Mein Mann

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Mein Mann
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Günter Tolar

MEIN MANN

Tatsachen-Roman

(Nicht veröffentlichte Originalfassung)

GESCHRIEBEN 4.8.1991 (Bregenz) bis 14.11.1991 (Wien)

FÜR NORBERT

VORWORT

„AIDS IST NICHT WIRKLICH EINE KRANKHEIT,

es vereinfacht die Dinge, sie als eine solche zu bezeichnen, es ist ein Zustand von Schwäche und Ergebung, welcher dem Tier, das man in sich trug, den Käfig öffnet, dem Tier, dem ich gezwungenermaßen unumschränkte Vollmacht gebe, damit es mich verschlingt, dass ich mir lebendigen Leibes antun lassen muss, was an meinem Leichnam zu tun es sich anschickte, um ihn zu zersetzen. Die Pneumozystis-Pilze, würgende Boas für Lunge und Atem, und die Toxoplasmose-Erreger, die das Hirn zerrütten, leben im Inneren jedes Menschen, nur verweigert ihnen das Gleichgewicht seines Immunsystems schlicht und einfach das Bürgerrecht, während Aids ihnen grünes Licht gibt und die Schleusen der Zerstörung öffnet.“

Herve Guibert - "Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat."

Kapitel 1

„MACH’ ORDNUNG IN DEINEM SCHMERZ“,

sagte Roswitha, meine riegelsame Nachbarin, die immer jemand brauchte, um sich um ihn kümmern zu können.

„Ich finde es gut, wenn du darüber nachdenkst, darüber schreibst, darüber sprichst“, fügte sie hinzu, „mit jedem mal verdaust du es ein Stückchen mehr.“

Roswitha wohnte die ganzen fünfzehn Jahre, die ich und Norbert in diesem Haus lebten, ein Stockwerk tiefer. Wir grüßten einander, nicht mehr, sprachen kaum miteinander. Norbert hatte mehr Kontakt zu Roswitha, ich sträubte mich aus Gründen, die ich selbst nicht nennen kann. Ich sträubte mich, damit genug. Erst nach der Geschichte mit Norbert lernte ich sie wirklich kennen, sehr schätzen und sogar ein wenig lieben.

Norbert soll also verdaut werden und Nachdenken, Schreiben oder Reden soll diese Verdauung anregen. Wie unappetitlich ein Vokabular doch sein kann.

Alles das sagte Roswitha mit der ihr eigenen, kindlichen Nachdenklichkeit, kraus gezogener Stirn und intensivem Blick vor sich hin.

Ich begann also, Ordnung zu schreiben, zu denken, zu reden. Damit folgte ich aber nicht nur dem Ansinnen Roswithas. Auch Herbert, mein Regisseur, hatte, als ich ihm die Geschichte erzählte, sofort gesagt, dass das niedergeschrieben gehörte.

So fand ich mich in den nächsten Wochen immer wieder vor der Schreibmaschine. Mehr nachdenkend als schreibend. Mehr weinend, als klar denkend. Ordnung machend auf dem Weg, auf dem ich mich befand, befinden wollte, unnachgiebig. Dennoch Gedanken fassend. Zumindest versuchend, hie und da einen zu fassen zu kriegen. Besonders fündig wurde ich immer wieder im Haus in St. Oswald, wohin ich mich mit meinem Denkzeug gerne zurückzog. Hier war ich mit Norbert besonders allein.

Vor mir die Bücherregale, deren Vergrößerung wir noch miteinander ausmaßen, zwei Tage, nachdem Norbert sein Testament geschrieben hatte. Er zeichnete noch eine ordentliche Skizze, wissend, dass er sie nicht mehr realisieren würde. Wenn ich meinen Kopf sehr weit nach rechts drehe, sehe ich die Bücher, die Norbert nicht in unserer Wiener Wohnung aufbewahrt sehen wollte, schwule, schwüle Lektüre, Männergeschichten, literarische oder einfach spekulative, immer ästhetisch und immer ätherisch. Noch weiter rechts steht auf einem Regal sein Malzeug. Norbert betrieb Hinterglasmalerei. Kreativ und kopierend, beides mit Hingabe, Können und Selbstkritik. Ich musste einige Glasplatten, nachdem Norbert sie stundenlang bemalt hatte, zerbrechen hören und auch zusehen, wie er sie die lange Treppe hinunter in die Mülltonne trug, sie sorgsam verbergend, dass ich sie nicht sehen konnte. Totale Vernichtung. Eine einzige Glasplatte hat er vergessen, ich rahmte sie. Freunde sagten mir, ich hätte sie besser wegschmeißen sollen, weil Norbert sie sicher auch weggeschmissen hätte. Einige seiner vielen Schallplatten waren auch noch da. Er brachte immer aus Wien welche mit, hörte sie sich an und transportierte sie dann wieder auf einen der vielen Stapel, die wie Spalierobst in unserer Wiener Wohnung herumstanden.

Ich vermeide es zumeist, den Blick so schweifen zu lassen, weil ich die ohnedies permanente Präsenz meines Freundes nicht noch weiter rufen will. Weil ich „mit all dem fertig“ werden soll, wie mir meine Freunde rieten. Weil ich „darüber hinwegkommen“ muss, wie sie meinen immerwährend vorhandenen Schmerz kopfschüttelnd kritisierten. Weil ich doch „an das viele Elend in der Welt denken“ soll.

„Zeigefinger, die mich umgeben“, erklärte ich Norbert, mit dem ich, wie so oft nach seinem Tod, gerade wieder plauderte.

Sie blieb dennoch unfassbar, die Tatsache, dass Norbert am 14. März 1991 Selbstmord beging. Sein Tod war im Polizeiprotokoll sachlich und drastisch vermerkt:

„14.3.1991, 23 Uhr 37, U4 - Station Meidling - Gleis 1 - Todesursache: Kopf-Rumpf – Trennung“.

Es ist gerade fünf Monate her, dass das geschah.

Norbert und ich waren Freunde seit fünfzehn Jahren. Fünfzehn Jahre lang lebten wir zusammen und teilten buchstäblich alles miteinander. Ich sträube mich gegen das Klischee „teilten alles miteinander“ - und doch, ich vermag es nicht anders auszudrücken. Wir teilten alles miteinander. Es gab nichts, was einer allein hatte. Nichts. Bei unseren Freunden und Bekannten waren wir als ein ideales Paar angesehen, scheinbar überhaupt nicht zusammenpassend, und doch in einem wunderbaren Maß harmonisierend, dass es viele einfach nicht glauben wollten. Norbert war in einer sozialistisch-macho-dominierten Saubermann-Atmosphäre beruflich tätig, ich in christlicher Betschwestern-Umgebung bigotten Anstrichs voll gefährlicher Tücke und Falschheit. Aber selbst dort waren wir zwei angesehen und angenommen. Unsere spezielle Situation war für uns beide kein Problem, nicht nach innen und nicht nach außen, nicht zwischen uns und nicht den anderen gegenüber.

Seit fünf Monaten bin ich nun allein.

Ich behaupte, mein Leben ohne Norbert ist nicht denkbar. Ich behaupte das, weil ich weiß, dass es so ist. Ich weiß es, die anderen glauben es nicht. Ihnen ist mein Schmerz so leicht.

Das anbefohlene Ordnen meiner Gedanken soll mir und den anderen einen Beweis erbringen. Nur unter diesem Aspekt habe ich mich bereit erklärt, den anderen den Gefallen zu tun. Lächelnd und es besser wissend. Das Ordnen würde nichts anderes erbringen, als was ich schon weiß. Aber sie wollen es ja.

„Die Folgen mögen sich jene zuschreiben, die mich überredet haben!“, erklärte ich Norbert achselzuckend.

Norbert schweigt. Norbert schweigt so viel in letzter Zeit.

Kapitel 2

„JEDER SELBSTMÖRDER KÜNDIGT SEINEN SELBSTMORD AN“,

erklärte Prof. Ringel, den ich zwei Wochen nach dem Abgang von Norbert aufsuchte. Wir seien nur nicht in der Lage, die Zeichen zu deuten. Hinterher füge sich das Bild beklemmend lückenlos zusammen. Ich möge doch nachdenken, befahl Ringel mit seiner schnarrenden Stimme. Ich würde ein Indiz nach dem anderen finden, aber keines sei in seiner Einzelaussage so beschaffen, dass dadurch der Gedanke an einen bevorstehenden Selbstmord ausgelöst werden könne. Alle Hinweise, die der künftige Selbstmörder abgebe, seien verschlüsselt.

„Wie aber hat er diese letzte Woche überstanden?“, fragte ich, und das Grauen vor der schrecklichen Verzweiflung, die in Norbert geherrscht haben musste, kündigt sich in mir an. Dieses Grauen vor dem Unbekannten, der Norbert, wenn ich auf diese letzte Woche zurückblicke, für mich war, als er seinen eigenen Weg ging, den man nur allein geht. Einsam. Ich denke an meine Mutter. Alle waren wir dabei, als sie starb. Und dennoch, sie war allein im Sterben. Lebte aber dennoch. Wie Norbert. Er sah mich, und wusste, er würde mich zum selbst festgesetzten Zeitpunkt verlassen. Verlassen in eine Dimension, von der nur weniges gesichert ist: Dass er nicht mehr da ist und dass er für immer nicht mehr da ist, zumindest nicht in der Gestalt, Form oder Ausprägung, die ihm die auslösenden Probleme schuf.

Also erstens, replizierte Ringel mit akribischer Munterkeit, hätte er diese Woche ja nicht überstanden. ‚Zweitens’ ließ ich keines folgen, weil ich gleich weiterfragte: „Wieso aber eine ganze Woche?“

Am 7. März erfuhr Norbert, wie es um ihn stand. An diesem Tag begannen auch seine Vorbereitungen.

Da Ringel noch, vor sich hin nickend, nachdachte, fragte ich weiter: „Diese Kraft, diese wahnsinnige Stärke in dieser letzten Woche...“, meine Stimme wollte mir nicht mehr gehorchen, weil ich von meiner Unfähigkeit, diese Tage zu begreifen, voll überfallen wurde. Ohnmacht, die mein Blut rasen macht, die mir heiß werden lässt.

Konsequent, nickte Ringel sehr intensiv mit Präsenz und Munterkeit, das sei er wohl in höchstem Maße gewesen. Ein vorbildlicher Beamter halt.

Norbert war daran gewöhnt, die Bezeichnung ‚Beamter’, wenn sie ein anderer gebrauchte, als mit Traditionen beladenes Schimpfwort hinzunehmen. Aber er, für sich selber, war, da hatte Ringel Recht, mit Leib und Seele, mit Überzeugung und Charisma, Beamter.

Ich möge mir vorstellen, stach Ringel mit gestrecktem, gichtig verbogenem Zeigefinger in die Luft, dass Norbert seit dem Empfang des Todesurteils mit jedem Tag seiner peniblen Vorbereitung mehr Erleichterung erfuhr. Er habe sich folgerichtig und wohl überlegt Schritt für Schritt der Lösung seines Problems genähert und vom Leben entfernt. Alles mit haargenau den gleichen Mitteln, mit denen er sein Leben bestritt.

Ich war zutiefst erstaunt, denn Ringel vermochte, allein aus meiner Schilderung der letzten Woche, Norbert so exakt zu beschreiben, dass das Bild, das er entwarf, vollkommen mit dem übereinstimmte, das ich aus der nachträglichen Aufarbeitung dieser letzten Tage gewonnen habe.

 

Bei der folgenden Frage erfasste mich wieder diese Welle des Entsetzens, das mich auch jetzt noch überfällt, wenn ich an Norbert und den Augenblick seiner Tat denke: „Aber vor dem Sprung? Vor die U-Bahn?“

Ringel nickte eifrig. Wir bewegten uns auf einem Gebiet, in dem er sich auskannte. Fast schien es ihm Vergnügen zu bereiten, zu antworten. Da sei diese Tunnel-Theorie. Norbert sei die ganze Woche über, seit Empfang des Todesurteils, in einem finsteren Tunnel unterwegs gewesen. Sekunden vor der Tat sah er dann ein Licht am anderen Ende und wollte nichts anderes, als dort hin. Er sah Licht und war glücklich, weil die Lösung seines Problems, das ihn zu Tode belastete, in Sicht war.

„Aber knapp vorher! Da kommt die U-Bahn, und dann der Sprung, das kann doch nicht mit einem Glücksgefühl verbunden sein...“, ich geriet in ein hysterisch lautes Reden vor Ekel, Angst und Entsetzen.

Ringel nickte, wackelte abwechselnd mit dem Kopf und gab zu, dass unsere Phantasie da aushake. Unsereiner könne das nicht nachvollziehen. Was fühlt einer, der das Todesurteil eines Tages aus heiterem Himmel auf den Kopf zugesagt bekommt? Bei Aids durfte nichts verheimlicht werden. Was also fühlt einer, der DAS Todesurteil in der Tasche hat? Und der von seiner Gesellschaft so eingeengt ist? „Der DURCH MICH, seinen besten und einzigen Freund, so eingeengt war?“, bezichtigte ich mich selbst, der mir eigenen Neigung zum Selbstmitleid, das alles andere zu übertönen imstande ist, eifrig frönend.

Als ich mit dem Bruder von Norbert etwa fünf Monate später einen Notariatstermin hatte, um die Erbschaftsangelegenheiten zu erledigen, mussten wir auf die Abfassung eines Dokumentes warten. Der Notar hatte das Zimmer verlassen, wir waren allein. Da sagte Peter so nebenbei: „Übrigens, er ist gar nicht gesprungen. Er ist auf dem Rücken gelegen, mit dem Hals genau auf einer Schiene.“

Ich schloss die Augen und tat das, was ich, wenn ich einen Gedanken nicht fassen kann, automatisch tue, ich frage meine Phantasie. Sie beschied mir, dass das Liegen auf den Schienen und Warten wohl nicht ganz so schlimm wäre, als das Sehen des herankommenden Zuges und das rechtzeitige Springen. Norbert würde doch beim Liegen sicher die Augen zugemacht haben. Sicher. Er hatte sie fest geschlossen, und immer fester, je näher er den Zug kommen hörte. Ich fühle es wie einen kleinen Trost. Der Sprung, die Vorstellung des Sprunges ist so ziemlich das Schlimmste, an das ich zurückdenke. Das Liegen auf den Schienen bringt mir Norbert aus der Unbegreiflichkeit heraus und etwas näher, begreifbarer. Das bin ich imstande, annähernd zu verstehen.

Aber was ist ‚annäherndes Verstehen’? Eine Redewendung. Eine verbale Kurve, die nach kurzem Nachdenken sich um 180 Grad dreht und mich dorthin zurückwirft, von wo ich mich soeben loszulösen geglaubt habe. Annäherndes Verstehen ist genauso Wenig-Verstehen wie Nicht-Verstehen.

Reue, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit breiten sich in mir aus, wie immer, wenn ich stehen geblieben bin. Wie immer, wenn ich bei einem der vielen Punkte angelangt bin, an denen mein Denken nicht mehr weitergeht.

Es ist ja Trost, den ich suche. Und es ist Beruhigung, die ich suche. Beruhigung vor dem Grauen, das ich fühle, wenn ich daran denke, dass ich eine Woche lang mit einem Todeskandidaten lebte, der Sterben nach Fahrplan betrieb. Mit einem Menschen, der mir so nahe stand, dass ich es nicht fasse, was dem alles durch den Kopf gegangen sein mochte in dieser Woche. Was in ihm alles vorgegangen sein mochte an diesem Tag als er es erfuhr, an diesem Tag, an dem er es tat, an den Tagen dazwischen.

Ringels Trost war aber keine leere Hülse. Ich wusste, dass der Psychologe Recht hat, ich selbst empfand es in der Woche nach dem Tod von Norbert, als ich meinen eigenen Selbstmord plante, genauso, wie Ringel es von Norbert erklärt hat.

Kapitel 3

„SIE GLAUBEN WOHL AUCH, SIE SIND WAS BESSERES?“,

waren die allerersten Worte, die ich an Norbert richtete.

Es geschah bei dem einzigen Kostümfest, das ich jedes Jahr mit Norbert besuchte. Das erste Mal war ich dort am 20. Jänner 1976, noch allein. Norbert schenkte mir alljährlich Blumen zu diesem Gedenktag, den ich so selbstverständlich jedes Jahr vergaß, wie Norbert selbstverständlich jedes Jahr daran dachte.

Ich war damals eben auf den ersten Höhepunkt meiner Berühmtheit und Beliebtheit aufgestiegen und wurde gerne zu Partys als Aufputz eingeladen. Die Veranstalter dieses Kostümfestes, ein Paar namens Toni und Peter, hatte ich kurz vorher kennengelernt. Peter arbeitete in einer renommierten Wiener Klavierfabrik als Chef-Disponent, Toni war gefeierter Solotänzer im Staatsopern-Ballett. Wenn man ihn privat sah, mochte man das nicht glauben, erst wenn man ihn auf der Bühne erlebte, erfuhr man, welch großer Künstler in diesem kleinen, unscheinbaren Kerl steckte. Die beiden hatten sich bei einer Kaffeejause anlässlich der Housewarming-Party eines eben emporgekommenen Designers, der mich ebenfalls als Aufputz geladen hatte, sehr devot an mich herangemacht. Spitze Zungen in meiner Umgebung flüsterten mir zu, dass die beiden Prominente sammelten, aber selten längere Zeit behielten. Diesmal aber war es anders. Sie luden mich zum Kaffee ein, wir freundeten uns an - und sie baten mich auch zu dem Kostümfest.

In welcher Verkleidung ich dort hin ging, weiß ich nicht mehr. Der Kleidung nach waren mehr Damen als Herren dort anwesend, die sich mit männlichen Stimmen kreischend unterhielten und die Freiheit genossen, unter sich zu sein und sich so geben zu dürfen, wie es unsere Art ist. Unsere Veranlagung. Keine Verstellung. Alle lagen sie mir gleichsam zu Füßen. Enervierend, so mokierte es sich in mir. Ich genoss es aber gleichzeitig huldvoll leutselig, hofiert zu werden. Jedermann ließ es sich zur Ehre gereichen, ein wenig mit mir zu plaudern, selbstverständlich zumeist über meinen Beruf, was ich besonders gerne tat, weil ich etwas davon verstand und die anderen nicht. Ich war noch nicht in der späteren Ablehnung dieses Stargerühmes verfangen. Damals gefiel mir das noch.

Eitel, wie einer meines Berufes in einer solchen Situation ist, bemerkte ich sehr bald den einzigen in der immerhin etwa dreissigköpfigen Runde, der sich nicht um mich kümmerte, der sich nicht um mich riss, der mich sogar durch intensives Wegsehen glatt ignorierte.

Vorerst war ich bereit, das gnädig zu verschmerzen. Als der Abend länger und die Gäste müder wurden, sich hinsetzten und Pornofilme betrachteten, wobei sie parallel mehr oder weniger, je nach Temperament und Partnerschaftslage, durchaus aktiv waren oder wiehernd und kichernd das Geschehen auf der Leinwand kommentierten, sah ich meinen Ignoranten allein an der Bar sitzen. Ich dachte bei mir, dass der wohl deshalb allein sitze, weil er ein Knofel sei, eine gesellschaftliche Null, kontaktarm, scheu, schüchtern, ein armer Teufel halt. Ich war sogar bereit, seine Ignoranz mir gegenüber großzügig zu verzeihen.

Der von dem ihn umwallenden Mitleid nichts Ahnende trug eine Strumpfhose, die seine überaus langen Beine sehr zur Geltung brachte, und ein grünes Hemd mit hellen Längsstreifen. Das Hemd hängt noch in meinem Schrank. Ich stehe oft davor. Zumal beim Ordnung Machen in meinen Gedanken. Da hängt es also. Eine Reliquie. Genau die Verehrung einer Reliquie genießt das Hemd bei mir. Ich nehme einen Ärmel, drücke ihn an meinen Mund und rieche gleichzeitig daran. Rieche ich Norbert? Tränen steigen mir auf. Es ist Lavendel, nicht Norbert. Aber die Lavendelsäckchen hat er noch in den Schrank gehängt, ich habe nichts verändert.

Das Gesicht von Norbert war an dem Abend stark verschminkt, er hatte seine Augen mandelförmig mit schwarzer Farbe und eingelegtem Flitter umschmiert.

Ich ging geradewegs auf ihn zu. Norbert blickte mir mit seinen künstlich vergrößerten Augen entgegen. Dann fielen meine denkwürdigen Eröffnungsworte: „Sie glauben wohl auch, Sie sind was Besseres?“

„Ich nicht“, antwortete er schnippisch, „das sind hier schon Sie!“

„Wieso ich?“, fragte ich, zugegeben scheinheilig.

„Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nicht bemerkt, wie alle vor Ihnen auf dem Bauch liegen“, sagte Norbert verächtlich.

Er sagte es in dem Ton, der mir später noch viel zu schaffen machen sollte. Es war ein unangenehmer Ton.

Ich höre Norbert mitten in meine Gedanken hinein sprechen. Norbert hielt sehr viel von seiner Sprechstimme. Sie neigte manchmal zum Umkippen in den Diskant. Ich machte ihn sehr bald darauf aufmerksam und gewöhnte ihm das Gejodel nach und nach ab.

Damals aber protestierte ich: „Ich weiß schon, dass die vor mir auf dem Bauch liegen. Aber warum machen Sie das mir zum Vorwurf? Ich kann doch nichts dafür, wenn die anderen mich hofieren...“

„Aber Sie genießen es“, trumpfte er auf.

Der Auftrumpfton, dem ich auch noch oft begegnen sollte. Norbert trumpfte gerne auf.

Ich musste ihm recht geben und lächelte. Das Lächeln, das ich einsetzte, wenn ich Wirkung machen wollte. Ein einstudiertes, leicht freches Lächeln, das entwaffnend wirken sollte und es sichtlich immer wieder auch tat.

So groß war unsere ‚Feindschaft’, dass wir das in unseren Kreisen völlig unübliche ‚Sie’ einander an den Kopf warfen. Jedes ‚Sie’ eine Ohrfeige. Mit diesem ‚Sie’ signalisierten wir einander, wie wenig einer den anderen interessierte. Eine kleine Abrechnung an einer unwichtigen Nebenfront war es für jeden von uns beiden, sonst nichts.

Norbert aber wurde gnädiger.

„Interessieren Sie sich nicht für Pornofilme?“, fragte er, wobei er mit dem Kopf auf die anderen deutete, die mit glänzenden Augen, ineinander oder in sich selber versunken, auf die Leinwand starrten. Oder sie schliefen einfach.

„Nein“, antwortete ich, „ich mache mir mein bisschen Sex selber.“

Mit dem ‚bisschen Sex’ untertrieb ich sehr, denn ich war damals als Sexomane unterwegs.

„Nur ein bisschen?“, fragte Norbert denn auch.

„Wieso? Meinen Sie, ich bin ein Sexmolch?“

„Na“, lächelte er, „bei den Warteschlangen?“

‚Warteschlangen’ ist das letzte Wort, an das ich mich wörtlich erinnern kann. Bis hierher haben wir das Gespräch später oft miteinander rekapituliert und wohl auch gereinigt. Das aber ist die Formulierung, auf die wir uns bei unseren Erinnerungen miteinander geeinigt haben.

Sehr bald kamen wir auf unsere große Gemeinsamkeit zu sprechen: Die Musik, das Konzert, vor allem die Oper. Es währte nicht lange und wir waren mitten im schönsten Fachsimpeln. Allerdings tat sich bald wieder eine Kluft auf. Norbert war total auf Sänger und vor allem Sängerinnen eingestellt, die damals sangen, Zeitgenossen. Ich aber hatte durch die sechs Jahre, die ich älter war als Norbert, auch noch Einblick in die Schar der Sänger, die damals nur auf den alten, schweren Schallplatten zu hören waren. Norbert war schon in die Langspielplattengeneration hineingewachsen. Wenn er mir eine Interpretin vorsetzte, konterte ich mit einer alten, die Norbert gar nicht, oder nur dem Namen nach kannte.

Wir waren so in unser Gespräch vertieft, dass wir gar nicht bemerkten, wie sich unsere Gastgeber und einige Gäste zublinzelten und mit heimlichem Vergnügen feststellten, dass sich da offensichtlich etwas anbahne. Als wir es endlich doch bemerkten, wurden wir sofort sehr gleichgültig. Wir spielten nicht nur den anderen, sondern auch uns gegenseitig Gleichmut und Gelassenheit vor, winkten allen Anspielungen ab, verabschiedeten uns von den anderen herzlich, von einander kaum, und gingen jeder seines Weges. Ich fuhr allein nach Hause, was damals einem Wunder gleichkam.

Am nächsten Tag war ich bei Peter und Toni zum Kaffee eingeladen. Ein schneller, unauffälliger Blick in die anwesende Runde zeigte mir, dass Norbert nicht da war. Ganz nebenbei, betont nebenbei, fragte ich, wo denn der Lange von gestern sei, sie wüssten schon, wen ich meine. Meine Frage war aber dermaßen nebenbei gestellt, dass Peter sofort an das Telefon stürzte und Norbert zu Hause anrief. Er war zu Hause, in seinem Haus. Ich erfuhr sehr bald, wie lang Norbert mit der Straßenbahn zu fahren hatte bis zu Peters Adresse. Er war aber so schnell da, dass er nur mit dem Taxi gefahren sein konnte. Sein Leben lang stritt er das ab.

Beim Kaffee ertappten wir einander immer wieder, wie einer den anderen ansah. Zuerst wendete jeder sofort die Augen ab, wenn er den Blick des anderen traf. Bald aber hielten wir einander stand. Ich weiß nicht, wie es Norbert erging, aber mir selber wurde seltsam warm, mein Blut floss unruhig in meinem dünnhäutigen Körper und um mein Herz herum versammelten sich Freude, Zuneigung, Staunen und Lächeln. Mein Gott, wie schwer es doch ist, Glück zu beschreiben.

 

An diesem Abend begleitete Norbert mich in meine Wohnung, einem finsteren Hinterhofloch auf dem Franz-Josephs-Kai im ersten Bezirk. Eine gute Adresse, sonst nichts. Ein Gasstrahler, der oberhalb der Türe des sogenannten Wohnzimmers angebracht war, eine fatale Erinnerung an billige Beiseln, die ebenso beheizt wurden, erwärmte die ganze Wohnung brutal. Das verbrennende Gas zog die Nässe aus den Wänden, Tropfen rannen herunter und machten die ohnedies schon schleissige Wandmalerei noch hässlicher.

Dort verbrachten wir unsere erste Nacht. Sooft ich daran zurück denke, stelle ich mit immer neuem Staunen fest, dass genau wie diese erste Nacht auch alle folgenden waren. Damals wurde unsere Liebe in allen gefühlsmäßigen und körperlichen Details festgeschrieben. Es war immer wieder diese eine Nacht, die wir erlebten. Eine Nacht. DIE Nacht immer wieder.

Ich bin, wenn ich diese Erinnerungen auch nur streife, drauf und dran, die ganze Ordnungmacherei hinzuschmeißen.

Norbert musste am nächsten Morgen sehr früh hinaus, weil er noch nach Hause fahren wollte. Er sei für den Tag im Büro nicht richtig gekleidet, sagte er.

Für den nächsten Abend verabredeten wir uns bei Norbert. Die Beschreibung, wie ich mit dem Auto zu Norbert kommen würde, war schwierig. Norbert beschrieb den Weg bis zu der Autobushaltestelle, an der ich jeden Morgen vorüber fahre, wenn ich Norbert am Grab besuche. Und immer sehe ich ihn dort stehen. Er winkte lächelnd wie ein Autostopper, stieg in das Auto, küsste mich kurz und wies mich links-rechts in die Gasse, in der sein Haus stand. Ich empfinde in der Abfolge meiner Erinnerung eine Lücke, die mir weh tut wie jede Erinnerung, die mit schwarzen Löchern qualvoll durchspickt ist. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir bei Norbert zu Abend aßen. Jede Lücke ein Vergessen, jedes Vergessen ein Mosaikstein zu meiner Verzweiflung. Ich weiß nur von vielen, vielen Schallplatten, die im Wohnzimmer die Kredenz, den Schrank und den umliegenden Boden füllten und bedeckten. Wir sahen uns die Schallplatten an, studierten die Texte auf den Hüllen, diskutierten über die Künstler, spielten auch einige auf der Stereo-Anlage, die Norbert später für unser Haus in St. Oswald spendete. In einem Zimmer im ersten Stock verbrachten wir dann die Nacht. Unsere zweite. Sie war glückhaft wie die erste, eine Bestätigung, dass wir miteinander glücklich sein konnten. Wunderbar glücklich. Wunder.

Es war das einzige Mal, dass wir bei Norbert die Nacht verbrachten. Ab nun trafen wir einander fast täglich bei mir.

Norbert begann mich zu umgeben. Es folgte eine unangenehme Phase unserer Liebe. Ich, nicht gewohnt, Rechenschaft über irgendetwas abzugeben, bäumte mich auf. Ein halbes Jahr lang wehrte ich mich gegen die ‚Vereinnahmung’, die ich da zu spüren vermeinte. Ich reagierte rüpelhaft, wollte weh tun. Wenn Norbert mich verliebt ansah, sagte ich, er sähe jetzt besonders blöd drein. Norbert liebte Rom besonders. Als ich das hörte, fuhr ich fünf Tage in die ewige Stadt - mit einem anderen Freund.

Mein Herz zieht sich zusammen bei diesen Gedanken. Ordnung machen? Ich schäme mich zutiefst. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und spüre die Tränen, die über meinem ganzen Gesicht hängen. Mit Norbert habe ich das alles längst besprochen. Ausgeredet. Norbert wollte nie darüber reden, weil es ihm weh tat, in der Erinnerung und im Gespräch. Und weil es ihm leid tat, wenn ich mich zu Tränen schämte.

Dann aber war der Widerstand irgendwann einmal gebrochen und ich sank hinein in die Wohligkeit der zweisamen Häuslichkeit. Mittlerweile hatte ich eine neue Wohnung gekauft und eingerichtet, in die dann Norbert, kaum war sie fertig, mit mir einzog.

Als wir einander kennenlernten, war ich siebenunddreißig Jahre alt, Norbert einunddreißig. Mag sein, dass Norbert noch jung war, obwohl ich ihn immer als ganzen Mann in Erinnerung habe. Ich jedenfalls war nicht mehr jung. Alt genug, um keine ‚Jugendtorheit’ mehr zu begehen. Was ich da einging, war für immer bestimmt, für die Ewigkeit, wie man sie sich halt vorstellt, wenn man mit ihr nicht in Berührung kommt.

In der neuen Wohnung lebten wir dann miteinander unsere fünfzehn Jahre, die uns gegeben waren. Bis zu dem Abend, als das Telefon in eben dieser Wohnung läutete. Das braune Telefon, dessen Farbe Norbert nicht mochte, und mir das Ende unseres Beisammenseins mitgeteilt wurde.