Blutiger Spessart

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From the series: Mainfranken Krimi #1
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7

Brunner betrat sein Büro im vierten Stock des Polizeipräsidiums. Die Sonderkommission Spessartblues, die vor zwei Jahren mit vierzehn Beamten für die Ermittlungen gegen den Emolino-Klan eingerichtet worden war, nahm fast das ganze Stockwerk in Anspruch. Oberstaatsanwalt Kerner hatte damals den Vorschlag gemacht, der Kommission diese – natürlich ironisch gemeinte – Bezeichnung zu geben. Seinerzeit war man noch voller Optimismus ans Werk gegangen, in der festen Überzeugung, dass der Pate bald den Blues verspüren würde. Das erklärte Ziel war es, dieser Hydra des Verbrechens möglichst schnell alle Köpfe abzuschlagen und ein Nachwachsen zu verhindern. Jetzt, nachdem der Erfolg der intensiven Ermittlungsarbeit zunichte gebombt worden war, spürte Brunner selbst in sich das schwermütige Gefühl, das man landläufig mit dem »Blues« umschrieb.

Der Leiter der Einsatzgruppe legte seine Jacke ab und zog das Schulterhalfter mit seiner Dienstpistole aus. Die Hitze des Tages hatte unter seinen Achseln handtellergroße Schweißflecken hinterlassen. Auch das Leder des Holsters war dunkel durchfeuchtet. Nachdem er seine Waffe in ein Schreibtischfach gelegt hatte, entnahm er dem gleichen Fach eine Dose Deospray, öffnete an der Brust sein Hemd, fuhr mit der Spraydose unter den Stoff und verpasste sich beidseitig in die Achselhöhlen eine kurze Dusche.

Monika Rettig, Kriminalhauptkommissarin und seine Vertreterin, kam herein und verzog das Gesicht.

»Hier riecht es ja wie in einem Freudenhaus«, kommentierte sie Brunners Versuch, einen Hauch von Reinlichkeit zu verbreiten.

»Na, du musst Erfahrungen haben«, gab der Beamte mit dem Anflug eines Grinsens zurück. »Aber was will man denn bei diesen Dschungeltemperaturen schon machen?«

Mit der Kommissarin hatte Brunner eine der besten Profilerinnen in seine Sonderkommission aufgenommen, die im Bereich des Präsidiums zu finden war. Sie war schlank, fast dünn, aber drahtig und ausgesprochen sportlich. Ihre blonden Haare trug sie kurz. Obwohl sie sich nur wenig schminkte, waren sich die Männer in der Kommission einig, dass sie durchaus eines zweiten Blickes wert war. Das Faszinierende an ihr waren ihre Augen, die eine bestechende Intelligenz ausstrahlen. Sie waren von dunklem Braun mit einer frechen, gelblichen Aureole um die Iris.

Nach der kurzen Flachserei ließ sich die Kommissarin auf einem der Stühle nieder. Selbstverständlich hatten sich die erschütternden Ereignisse im Strafjustizzentrum wie ein Lauffeuer in der Dienststelle verbreitet. Eigentlich war ihr nicht zum Scherzen zumute.

»Wie lief es?«

Brunner zuckte mit den Schultern. »Das kannst du dir doch denken. Kerner ist ziemlich fertig und frustriert. Mir geht es auch nicht besser. Drei tote MEK-Männer. Drei Witwen und mehrere Waisen. Ich bin froh, dass ich den Angehörigen nicht die schlimme Botschaft überbringen musste.« Er lehnte sich gegen den Schreibtisch. »Wir hatten Emolino fest am Haken, und jetzt können wir wieder von vorne anfangen. Dieser Verbrecher ist glitschig wie ein Aal.«

»Der Tod der Männer ist wirklich eine schlimme Sache. Wenn man könnte, wie man wollte …« Sie ließ den Rest des Satzes offen. »Kommen wir zur Kernfrage: Wie machen wir jetzt weiter? Wir sind es den ermordeten Kollegen schuldig, dass wir nicht eher Ruhe geben, bis wir ihren Mörder zur Strecke gebracht haben.«

»Kerner will, dass wir Emolino nicht aus den Augen lassen. Observierung rund um die Uhr. Er soll nicht denken, dass er uns das Rückgrat gebrochen hat.«

Die Kommissarin sah ihren Kollegen zweifelnd an. »Emolino wird sich nicht die geringste Blöße geben. Das ist ein alter Fuchs, der mit allen Wassern gewaschen ist. Die Drecksarbeit haben sowieso seine Handlanger gemacht.«

»Wem sagst du das. Wir müssen den Druck noch stärker erhöhen und hoffen, dass er irgendwann doch nervös wird und einen Fehler macht. Wenn wir auch den Nachbarbossen auf die Füße steigen, werden die wiederum Druck auf Emolino ausüben. Nichts hasst die Mafia mehr, als wenn man sie aus ihren dunklen Löchern aufscheucht. Vielleicht können wir noch einmal jemand aus seinem Dunstkreis umdrehen, damit er uns verwertbare Informationen zuspielt.«

Rettig, die zum Fenster hinaus gesehen hatte, drehte sich wieder zu ihrem Kollegen um und entgegnete kopfschüttelnd: »Nach dieser Hinrichtung des Kronzeugen direkt unter den Augen der Justiz wird niemand mehr aus seinem engeren Umfeld den Mund aufmachen. Ich denke, wir kommen nicht darum herum, in die Organisation einen verdeckten Ermittler einzuschleusen.«

»Weißt du, wie lange es dauert, bis wir da jemand installiert haben? Da können Jahre vergehen. Und das wäre definitiv ein Himmelfahrtskommando!«

»Stimmt. Aber hast du eine bessere Idee? Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir wieder in die Langzeitermittlung eintreten. Das geht nur mit langem Atem. Vielleicht sollten wir eine völlig unerwartete Strategie einschlagen. Als ersten Schritt lösen wir die Sonderkommission auf, damit er das Gefühl hat, wir geben auf. Wir können ja das Gerücht streuen, dass man uns die Gelder total zusammengestrichen hat. Eine kleinere, effiziente Kerngruppe ermittelt weiter. Wenn wir ihn genug eingelullt haben, schleusen wir den Undercoveragenten ein. Dann müssen wir abwarten, was der Mann erreicht.«

Sie wandte sich zur Türe. »Wir müssen später noch einmal in Ruhe darüber reden. Der Gedanke ist noch zu unausgegoren. Ich habe jetzt eine Zeugenvernehmung. Wir sehen uns danach.«

Sie ließ einen sehr nachdenklichen Brunner zurück.

8

Kerner erwachte davon, dass ihm eine warme, weiche Hand zärtlich über die nackte Brust streichelte. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Haut, und ihn fröstelte es trotz der warmen Außentemperaturen. Langsam drehte er sich auf die Seite und kuschelte sich träge an Steffis schlafwarmen Körper. Steffi Burkhard, 29 Jahre alt, blondes, langes Haar, Tochter des Bürgermeisters von Partenstein, gab schnurrende Geräusche von sich und drängte sich ihrerseits gegen Kerners Körper. Seit vier Jahren war sie mit Kerner liiert. Sie hatten sich auf einer Kirchweihfeier der Gemeinde kennen gelernt. Danach verabredeten sie sich immer wieder einmal. Ihre Treffen fanden dabei in erster Linie in Würzburg statt, weil Steffi keine Lust auf die Tratscherei im Dorf hatte. Bis dahin war alles ziemlich unverbindlich. Bei einem gemeinsamen Ansitz auf einer verschwiegenen Kanzel in Kerners Jagdrevier, zu der er sie überredet hatte, war es dann geschehen. Seitdem zeigten sich die beiden auch in Partenstein als Paar.

»Du hast sehr unruhig geschlafen«, stellte sie leise fest, während sie ihm mit verspielten Fingern das feuchte Haar aus der Stirne strich. »Hast Du schlecht geträumt?«

»Die Geschichte mit der Explosion gestern kann ich nicht so einfach wegstecken«, erwiderte er. »Ich habe einen ziemlichen Mist zusammenphantasiert.«

Es war Wochenende. Gestern Abend hatten sie lange bei einer Flasche Wein zusammengesessen, und Kerner hatte ihr von den Ereignissen erzählt. Es würde heute sowieso ausführlich in den Medien durchgekaut werden, sodass er keine Dienstgeheimnisse verriet.

Beide waren sich bewusst, dass sie sich mit dem Aufstehen Zeit lassen konnten. Steffis Streicheln wurde langsam intensiver und zielgerichteter. Zärtlich fuhr sie mit den Fingernägeln über Kerners Rücken.

Plötzlich hielt Kerner sanft ihre Hand fest und schüttelte leicht den Kopf. »Tut mir leid, mein Schatz, aber ich bin wirklich nicht in der Stimmung. Ich hoffe, du kannst das verstehen. Drei Polizeibeamte sind sinnlos gestorben, und dieser Verbrecher bleibt auf freiem Fuß!« Er erhob sich und wandte sich in Richtung Badezimmer. »Es wird sicher noch einige Tage dauern, bis ich das etwas verdaut habe.« Dann wechselte er das Thema und bemühte sich um einen etwas lockereren Tonfall: »Du hast zehn Minuten, um dich fertig zu machen. Wir wollten doch bei dem schönen Wetter in der Jagdhütte frühstücken. Also los, du Faultier, sieh zu, dass du aus den Federn kommst!« Mit einem Ruck zog er ihr die Bettdecke weg, was sie zu einem schrillen Protestgeschrei veranlasste.

Die Jagdhütte lag auf einer abgeholzten Höhe inmitten des Spessartreviers, das Kerner schon seit Jahren als Jäger gepachtet hatte. Von der Veranda aus hatte man einen herrlichen Blick hinunter ins Maintal, wo sich der Fluss in der sommerlichen Hitze träge durch sein Bett schlängelte.

Kerner holte den Korb mit dem Frühstück aus dem Kofferraum seines Defenders und stellte ihn auf den Tisch vor der Hütte.

»Schatz, brühst du bitte schon mal den Kaffee auf? Ich will noch kurz in die Zeitung sehen.« Kerner hatte das örtliche Presseorgan mitgebracht. Die schreienden Überschriften des Leitartikels auf der Titelseite waren nicht zu übersehen. Konzentriert begann zu lesen.

Die Jagdhütte hatte eine unabhängige Stromversorgung über eine Solaranlage auf dem Dach. Steffi ging hinein und schaltete den Wasserkocher ein. Als sie wieder vor das Haus trat, war Kerner noch immer in die Zeitung vertieft. Sie störte ihn nicht. Mit einem Lappen wischte sie die grobe Tischplatte ab, die aus einem einzigen Eichenstamm gefertigt war; dann begann sie, den Tisch mit dem Geschirr aus der Hütte zu decken.

»Schatz, können wir jetzt frühstücken?«

Kerner legte die Zeitung zur Seite. Er hatte etwas Mühe, sich gedanklich von den Nachrichten zu lösen. Leicht abwesend griff er sich ein Croissant und begann, es mit Marmelade zu bestreichen. Normalerweise liebte Kerner solche besinnlichen Stunden, in denen er den Berufsalltag vergessen konnte. Heute hatte er jedoch Mühe, in diese entspannte Welt einzutauchen.

 

Steffi beobachtete ihn unauffällig. Sie war von Beruf Physiotherapeutin und arbeitete in einer renommierten Orthopädiepraxis in Gemünden. Die juristische Materie war ihr völlig fremd. Eine Eigenschaft, die Kerner an ihr besonders schätzte, weil so nicht die Gefahr bestand, dass sie während ihrer Freizeit beruflich fachsimpelten. Allerdings verfügte die junge Frau über ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, das ihr bei der Behandlung ihrer Patienten half. Zudem war sie dank ihres scharfen Verstandes in der Lage, juristische Sachverhalte auf eine ganz natürliche Weise zu betrachten – was Kerner sehr schätzte.

»Das ist alles sehr bedrohlich«, nahm sie wieder das Thema auf, das seit gestern ihre Gespräche beherrschte, obwohl sie sich vorgenommen hatten, es heute ruhen zu lassen. Aber sie bemerkte sofort, dass Kerner nicht wirklich abschalten konnte. Vielleicht half es ihm, wenn sie darüber sprachen.

»Sind die Leute, die hinter diesem Mord stehen, auch für dich gefährlich?« Dieser Gedanke beschäftigte sie schon seit einiger Zeit.

Kerner schüttelte den Kopf. »Ich denke eher nicht. Die wissen, dass es keinen Sinn hätte, etwas gegen mich zu unternehmen. Wenn ich ausfalle, wird die Sache von einem anderen Staatsanwalt übernommen. Das brächte allenfalls ein paar Wochen Aufschub. Ihre Gewalt richtet sich deshalb auch in erster Linie gegen Zeugen. Wenn die dann nicht mehr aussagen, besteht die Gefahr, dass das ganze Verfahren nicht durchgeführt werden kann. Das ist wesentlich effizienter, als den Staatsanwalt zu töten. Aber eine Sicherheitsgarantie bedeutet das nicht.« Er griff entschlossen nach dem Messer und beschmierte ein Brötchen mit Butter. »Lass es damit gut sein, Liebling, wir wollen uns doch nicht das schöne Wochenende verderben.«

»Eine Sache noch, weil das uns ganz persönlich betrifft. Du hast dich doch auf die Position des Amtsgerichtsdirektors in Gemünden beworben. Dabei bleibt es aber doch?« Das sollte beiläufig interessiert klingen, man konnte aber deutlich die Spannung heraushören, die diese Frage bei ihr auslöste.

Kerner legte das Gebäck zur Seite und atmete schwer. »Mein Chef hat das Thema gestern auch schon angesprochen. Nachdem Emolino uns fürs Erste durch die Maschen geschlüpft ist, bleibt uns, bleibt mir, eigentlich nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Man kann da nicht einfach aussteigen.«

Steffi sah ihn betroffen an. Kerner erwiderte den Blick. »Ich muss mir das alles noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Das ist heute noch zu früh. Du hast dich darauf gefreut, dass wir auch beruflich näher beisammen sind, das weiß ich. Ich doch auch. Aber ich habe eine Verantwortung, auch gegenüber den getöteten Polizisten und ihren Familien. Das ist alles nicht einfach!«

Sie konnte sehen, wie ihn die Geschichte aufwühlte. Ihr lagen zwar noch viele Fragen auf der Zunge, aber sie entsprach seinem Wunsch und wechselte das Thema. Wie sie ihn kannte, hätte er jetzt sowieso nicht mehr viel dazu gesagt.

»Schatz, du denkst daran, dass ich heute Nachmittag auf das Fest anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Partensteiner Schützenvereins muss? Mein Vater hat mich gebeten, ihn zu begleiten.«

Kerner nickte. Seit Steffis Vater Witwer war, übernahm sie gelegentlich die Rolle der weiblichen Begleiterin des Bürgermeisters.

»Kein Problem, ich hatte für heute Abend sowieso einen Jagdansitz an einem Maisfeld im Revier geplant, das momentan massiv von Wildschweinen heimgesucht wird. Der Bauer hat mich schon zweimal deswegen angerufen. Dort muss mal dringend ein Stück erlegt werden, das vertreibt sie dann wieder für eine Weile.«

Steffi war als Mädchen vom Land mit den Problemen der Wildschweinschwemme im Spessart bestens vertraut und wusste, dass eine scharfe Bejagung dringend notwendig war. Die schwarzen Rüsselträger konnten in der Landwirtschaft verheerende Schäden anrichten, die dann der Jagdpächter aus der eigenen Tasche bezahlen musste. Dafür gab es keine Versicherung.

»Prima, dann wirst du mich ja gar nicht vermissen und kommst auch nicht auf dumme Gedanken«, unternahm sie den Versuch, ihn durch Necken etwas abzulenken.

Kerner lächelte sie an. »Du kleine, blonde Hexe weißt ganz genau, wie sehr ich deine Gesellschaft brauche und genieße. Ganz besonders in Zeiten wie diesen.« Er griff schnell über den Tisch und stupste sie spielerisch mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze.

9

Schwarzwildjagd war Nachtjagd. Die Schwarzkittel, wie die Wildschweine von den Jägern wegen ihrer dunkelhaarigen Schwarte auch genannt werden, waren aufgrund der scharfen Bejagung und zahlloser Störungen durch Freizeitaktivitäten der Menschen fast überall nur noch nachts aktiv. Der Jäger hatte nur eine Chance bei Vollmond, wenn das Licht des Erdtrabanten ausreichte, um mithilfe eines starken Nachtzielfernrohrs einen sicheren Schuss auf seine Beute abgeben zu können.

Wenn Simon Kerner auf die Jagd ging, war er ein anderer Mensch. Die straff strukturierten Abläufe einer Ermittlungsbehörde, die sich ausschließlich an Gesetzen und Verordnungen zu orientieren hat, verlangten einen Menschen, der auf dieser Klaviatur spielen konnte. Kerner war auf diesem Gebiet ein Virtuose, der mit voller Passion der Verbrechensbekämpfung nachging. Genauso motiviert war er aber auch auf der Jagd. Insgeheim vertrat er die Meinung, dass sich die schwierige Jagd auf das intelligente Schwarzwild nur in Nuancen von der Verfolgung eines Verbrechers unterschied. Nur der meist finale Abschluss der Jagd auf Wildschweine unterschied sich natürlich von dem einer Verbrecherjagd.

Kerner folgte gegen 22.00 Uhr einem Wiesenweg. Er führte auf der rechten Seite am Waldrand entlang, während sich auf der anderen Seite eine Wiese erstreckte, an die sich wiederum das besagte Maisfeld anschloss. Schließlich gelangte Kerner zu einem Hochsitz, der an einen Dickungsrand gebaut war. Diese mehrere Hektar große Aufforstung befand sich am Fuße einer der zahlreichen bewaldeten Erhebungen, wie sie für den Spessart so typisch sind. Kerner hatte sich umgezogen und trug nun zweckmäßige Outdoorbekleidung. Über der Schulter hing sein großkalibriges Jagdgewehr, auf dem Rücken trug er einen Rucksack mit allerlei Utensilien.

Von diesem Hochsitz aus hatte man einen ausgezeichneten Blick auf das ungefähr siebzig Meter entfernte Maisfeld, das sich etwa achtzig Meter in der Längenausdehnung an die Grünfläche anschloss. Dieses Maisfeld war seit Tagen der Anziehungspunkt für eine große Rotte Wildschweine, die, wie er wusste, in der Dickung hinter dem Hochsitz ihren Tageseinstand hatten. Mais war für Wildschweine eine Delikatesse, ähnlich wie Kaviar für manche Menschen. Nach den Spuren, die Kerner schon seit Tagen bei abendlichen Besuchen im Revier beobachtet hatte, traten die Schwarzkittel ein Stück entfernt links von seinem Hochsitz aus dem Wald aus. Von dort wechselten sie regelmäßig, fast exakt im rechten Winkel zum Waldrand, über die Weide und drangen in das Maisfeld ein. In dieser Phase, in der sich die Schwarzkittel, wie man aus den Spuren lesen konnte, offenbar Zeit ließen, sollte ihm als geübten Schützen ein Treffer gelingen.

Kerner erklomm den Hochsitz und ließ sich in ungefähr sieben Metern Höhe auf das Sitzbrett nieder. Von hier aus hatte er einen hervorragenden Blick über die leichte Senke. Über den Rand des Maisfeldes hinweg, gewissermaßen am Horizont, konnte er den geschotterten Wirtschaftsweg erkennen, der sich zwischen den Ortschaften Partenstein und Wiesthal mehrere Kilometer entlangzog. Wie Kerner wusste, war dies eine beliebte Abkürzung der Landbevölkerung zwischen den beiden Orten – im Volksmund auch Cognacstraße genannt. Anders ausgedrückt, ein Schleichweg in beide Richtungen für nicht mehr ganz fahrtüchtige Dorfbewohner.

Er zog sein Gasfeuerzeug heraus und hielt es in die Höhe. Die sensible Flamme war der beste Anzeiger für die Windrichtung. Da Wildschweine ein ausgezeichnetes Witterungsvermögen besaßen, war diese Vorsicht durchaus angezeigt. Von links, also Westen, kam eine sanfte Brise auf ihn zu. Der Jäger nickte zufrieden. Solange sich die Windrichtung nicht unvermittelt änderte, würden ihn die schlauen Schwarzkittel, wenn sie an der erwarteten Stelle austraten, nicht wittern können.

Er stellte sein Jagdgewehr in die Ecke der Kanzel. Es handelte sich um einen modernen Halbautomaten in dem eher seltenen Kaliber 35. Whelen, einem sehr effizienten Hoch-wildkaliber. Dann packte er seinen Rucksack aus. Mit Decken polsterte er die freiliegenden Holzteile des Hochsitzes, einschließlich der Brüstung, damit ihn beim Hantieren mit der Waffe kein Geräusch verraten konnte. Schon ein leichtes metallisches Kratzen konnte genügen, um die aufmerksamen Wildschweine zu vertreiben.

Als alles gerichtet war, zog er das bereits befüllte Magazin aus der Tasche, lud die Waffe durch und sicherte sie.

Ein halbautomatisches Jagdgewehr hatte den Vorteil, dass nach einem abgegebenen Schuss die leere Patronenhülse ausgeworfen und aus dem Magazin automatisch die nächste Patrone nachgeladen wurde. Das erlaubte dem Jäger eine schnellere Schussfolge, was aber bei der Nachtjagd kaum eine Rolle spielte.

Danach legte er das Gewehr so vor sich auf die Holzbrüstung, dass er jederzeit schnell und lautlos zugreifen konnte. Langsam lehnte er sich zurück und bereitete sich auf eine längere Wartezeit vor. Bis zum Einbruch der Nacht war noch ungefähr eine Stunde hin. Sonst pflegte er in solchen Fällen die Wartezeit mit einem kleinen Nickerchen zu überbrücken. Erfahrungsgemäß ließen sich die Schweine Zeit. Wenn die Rotte dann im Anmarsch war, machte sie in der Regel im Wald so viel Krach, dass er sofort hellwach sein würde.

Heute fand er jedoch nicht gleich die nötige Entspannung. Immer wieder erschien vor seinem geistigen Auge das Bild des zerstörten und ausgebrannten Gefangenentransporters. Man hatte die Leichen vor Ort gar nicht bergen können, weil sie total verbrannt und teilweise mit den Wrackteilen des Fahrzeugs verschmolzen waren. Später wurde der Transporter abgeschleppt, damit die Leichenbergung in der Werkstatt der Polizei vorgenommen werden konnte.

Kerner wusste von seinen Kampfeinsätzen bei der Bundeswehr, wie Menschen aussahen, die in Fahrzeugen verbrannt waren. Oftmals war eine DNA-Analyse notwendig gewesen, um die Identität eines Opfers sicher feststellen zu können.

Kerner war als Fallschirmspringer und Einzelkämpfer ausgebildet und hatte als Hauptmann einige Zeit einen Spezialtrupp von acht Elitesoldaten befehligt. Mit seinen Männern agierte er während der Operation Südflanke vom Persischen Golf ausgehend an Land hinter den Linien des Feindes. Saddam Hussein hatte Kuwait überfallen, und zwei deutsche Diplomaten waren verschwunden. Er wurde mit seinem Trupp von einem Hubschrauber im Grenzgebiet zwischen Kuwait und dem Irak abgesetzt und schlug sich mit seinen Männern zu einem Lager der irakischen Armee durch, wohin man diese Diplomaten verschleppt hatte. Ihr Auftrag lautete: Befreiung mit allen Mitteln. Dieser Befehl wurde ausgeführt. Dabei mussten sie zur Ablenkung zwei irakische Militärfahrzeuge in Brand setzten, nachdem sie die Fahrer mit Messern getötet hatten. Ein geheimer Einsatz, der niemals offiziell bekannt geworden war.

Kerner atmete die kühle Nachtluft ein und bemühte sich, die Bilder aus der Vergangenheit in den Hintergrund zu drängen. Das war alles schon viele Jahre her, doch die gestrigen Ereignisse am Strafjustizzentrum, die eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Kriegshandlung hatten, ließen die Erinnerungen wieder heftig aufleben.

Als er einen Blick nach rechts zum Waldrand hin warf, entdeckte er ein Reh, das gemächlich auf die Wiese zog, um dort zu äsen.

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