er litt immer mit, wenn er hilflose Personen in deren Haus aufsuchen musste, die mit den ungewöhnlichsten Verkleidungen in ihrem Haus oder Wohnung herumliefen. Häufig wurde er von zuhause zu einem Notfall gerufen, wenn sich hilflose Personen ausschlossen ausgeschossen hatten und nur spärlich bekleidet auf der Straße herumirrten. Dann musste er als zuständiger Richter prüfen, ob eine sofortige Einweisung erfolgen musste oder nicht. Die Polizeibeamten waren immer ganz froh, wenn sofort ein Richter hinzugezogen werden konnte.

Aber Akke beobachtete das Wetter nicht aus beruflichen Gründen. Akke war der erste Vorsitzende des Boßel- und Klootschießer Verein Upgant-Schott und Marienhafe e.V. Der Ort Upgant-Schott liegt auf einer Linie von Greetsiel nach Aurich. Jedes Jahr am ersten Samstag im November veranstaltete dieser Verein mit seinen vierundsiebzig eingeschriebenen Mitgliedern auf der Kreisstraße einen Boßelwettbewerb. Beim Boßeln treten zwei Mannschaften mit jeweils zwei oder vier Gruppen, je nach Alter der Mitglieder, mit einer Hartgummikugel, die Holz genannt wurde, gegeneinander auf der Straße an. Das Holz sollte mit Schwung möglichst gerade auf der Straße, ähnlich wie beim Kegeln, eine große, gerade Strecke zurücklegen. Gut trainierte Boßeler schaffen es auch schon mal, das Holz zweihundert Meter weit auf der Straße zu rollen. Falls das Holz in den Graben kullert und das kommt häufig vor, wird es mit einem Stock, an dem ein kleiner Fangkorb befestigt war, aus dem Schlot, wie hier der Seitengraben heißt, heraus geholt. Das Klootschießen war von der Technik ähnlich, nur lag hier der Unterschied darin, dass der Wettkampf bei Frost auf dem Feld oder auf der Weide stattfand. Diese Sportart war älter als das Boßeln. Zurück zum Boßeln. Hinter jeder Mannschaft wird ein Bollerwagen gezogen, auf dem das Zielwasser, Speck und Würste mit frischem Brot gelagert werden. Regelmäßig wird angehalten, die Strecke nachgemessen, notiert und dann Bier und Korn getrunken. Es ist ja im November kalt und meistens hier in Ostfriesland diesig oder sogar richtig dick neblig. Da in der Mannschaft eine Menge an Mitgliedern liefen, müssen die Autofahrer mit Warnflaggen auf den Boßelwettbewerb hingewiesen werden. Die meisten Autofahrer aus Ostfriesland kennen das Spektakel, halten an und warten, bis die Würfe erfolgreich vorbei sind. Andere Autofahrer aus anderen Bundesländern halten ebenfalls an und sehen ganz fasziniert zu, was für einen Wettbewerb die Ostfriesen hier mit allem Ernst veranstalten. Am Ende der über Kilometer langen Strecke liegt immer ein gemütliches Lokal, wo es Grünkohl mit Pinkel, Bier und Köm gibt. Bei Pinkel handelt es sich um eine sehr leckere Grützwurst mit feinen Zutaten und der Köm ist schlicht der kalte Korn.

Akke hatte zusammen mit seinem zweiten Vorsitzenden Fokken Albers, der ersten Schriftführerin Heddine Altendorf und dem Jungendwart Uffe Helms in diesem Jahr die Tour ausgearbeitet. Sie waren die Strecke einige Kilometer abgefahren und teilweise sogar zu Fuß abgelaufen. Dabei waren die Gefahrenstellen in eine topografische Karte eingezeichnet und jede Straßenbiegung sogar mit den jeweiligen Gradkrümmungen aufgeschrieben und mit einem Leuchtmarker bunt gekennzeichnet worden. Die Planungsarbeiten waren streng geheim. Es kam aber immer wieder vor, dass sie während der Abgehphase Mitglieder vom Boßelverein trafen, die ganz besonders langsam an ihnen vorbeifuhren und sich wie Touristen verhielten: „Na, was machen Sie denn da, was haben Sie denn da für eine lange Angel mit diesem merkwürdigen Flechtkorb am Ende. Wollen Sie hier im Schlot Fische fangen? Schmecken die denn?“ Der Jugendwart Uffe Helms sagte dann nur: „Moin, Moin, fahr weiter, du Klugschnaker, und sag den Anderen nicht, wo du uns gefunden hast.“ Die Straßenabschnitte wurden eben völlig geheim gehalten und von den „Offiziellen“ drang kein Sterbenswörtchen nach Draußen. Die örtliche Presse kannte den Boßeltermin, berichtete in der Zeitung davon und druckte auch Fotos von den Akteuren ab. Dabei wurden die Punktestände vom letzten Jahr nochmals in Erinnerung gebracht.

Jedes Jahr wurde die Strecke für die Boßelfreunde geändert und alle fieberten immer dem Termin entgegen. Es wurde vorher auch schon fleißig geübt und in der letzten Vereinssitzung, die mit der Leerung des Sparclubs verbunden wurde, legten sie durch Losentscheid die Mannschaften fest. Immer wieder versuchten einzelne Mitglieder, mit kleinen Bestechungsversuchen die Mannschaften zu tauschen, was an sich auf einer Jahreshauptversammlung vor Jahren eindeutig geregelt worden war. Das gezogene Los galt und war nicht übertragbar oder durfte getauscht werden. Aber wie die Menschen nun einmal sind, sie versuchen es immer wieder.

In diesem Jahr ging die Jahresboßeltour von Upgant-Schott über Marienhafe zu dem kleinen Ort Rechtsupweg. Sie mussten der Kreisstraße folgend die Bundesstraße 72 überqueren, was nicht ungefährlich war. Daher hatte Akke neben den üblichen behördlichen Genehmigungen dieser Tour, diese musste bei dem Amt angemeldet werden, mit dem Polizeipräsidenten, den er beruflich gut kannte, vereinbart, dass die Polizei diesmal die gesamte Tour mit zwei Streifenwagen absichern und begleiten sollte. Der Polizeipräsident hatte zu ihm gesagt: „Akke, sorge dafür, dass eure netten Damen meinen Beamten mit der Kornbuddel vom Streifenwagen bleiben. Bei einer letzten Absicherung in Emden von einem anderen Boßelverein mussten wir die Besatzung betrunken und schlafend im Dunkeln aus dem Streifenwagen ziehen. Die Kömbuddel lag noch vor dem Peterwagen.“ Akke hatte nur gelacht und genickt.

Der wichtige Tag brach an, der Samstag war da und die Sonne lachte und schickte sogar einige wärmende Sonnenstrahlen nach Ostfriesland. Bei Akke in seinem schmucken, reetgedeckten Haus in Marienhafe war die gesamte Boßelführung versammelt und die Schriftführerin telefonierte noch mit dem Wirt des Ankunftslokales in Rechtsupweg. Es handelte sich um die Wirtsleute Meta und Rindelt Buhrfeind. Heddine wollte nochmals sicher gehen, ob alles in Ordnung war und ob der Grünkohl rechtzeitig frisch auf die Tische kommen würde, denn die Mannschaften würden bei der Ankunft in dem Lokal ‚Windschiefe Kate‘ fertig mit Jack und Büx sein und großen Kohldampf haben. Die Rücktour nach dem Essen und dem gemütlichen Beisammensein mit den Angehörigen und Partnern, die nachkamen, geschah mit privaten Autos oder Großraumtaxen, da am Ende der Boßelfeier kein Bus mehr fuhr. Hätte am etwas Geduld , könnte man auch den ersten Bus nehmen.

 

Die Vereinskopferten, wie sie im Boßelverein liebevoll genannt wurden, fuhren mit ihren Fahrrädern von Akkes Haus zum Vereinslokal in Marienhafe. Dort hatten sich schon die Mannschaften versammelt und trampelten von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Sie unterhielten sich angeregt und ausgelassen und es wurde viel gelacht. Die Kömbuddel kreiste schon bei der ersten Mannschaft und als sie die Buddel an die Mannschaft drei herüber reichen wollten, winkten diese ab. Einer von ihnen grölte herüber: „Wir wollen eine gute Pole position und gleich mit voller Kraft die ersten dreihundert Meter mit dem Holz schaffen, damit wir uns euch Saufköppe mit eurer Kömfahne vom Hals halten.“ Von der ersten Mannschaft ertönte nur hämisches Gelächter und einer rief: „Denn man tau, wir haben aber bei unserem Wurf schon Zielwasser getrunken! Passt bloß auf, dass eure Räder nicht ganz durchdrehen, im Graben steht ordentlich Wasser.“

Der Jugendwart Uffe Helms hatte sich für seine jugendliche Truppe einen Schlachtplan zurechtgelegt. Im letzten Jahr waren die Jugendlichen durch sehr viele Fehlwürfe Letzter geworden und die Mannschaft hatte sehr oft Pausen einlegen müssen, um das Holz im Graben zu suchen. Das hatte natürlich einiges an Gelächter und Gespött bei den anderen Mannschaften ausgelöst und auch später, bei den monatlichen Vereinssitzungen, hatten sie immer wieder diesbezüglich Seitenhiebe von den Vereinskameraden abbekommen. Bei einer Sitzung war es aber dem zweiten Vorsitzenden zu viel geworden und Fokken Albers hatte ziemlich erbost das Wort ergriffen und an die älteren Mitglieder deutliche Worte der Mäßigung gerichtet.

Heute wollte es Uffe mit seinen jungen Leuten allen zeigen. Sie hatten auf einer einsamen Straße in der Nähe des Bauernhofes seiner Eltern viel geübt. Sein Vater stand ihnen als „Trainer“ zur Verfügung. Er war früher einmal sehr gut im Klootschießen auf dem Feld gewesen und im Boßeln auf der Straße war er sogar mehrfach in Ostfriesland Herbstmeister geworden. Jetzt aber war sein Rücken von der harten Landarbeit stark lädiert. Er war zwar noch Mitglied im Boßelverein von Upgant-Schott und Marienhafe, jedoch konnte er selber nicht mehr boßeln. Zum Grünkohlessen fuhr er mit seiner Frau mit dem Auto, denn Alkohol konnte er in seinem Alter auch nicht mehr vertragen. Einmal hatte ein Vereinskollege mitfühlend gesagt: „Thees, du bist aber ein richtiger armer Hund geworden.“ So sind sie, die Ostfriesen, mitfühlend und herzlich!

Sie hatten sich hier etwas außerhalb der Stadt Norden hinter dem Ortsteil Süder-Neuland an dem sogenannten Wurzeldeich auf dem großen Parkplatz zusammengefunden. Von hier aus sollte es auf der Kreisstraße bis nach Wirdum gehen und dann in einem Linkschwung auf der bekannten Störtebeker Straße über Buschhaus nach Upgant-Schott. Bei Tjüche würde die Bundesstraße 72 überquert werden und über den Ortsteil Oster-Upgant ginge es dann zum Ziel nach Rechtsupweg.

Die Schriftführerin Heddine Altendorf stand auf einer umgedrehten leeren Bierkiste, deren Inhalt in dem Bollerwagen verstaut worden war und klatschte in die Hände. Sie hatte von der Kälte schon ein rote Nase und musste sich häufig schnäuzen: „So, Kinnings, jetzt alle mal hergehört. Die Sicherungsleute haben schon ihre roten Leuchtwesten an und sind eingewiesen worden, um die einzelnen Mannschaften abzusichern. Die Polizei ist auch mit zwei Streifenwagen hier. Und, wie ich sehe, stehen die Mannschaften bereit und sind schon ganz hippelig, können es gar nicht erwarten, dass es endlich losgeht. Bitte denkt daran, das kann man euch nicht oft genug sagen, trinkt während der Veranstaltung euren Alkohol mäßig! Achtet immer darauf, dass ihr trotz der Sicherungsleute nicht unter ein Auto kommt! Seid fair zueinander und sportlich! Möge die bessere Mannschaft gewinnen und nun „Gut Holz!“

Das aufgeregte Gemurmel wurde lauter, man suchte seine Utensilien zusammen, es wurde gelacht und gescherzt und die Mannschaften stellten sich auf. Einige stampften mit einem dicken Schal um den Hals gemummelt von einem Fuß auf den nächsten, um die Füße warm zu halten. Man sah auch, wie heißer Grog aus Thermosflaschen in die Schraubkappe als Trinkgefäß gegossen wurde. Hier kam nun der gute und echte Rumgrog aus Jamaika zum Einsatz. Auch dampfender, heißer Tee wurde gereicht. Der sichtbare Atem vermischte sich mit den dampfenden Getränken. Die Menschen waren aufgeregt und man konnte es ihnen anmerken, dass sie sich schon seit Monaten auf diesen Augenblick, an dem es endlich losgehen sollte, freuten.

Der erste Streifenwagen setzte sich mit Blaulicht als Sicherungsfahrzeug an die Spitze der Sportveranstaltung, denn das war das Boßeln hier, ein ernstzunehmender Sport. Geboßelt wurde nicht nur in Ostfriesland, sondern ebenfalls in Nordfriesland. Und sogar in Irland und in einigen Kantonen der Schweiz gab es diesen schönen Sport an der frischen Luft.

Mit einem Mal wurde es ruhiger und konzentrierter. Die erste Mannschaft stellte sich auf, die Schiedsrichter waren in Position. Es konnte losgehen.

Nach einigen Kilometern mit vielen Suchstopps zum Holz war Wirdum erreicht, wo auf einem Parkplatz eine Pause eingelegt wurde, die allerdings nicht zu lange sein durfte, damit die Sportler nicht allzu sehr auskühlten. Uffe Helms Wangen leuchteten vor Aufregung und er dampfte beim Atmen wie eine schwer arbeitende Moorlokomotive, die die langen Torfloren zog. Uffe war glücklich, sie lagen nach Punkten weit vorne und er hatte seine Truppe auf dem Parkplatz in Wirdum außerhalb der Hörweite der anderen Spieler zusammengeholt und sprach eindringlich auf die Mannschaft ein. Sie standen in bester Eishockeymanier im Kreis eingehakt nach vorne gebeugt und schrien einen selbst kreierten Schlachtruf. „Zieht euch warm an“, grölten sie über den Parkplatz und man konnte sie bis in den Ort Wirdum hören. Die anderen Teilnehmer der Mannschaften unterbrachen einen Augenblick verdutzt ihre Gespräche. Die kalten Körner wurden schnell als Zielwasser getrunken und die Gläser wieder in die Geschirrhandtücher stoßfest eingewickelt und im Bollerwagen verpackt. Nun rief Akke laut und vernehmlich: „Es geht weiter, ich habe Hunger auf Grünkohl.“

Die Sicherungsleute und die Polizei hatte nicht viel zutun, es war relativ wenig Autoverkehr auf der Straße. An den Straßenrändern standen vereinzelt die Anwohner aus den Ortschaften und viele hatten Kornflaschen und Gläser dabei. Sie versorgten die Boßeler und auch sich selber, denn schließlich benötigen auch die Zuschauer Zielwasser, damit sie die Boßelkugeln auf der Straße gut und fachmännisch verfolgen konnten. Die örtliche Presse war ebenfalls anwesend und interviewte in den Wettkampfpausen die Teilnehmer und schoss Fotos von den aktiven Werfern.

Oster-Upgant lag schon lange hinter ihnen und sie näherten sich ihrem Ziel. Die Ortschaft Rechtsupweg kam in Sichtweite und sie hatten nur noch wenige hundert Meter im Wettkampf zu absolvieren. Dann war die Zielmarke erreicht und die Schiedsrichter notierten sich die letzten Ergebnisse, während die anderen Mannschaften, die den Wettkampf hinter sich gebracht hatten, nach links in den Gasthof ‚Windschiefe Kate‘ in den Weg ,Hinter dem Moor‘, abbogen. Sie stellten ihre Bollerwagen vor dem Gasthof ab und betraten lärmend und scherzend den Saal. Dort war alles festlich gedeckt und jeder Gast wurde von dem Wirtsehepaar Buhrfeind mit einem Glas Sekt zur Feier des Tages begrüßt. Im Saal spielte eine Kapelle aus Leer. Sie suchten sich ihre Tischkarte, um Platz zu nehmen. Als alle anwesend waren, stand die Schriftführerin Heddine Altendorf auf und man sah ihr die Kälte an ihren rot-blau gefrorenen Wangen richtig an. Sie schnippte mit ihrem rechten Zeigefinger an ihr leeres Bierglas und sagte vergnügt: „Liebe Boßel- und Klootschießerfreunde unseres Vereines von Upgant-Schott und Marienhafe. Wir haben es geschafft. Zuerst danke ich im Namen des Vorstandes der Polizei von der Polizeiinspektion Norden und unseren Sicherungsleuten. Sie haben dafür gesorgt, dass wir und das ist das Wichtigste überhaupt, alles unfallfrei über die Bühne gebracht haben. Wir danken auch unseren Schiedsrichtern und den Helfern mit einem kräftigen Applaus.

Die Wertungen der einzelnen Mannschaften stehen aus und unsere fleißigen Schiedsrichter rechnen bereits. Ich hoffe, ihr hattet Spaß.

Die Geldauszahlung für das Kästchensparen erfolgt im Anschluss an das Essen. Bitte wendet euch an unsere Kassenwartin Heidi, der wir auch einen großen Dank für ihre bewerte Tätigkeiten aussprechen. Ich wünsche euch einen kräftigen Appetit. Und, last, but not least, möchten wir uns auch den Wirtsleuten Buhrfeind hier in Rechtsupweg für die nette Bewirtung bedanken.“ Es wurde geklatscht und auf den Tisch nach alter Studentensitte geklopft.

Die Bedienungen des Lokales trugen den dampfenden Grünkohl auf und ein Boßelbruder klopfte an sein Weinglas: „Bevor wir den guten Grünkohl essen möchte ich im Namen aller Freunde dieses wunderbaren Sportes dem Vorstand für die Ausarbeitung des Wettkampfes und für die viele Arbeit im Verein herzlich danken.“ Im Klatschen rief ein sichtlich angetrunkener Boßelbruder: „Jetzt reicht es mit den Ansprachen, wir sind hier nicht im Parlament in Berlin! Wir haben Hunger und Durst!“ Es erfolgte ein Gelächter und die Stimmen der Unterhaltungen nahmen Fahrt auf.

Gegen Mitternacht sah Akke seine Vorstandskollegen besorgt an, denn aus der Jugendgruppe waren einige Mitglieder ziemlich angetrunken. Sie hatten vom Alkohol rote Köpfe und die Asche hing an ihren Zigaretten, obwohl einige von ihnen bestimmt von Gesetzes wegen noch nicht rauchen durften. Auch hielten sie sich nicht an das Rauchverbot im Lokal, was die Wirtsleute bei Gesellschaften schon kannten. Sie hatten mehrfach, leider vergebens, gebeten, zum Rauchen vor die Tür zu gehen.

Als mehrere Jugendliche einen sehr angetrunkenen Jugendlichen unter Johlen und Klatschen im Bollerwagen sitzend durch den Saal zogen, kam der Wirt Rindelt Buhrfeind mit verärgertem Gesicht hinter seinem Tresen hervor, stellte sich der Karawane in den Weg und sagte in ruhigem Ton: „Bitte Jungs, mit eurem Wagen macht ihr mir das Parkett kaputt. Ich habe es erst vor zwei Wochen von einer Tischlerei für viel Geld abziehen lassen. Bitte lasst das.“ Der Jugendliche in dem Bollerwagen stand umständlich auf und blieb schwankend vor dem Wirt stehen: „Hör mal, du Grünkohlpanscher. Mir schmeckte dein Grünkohl nicht, Rindelt! Und die Pinkelwurst war auch nicht mehr das, was sie mal früher war. Du hast dein Parkett abziehen lassen, na und? Wir lassen doch auch genug Geld hier. Das einzige was gleich hier abgezogen wird, ist dein Fell über die Ohren, du Schnapspanscher! Hast du auch heute wieder deinen Köm ordentlich mit Wasser verdünnt, ja?“ Der Wirt blieb ruhig, er kannte seine Pappenheimer: „Martin Mewes, wenn du keinen Alkohol verträgst, lass es bleiben und werde hier nicht frech. Du bekommst von uns keinen Alkohol mehr ausgeschenkt. Bitte zieh dich an und verlasse mein Lokal! Ich rufe dir ein Taxi.“ Der angesprochene Martin wurde puterrot im Gesicht und drohte sich auf den Wirt zu stürzen.

Inzwischen hatte der zweite Vorsitzende den verantwortlichen Jugendwart Uffe Helms in dem Gewusel ausfindig gemacht und auch Akke gesucht. Sie gingen gemeinsam zu Martin und versuchten ihn zu beruhigen. Als Martin den ersten Vorsitzenden Akke sah, wurde er noch lauter: „Ach, da ist ja auch unser Richter. Na, hast du heute schon wieder einige Leute in die Klapsmühle geschickt, so wie meinen Onkel vor einem Jahr? Deine Frau ist doch Ärztin im Landeskrankenhaus und du schickst ihr bestimmt immer die Patienten, damit ihr ordentlich Geld scheffeln könnt. Du bist ein Menschenwegfänger von der ganz üblen Sorte. Alle, die dir nicht passen, lässt du in deine Anstalt für immer sperren. Ich habe sie gesehen, als ich meinen Onkel im Landeskrankenhaus besucht habe. Ich werde es dir eines Tages heimzahlen, du Menschenschinder von einem Richter.“

Akke wurde blass, er hatte tatsächlich den Onkel von Martin Mewes wegen akuter Schizophrenie einweisen lassen, doch es hatte keinen Sinn, mit Martin in diesem Zustand darüber zu reden. Und so sagte Akke ruhig zu ihm: „Martin, lass es gut sein. Uffe sorgt für ein Taxi und ich rede nächste Woche mit dir über deinen Onkel. Komme doch einfach zu mir nach Hause.“ Martin hatte vor Wut weiße Spucke an der Lippe kleben, sein Blick war flackernd und er war ziemlich wütend. „Ja, ich komme zu dir nach Hause. Aber nicht zum Reden, sondern um dir den Schädel einzuschlagen! Akke, pass jetzt immer schön auf, wo es doch so früh dunkel ist. Wenn du dein teures Haus verlässt, sieh dich immer um. Ich könnte hinter einer Tanne stehen und dir mit einer Boßelkugel einen über deinen dämlichen Richterschädel ziehen.“

 

Uffe zerrte an ihm und sagte: „Martin, es reicht, komm jetzt hier raus.“ Martin drehte sich zu Uffe um, der von dessen Blick wie erstarrt war: „Uffe, fass mich nicht an. Denk an den Richter, was ich ihm angedroht habe!“ Mit einem Ruck drehte sich Martin um, nahm seine Jacke vom Garderobehaken und verließ ohne ein weiteres Wort das Lokal.

Heddine sah Akkes entsetztem Blick und nahm seine Hand: „Akke, nimm es nicht wörtlich. Der Martin hat große Sorgen, er hat vor einigen Tagen seine Leerstelle verloren und zu allem Unglück ist ihm noch seine Freundin weggelaufen. Der meint die Drohung bestimmt nicht ernst. Morgen, wenn er mit einem Kater aufwacht, weiß er bestimmt nicht mehr, was er gesagt hat. Wir sollten aber bei der nächsten Versammlung das Thema ‚Alkohol‘ anschneiden und für den nächsten Wettbewerb nicht wie die Regierung eine Schuldenbremse einbauen, sondern eine Alkoholbremse.“ Heddine wollte auf ihre nette und vermittelnde Art das Schreckliche aus der Drohung von Martin an Akke nehmen, ohne es in die Lächerlichkeit zu ziehen. Das gelang ihr auch ein wenig, aber sie sah auch den besorgten Blick des 2.Vorsitzenden Fokken Albers.

Den weiteren Abend über fehlte bei Akke die ungezwungene Fröhlichkeit. Er sah oft nachdenklich in sein Wasserglas. Die anderen versuchten ihn aufzumuntern und auch die Kapelle aus Leer unternahm alles, um den Vorfall mit fröhlicher Musik der besonders lauten Art in den Hintergrund zu drängen.

Gegen zwei Uhr in der Früh gingen auch die letzten Gäste. Vom Vorstand waren nur noch Akke und sein Vertreter Fokken anwesend. Sie prüften die Abrechnung des Wirtes Buhrfeind und Akke unterschrieb. Rindelt Buhrfeind verabschiedete die beiden noch vor der Tür und blickte in den Himmel, ob es in der Nacht noch Regen geben würde. Fokken Albers hatte nicht viel getrunken und hatte schon am Vortag seinen PKW auf dem Parkplatz des Lokals abgestellt. Er wohnte in der entgegengesetzten Richtung und bot trotzdem an, Akke eben nach Hause zu fahren. Der aber schüttelte den Kopf und meinte traurig: „Mich hat der Wutausbruch von Martin richtig mitgenommen, ich fühle mich, als hätte mir ein Boxer einen Schlag versetzt. Dabei bin ich als Richter doch einiges gewohnt. Aber dieser wütende Gesichtsausdruck des Jugendlichen macht mir Angst. Ich werde noch bis zum nächsten Ort marschieren, mal sehen, wie lange ich gehen möchte. Wenn ich Lust habe, laufe ich bis zu meinem Haus, ansonsten rufe ich ein Taxi. Danke, Fokken, für deine Hilfe. Schlaf gut und grüße deine Frau von mir.“ Akke gab ihm die Hand und Fokken sah ihn sorgenvoll an. Dann stieg er in sein Auto, winkte noch kurz aus dem geöffneten Fahrerfenster und war in der Dunkelheit verschwunden. Akke schlug den Mantelkragen hoch und lief in Richtung Marienhafe.

Gegen vier Uhr in der Früh wachte seine Frau Nelli auf und schreckte mit einem Mal in ihrem Bett hoch. Sie tastete auf das andere Ehebett und merkte, dass ihr Mann noch nicht im Bett war. Sie schaltete die Nachttischlampe an und kniff die müden Augen zusammen, um die Uhrzeit auf dem schwach grünlich leuchtenden Wecker zu sehen und rief: „Akke, bist du im Arbeitszimmer?“ Sie hatte sich vorgenommen, bis zur Ankunft ihres Mannes trotz einer starken Erkältung wach zu bleiben, war aber während des Lesens eines Buches immer wieder eingeschlafen. Die Erkältung war auch der Grund, warum Nelli nicht mit der Frauenmannschaft geboßelt hatte, obwohl auch sie Mitglied in dem Verein ihres Mannes war. Akke hatte ihr angeboten, in das Gasthaus nach Rechtsupweg nachzukommen, wenn sie sich gut genug fühlte. Ansonsten sollte sie sich im Bett schonen und ihren Schnupfen auskurieren. Nelli stieg aus dem Bett, legte das Buch auf den Nachttisch und suchte einen Hausschuh, der sich wie immer unter dem Bettkasten versteckte. Sie schaltete im Schlafzimmer das Deckenlicht an, zog sich den Morgenmantel über und verließ den Raum. Im Flur rief sie nochmals laut den Namen ihres Mannes, doch es kam keine Antwort. Sie ging die Treppe nach unten und schaltete auch hier überall das Licht an. Von ihrem Mann war im Haus keine Spur zu sehen. In der Garderobe sah sie nach, ob sein Mantel dort hing. Auch hier Fehlanzeige, auch seine Schuhe standen nicht wie sonst üblich im Schuhregal. Ihr Mann war immer sehr ordentlich mit seinen Sachen. Er hatte auch versprochen kurz durchzurufen, falls es später werden würde oder wenn sie noch zu einem Vereinsmitglied auf einen ‚Absacker‘ gehen würden. Akke hielt sich beim Trinken von alkoholischen Getränken immer zurück, man konnte aber nie wissen, wie ein derartiger Abend ausklingen würde.

Nelli sah in der Garage nach, ob das Auto hier noch stehen würde. Sie wusste nicht, warum sie da nachschaute. Das Garagentor war wie immer zugezogen, sie verschlossen es erst, wenn sie für einige Tage abwesend waren. Als Nelli schon wieder gehen wollte, fiel ihr Blick auf den Scheibenwischer. Dort war ein Brief eingeklemmt worden. Sie wunderte sich und dachte erst an ein Strafmandat und nahm den Umschlag ab, öffnete ihn und als sie die ersten Zeilen las, fiel sie in Ohnmacht. Sie schlug mit ihrem Kopf hart auf die Motorhaube auf und rutschte an dem Fahrzeug hinunter.

Eine halbe Stunde später kam der Zeitungsbote, der hier neben der Sonntagszeitung auch die Brötchen brachte. Er sah das offene Tor, sah die Beine hinter dem Auto herausragen. Er ging in die Garage und rief: „Hallo, Frau Döhring-Feyke? Was ist los?“ Er stellte seinen Zeitungskarren ab, beugte sich über Nelli und kam erschrocken wieder hoch. Sie hatte am Kopf eine Platzwunde, an der das Blut schon geronnen war. Über sein Handy rief der Zeitungsbote die Feuerwehr an und stellte sich in die Einfahrt, um den Rettungswagen einzuweisen. Nach zehn Minuten war der Rettungswagen mit dem Arzt vor Ort und sie leisteten erste Hilfe.

Nelli kam wieder zu sich und blickte sich verwirrt um. Es war schon ein gespenstischer Anblick. Das Blaulicht des Rettungswagens zuckte von dem Haus reflektierend zurück und einige Menschen wuselten um sie herum. Von weitem hörte man das Martinshorn und kurz danach kamen zwei Streifenwagen der Polizei um die Ecke. Der Streifenführer sprach kurz mit dem Arzt. Ein Sanitäter hatte ihr einen alten Läufer, den er in der Garage gefunden hatte, als Sitzkissen untergeschoben und sie hatte bereits eine warme Decke umgelegt bekommen. Der Arzt und der Streifenführer gingen neben ihr in die Hocke und der Polizist sprach sie behutsam und leise an: „Frau Döhring-Feyke, was ist passiert?“ Sie sah ihn an und der Zeitungsbote brachte ihr aus ihrer Küche einen heißen Kaffee. Er kannte die Familie und war schon des Öfteren zu einem ‚juristischen Plausch‘ für eine kurze Zeit im Haus bei Akke gewesen. Hier duzten sich alle, nur wenn Akke im Gericht hinter seinem Richtertisch saß, siezten sie ihn, er war ja dort eine Amtsperson. Insofern war dem Zeitungsboten bekannt, wo sich die Kaffeemaschine in der Küche befand.

Nelli nahm wie in Trance den Kaffee und langsam kamen nach und nach die Erinnerungen wieder. Sie erzählte, was vorgefallen war und erwähnte den Brief. „Danach wurde mir schwarz vor Augen und ich weiß nichts mehr“, sagte sie und sah sich suchend nach dem Brief um. Der Polizeibeamte bückte sich noch tiefer und sah unter dem Fahrzeug nach. Dort, fast vor dem rechten Vorderreifen, lag der Briefumschlag und etwas weiter der herausgenommene Brief. Der Beamte Herbert-Jörn Büchel nahm den Brief auf und blickte kurz irritiert zu Nelli, als sie aufgrund ihrer wiedergekommenen Erinnerung heftig zu weinen begann. Der Arzt und die Sanitäter blickten ihn gespannt an, als er laut vorlas: „Frau Nelli Döhrink-Veike. Wenn du diese Zeilen bekommst, haben wir in unseren Händen, was dir lieb und für dich auch teuer wird. Wir haben deinen Mann nach dem Boßelfest auf der Landstraße gegen zwei Uhr dreißig kurz vor, wo genau sagen wir aber nicht, denn die Polizei könnte hier unsere DNA Spuren finden, in unsere Gewalt gebracht. Wir haben die Tat schon lange genau geplant, das können wir dir verraten. Auch können wir rund um die Uhr dein Haus mit einer getarnten Internetkamera beobachten. Wir verraten dir das ganz bewusst, weil wir dir zum einen unseren Stand als Profis im Entführen von Menschen demonstrieren wollen, zum anderen wollen wir zeigen, dass wir keine Angst vor der Polizei haben. Wir sind in Europa, Lateinamerika und in Afrika auf das Entführen von Menschen spezialisiert. Es geht uns nicht um irgendwelche politischen oder religiösen Dinge, auch nicht um Rachegefühle gegenüber deinem Mann, weil er als Richter unsäglich viele Menschen schon in deine Klapsmühle brachte und du dir mit deinen gefälschten Gutachten auch für die Krankenkasse an diesen armen Teufeln eine goldene Nase verdienst. Wir sind eine Firma, die sich auf den professionellen Handel mit Menschen zur Erzielung eines hohen Lösegeldes spezialisiert hat und wir werden von hochkarätigen, international tätigen Kunden beauftragt.