Empirische Sozialforschung

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Empirische Sozialforschung
Font:Smaller АаLarger Aa


utb 4460

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

A. Francke Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol

Waxmann · Münster · New York

Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel sowie als Gast an der Istanbul Üniversitesi und der Northwestern University in den USA. Er hatte zudem zahlreiche Ämter in der Selbstverwaltung in Bochum, Stuttgart (Dekan), Saarbrücken (Vizepräsident der Universität) und Kiel (Dekan der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät) inne.

Günter Endruweit

Empirische Sozialforschung

Wissenschaftstheoretische Grundlagen

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

mit UVK/Lucius · München

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Lektorat: Marit Borcherding, München

Satz: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 4460

9783825244606 (EAN print)

9783846344606 (EAN epub)

978-3-8463-4460-6 (ISBN epub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Wozu Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften?

1 Begriffsklärungen

1.1 Wissenschaft

1.1.1 Wissen

1.1.2 Forschung

1.1.3 Theorie

1.2 Empirische Sozialwissenschaft

1.3 Wissenschaftstheorie

2 Wissenschaftstheoretische Aspekte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesse

2.1 Forschungsthema

2.2 Theorie

2.2.1 Theorie und Forschungspraxis

2.2.2 Quellen der Theorie

2.2.3 Bestandteile der Theorie

2.2.4 Funktionen der Theorie

2.3 Deduktion

2.4 Hypothesen

2.4.1 Formen der Hypothese

2.4.2 Formulierung der Hypothese

2.4.3 Falsifikation und Verifikation von Hypothesen

2.5 Operationalisierung

2.5.1 Begriff der Operationalisierung

2.5.2 Operationalisierung von Begriffen

2.5.3 Operationalisierung von Hypothesen

2.5.4 Stichprobe und Statistik

2.5.5 Probeuntersuchung

2.6 Datenerhebung

2.7 Auswertung

2.8 Theoriebilanz

2.8.1 Aufstellung der Theoriebilanz

2.8.2 Ergebnis der Theoriebilanz

2.9 Induktion

2.10 Theorie II

2.10.1 Eigene Theorien

2.10.2 Fremde Theorien

3 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik

4 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftswirklichkeit

Literatur

Definitionen

Wissenschaft

Wissen

Forschung

Theorie

Wissenschaftstheorie

Explorationsstudie

Deduktion

Hypothese

Verifikation

Falsifikation

Bewährung

Operationalisierung

Validität

Reliabilität

Probeuntersuchung

Objektivität

Intersubjektivität

Induktion

Stichwörter

Gesetz und Regel

Falsifikation und Verifikation

Validität

Reliabilität

Wertfreiheit

Marxistische Wissenschaftstheorie

Abbildungen

Abb. 1: Grundorientierungen empirischer Wissenschaften

Abb. 2: Wachstum von Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung (nach Max Weber)

Abb. 3: Angenommener empirischer Verlauf der Kurven für Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung

Abb. 4: Subsystems of Action (Talcott Parsons)

Abb. 5: Ablaufschema des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses

Einleitung: Wozu Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften?

Zu Beginn gleich eine Warnung: Wer eine Sozialwissenschaft rein geisteswissenschaftlich betreiben will, der lege dieses Buch sofort zur Seite; es könnte ihn nur verwirren. In den Zeiten, in denen man alle Wissenschaften entweder den Natur- oder den Geisteswissenschaften zuordnete, zählten die Sozialwissenschaften gewiss zu den Geisteswissenschaften.

Inzwischen herrscht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Sozialwissenschaften eine dritte Gruppe zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften bilden.1 Dabei nähern sie sich in ihren Forschungsmethoden den Naturwissenschaften an, arbeiten also empirisch, d. h. sie wollen Aussagen über ihre Objekte nur dann machen, wenn sie diese zuvor durch Erfahrung (griech.: Empirie) mit Hilfe genau festgelegter Methoden an der Wirklichkeit ihres Objekts überprüft haben. Das ist heute wohl in allen Sozialwissenschaften die herrschende Richtung.

Unter Sozialwissenschaften sollen hier insbesondere – in alphabetischer Reihenfolge – Demografie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Politikwissenschaft, (Sozial-)Psychologie, Soziologie und empirische Wirtschaftswissenschaften verstanden werden. Daneben sind, zumindest zu einem großen Teil, Sozial- und Kulturanthropologie, Kommunikationswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sozialmedizin und Historische Verhaltensforschung sozialwissenschaftlich orientiert. Auch in anderen Studiengängen, wie etwa Agrarwissenschaften und Ökotrophologie, nehmen sozialwissenschaftliche Anteile eher zu als ab.

 

Für Studierende dieser Fächer, aber auch für Laien, die sich für die genannten Wissenschaften interessieren, will dieses Buch Informationen darüber bieten, was deren Wissenschaftlichkeit ausmacht. Anders ausgedrückt: Die Wissenschaftstheorie gibt Antwort auf die Frage, wann eine Aussage eines Fachvertreters wirklich wissenschaftlich ist und nicht bloße persönliche Meinung. Das kann nur die Erfüllung der wissenschaftstheoretischen Regeln leisten, nicht schon der Gebrauch von Fremdwörtern, Schachtelsätzen, Tabellen, Formeln und anspruchsvoll klingenden Theorien.

Damit ist die Wissenschaftstheorie unabdingbare Grundlage für alles Arbeiten in den empirischen Sozialwissenschaften. Erstaunlicherweise kommt sie als ausdrücklich so genannte Lehrveranstaltung nur in wenigen Studiengängen vor. Das schließt aber nicht aus, dass Elemente der Wissenschaftstheorie in manchen Lehrveranstaltungen unter anderem Namen mitbehandelt werden. Hier sollen sie im Zusammenhang dargestellt werden, um ein Auseinanderdriften der Selbstverständnisse der empirischen Sozialwissenschaften und der Sozialwissenschaftler zu vermeiden helfen.

Was hier gesagt wird, soll nur für den Kern der empirischen Sozialwissenschaften gelten: für die empirische Forschung. Die allgemeine Wissenschaftstheorie, die als philosophische Disziplin ohnehin fast ausschließlich von (nicht empirischen) Philosophen betrieben wird, bleibt ausgespart. Wir müssen uns also nicht entscheiden, ob wir nach einem entitätenrealistischen, einem methodisch-konstruktivistischen oder einem modellistisch-experimentalistischen Ansatz vorgehen wollen. Diese Richtungen existieren tatsächlich – und noch etliche mehr. Tausende empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler haben recht brauchbare Ergebnisse hervorgebracht, ohne sich mit diesen Fragestellungen zu beschäftigen, wahrscheinlich sogar, ohne sie überhaupt gekannt zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass sie überflüssig sind.

Die für den empirischen Sozialwissenschaftler sehr nützlichen Kenntnisse der allgemeinen Wissenschaftstheorie, etwa Begriffsbildung, Modelltheorie, Erklärungen, sollte man schon vor dem Abitur in der Schule erworben haben. Nach dieser Einführung käme als nächster Schritt die Beschäftigung mit der Wissenschaftstheorie der jeweiligen einzelnen Sozialwissenschaft. Dort wird die Wissenschaftstheorie oft implizit unter den Methoden dieser Wissenschaft behandelt, so beispielsweise das optimale Verhalten der Versuchsleiter im erziehungswissenschaftlichen Experiment oder die zweckmäßige Fragenformulierung bei der schriftlichen Befragung in der Soziologie. Wer wissen möchte, wo der Verfasser dieses Buches bei Bedarf allgemeine wissenschaftstheoretische Orientierung zu suchen pflegt: überwiegend im Kritischen Rationalismus nach Karl R. Popper.

Manche Unterschiede der wissenschaftstheoretischen Grundpositionen ebnen sich ohnehin stark ein, wenn es um die praktischen Probleme der Forschung geht. Genau davon handelt diese Einführung. Sie soll das eigene Denken und Suchen anregen, nicht ersetzen. Daher gibt es oft absichtlich nur Andeutungen und Hinweise statt Ausdeutungen und Verweise. Überhaupt liegt die wissenschaftstheoretische Qualifikation eher im scharfen Blick für die Probleme der Forschungspraxis als im kompakten Wissen über die Literatur. Oft sind gerade bei den besten Forschungsvorhaben die wissenschaftstheoretischen Probleme neu oder in dieser Kombination neu, so dass Scharfsinn und Einfallsreichtum kaum durch die Kenntnis kopierbarer Vorbilder ersetzt werden können.

Die Probleme der empirischen Forschung können in dieser Einführung nicht erschöpfend behandelt werden. Es geht vielmehr um eine Sensibilisierung für häufige Fragen, vor allem um deren frühzeitige Erkennung. Man kann gerade als Neuling in einer Sozialwissenschaft manchmal lange an einem Projekt arbeiten, bevor man merkt, dass man schon längst in einer Sackgasse steckt. Dieses Buch soll vor allem helfen zu vermeiden, in eine solche Sackgasse hinein zu geraten.

1 Ausführlicher dazu Endruweit, S. 65–79.


1.Begriffsklärungen

Bevor wir mit den Überlegungen zum Inhalt der Wissenschaftstheorie beginnen, sind Einigungen darüber notwendig, wie die Schlüsselbegriffe Wissenschaft und Sozialwissenschaft zu verstehen sind. Es ist anzunehmen, dass die Wissenschaftstheorie etwas über die Gegenstände dieser Begriffe aussagen will. Die Diskussion über Gegenstände setzt aber voraus, dass man sich über deren Begriff einig ist, weil man nur so sicher sein kann, über denselben Gegenstand zu sprechen.


Wissenschaft

Zu Begriffsdefinitionen kann man auf verschiedene Weisen kommen,2 die alle ihre Berechtigung haben. Man kann die Begriffe apriorisch, gewissermaßen selbstherrlich festlegen. Das ist in der Wissenschaft häufig der Fall, auch in den Sozialwissenschaften. Max Weber drückte dieses Verfahren schon in der sprachlichen Fassung seiner Definitionen begrüßenswert deutlich aus, wenn er etwa Herrschaft definierte: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«3 Selbst wenn niemand sonst diese Definition teilt, kann sie in der Forschung als Maßstab benutzt werden, um herauszufinden, wie nahe oder fern ein untersuchter Gegenstand dieser Definition ist und wie er sich somit von ähnlichen Gegenständen unterscheidet. Die Qualität solcher Definitionen ist danach zu beurteilen, inwieweit sie sich in der weiteren Forschung als nützliches Instrument erweisen.

Gerade für empirische Sozialwissenschaften könnte ein zweites Verfahren angemessen sein: die empirische Ermittlung aller bisher für einen Begriff vorgeschlagenen Definitionen und die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem eine Definition nach einem sinnvollen Maßstab ausgewählt wird. Das könnte z. B. die am häufigsten benutzte Definition sein oder die neueste, wenn man davon ausgeht, dass diese die Vorteile aller früheren enthält und alle Nachteile vermeidet; zu dieser Annahme hat man jedoch sehr selten Anlass. Es könnte auch die Definition sein, die nur solche Elemente enthält, die allen Definitionen gemeinsam sind, oder diejenige, welche die am meisten benutzten Elemente enthält. Solche Definitionsverfahren sind vor allem angemessen, wenn man einen Überblick über allgemeine Theorien bieten oder herrschende Richtungen ermitteln will.

Für eine Definition des Wissenschaftsbegriffs bietet sich gerade in den Sozialwissenschaften ein dritter Ansatz an: die Ermittlung der sozialen Funktion, des wirklichen Arbeitsbereichs also, oder der sozialen Rolle von Wissenschaft, d. h. der Erwartungen, die in der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft gehegt werden. Einwandfrei wäre eine solche Begriffsbestimmung natürlich nur dann, wenn man ihren Inhalt mit empirischen Methoden feststellen würde. Das ist in hinreichendem Umfang bisher nicht gemacht worden und auch hier nicht zu leisten. Deshalb müssen wir uns mit einem Substitut bescheiden.

Dieser Empirieersatz läge möglicherweise in einem Vergleich, bei dem wir diejenigen Charakteristika, die bisher anerkannte Wissenschaften auszeichnen, den Merkmalen gegenüberstellen, welche Bereiche markieren, die sich nicht als Wissenschaften etablieren konnten. Aus den festgestellten Unterschieden könnte man dann – mit den dabei üblichen Unsicherheitsfaktoren – auf die sozial konstitutiven Kriterien für Wissenschaft schließen. Dieses Verfahren zeigt deutlich seine Zeitbedingtheit, die aber Folge der sozialen Natur dieses Wissenschaftsbegriffs ist.

Wenn man nun untersucht, warum Physik und Geschichte seit Langem, Psychologie und Soziologie seit relativ Kurzem als Wissenschaften allgemein anerkannt sind, während Astrologie und Chirologie keinerlei erkennbare Chance haben, aus dem Stadium des Vorwissenschaftlichen herauszutreten, dann stellt man drei offensichtlich entscheidende Kriterien fest, die vermutlich auch maßgebend für die Anerkennung neuer Wissenschaften sind: Man erwartet eine eigene Theorie oder eine eigene Methode oder beides, und man stellt an das Ergebnis dieser beiden Elemente noch besondere Ansprüche, nämlich dass sie zu mehr Wissen führen. Daraus gewinnen wir als Begriffsbestimmung:

Definition »Wissenschaft«

Wissenschaft ist der Bereich menschlicher Tätigkeit, in dem mit dem Ziel gearbeitet wird, Wissen zu produzieren (Forschung) und zu systematisieren (Theorie).4

In dieser Definition gibt es keinen Hinweis auf die vielen Unterschiede zwischen den Wissenschaften. Das ist auch nicht nötig. Denn eine Definition (von lat. finis = Ende, Grenze) ist eine Abgrenzung ihres Gegenstandes von allen anderen Gegenständen, die nicht unter diesen Begriff fallen sollen. Hier ist also Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen.

Das haben wir an dieser Stelle mit einer aristotelischen Definition versucht, einer von den zahlreichen Arten von Definitionen. Diese Definitionstechnik beginnt mit der Nennung eines Oberbegriffs (genus proximum; hier: Bereich menschlicher Tätigkeit), unter den auch andere Unterbegriffe, z. B. Handwerk, Medizin und Sozialarbeit, fallen. Dann werden die besonderen Merkmale des zu definierenden Begriffs angegeben (differentia specifica; hier: Produktion und Systematisierung von Wissen), die nur für die Wissenschaft zutreffen, nicht aber für die anderen Bereiche menschlicher Tätigkeit. Das schließt nicht aus, dass auch im Handwerk, in der Medizin oder bei der Sozialarbeit hin und wieder Wissen produziert oder systematisiert wird; viele Gelegenheitsentdeckungen sind ein Beispiel dafür – aber eben auch dafür, dass sie nur ein zufälliges Nebenprodukt einer an sich auf anderes gerichteten Tätigkeit waren. Ebenso wird durch die Definition nicht ausgeschlossen, dass auch Wissenschaftler neben forschen und theoretisieren noch etwas anderes tun, z. B. lehren5; aber das ist dann bei ihnen ein Nebenprodukt.

In unserer Wissenschaftsdefinition sind drei Elemente besonders problematisch. Sie sollen in den nächsten Abschnitten näher untersucht werden.


Wissen

Stellt man sich auf Grund unserer Wissenschaftsdefinition die wissenschaftlichen Einrichtungen als Unternehmen mit Produktionsbetrieben und Lagerhallen vor, dann ist Wissen das Produkt oder Gut, das dort hergestellt und bereitgehalten wird. Unter Wissen soll verstanden werden:

Definition »Wissen«

Wissen ist ein menschlicher Bewusstseinszustand, in dem Aussagen über Gegenstände als sachlich begründet und intersubjektiv begründbar angesehen werden.

Mit anderen Bewusstseinszuständen – wie Meinen, Glauben, Annehmen, Vermuten – hat Wissen gemeinsam, dass es Aussagen über Gegenstände macht. Das können Gegenstände aller Art sein: körperliche Gegenstände, wie etwa Dieselmotoren, oder nur als gedankliches Konstrukt existierende, wie die Rolle eines Vereinsvorsitzenden; gegenwärtige Gegenstände, wie die politischen Konflikte in der Schweiz, vergangene Gegenstände, wie die Verhaltensmuster des aztekischen Adels, und zukünftige Gegenstände, wie die Zahl der Eheschließungen am Ende des Jahrhunderts. Prinzipiell unterscheidet sich die Wissenschaft hier nicht von den anderen Bewusstseinszuständen; ob nicht aber doch einzelne, jedoch nicht prinzipielle Einschränkungen nötig oder nützlich erscheinen, wird im Kapitel 1.1.2 erörtert.

Ebenso stimmen die Aussagen der Wissenschaft über Gegenstände mit den Aussagen überein, die als Meinung, Glauben usw. produziert werden, wenn wir die sprachliche Form der Aussage betrachten. Als Aussagen über einen Gegenstand wollen wir alle Sätze ansehen, die einen Gegenstand im eben skizzierten Sinne durch Angabe von Eigenschaften oder Verhaltensweisen charakterisieren, also einen Aussagesatz. Eine der schlichtesten Aussagen ist Thomas Hobbes’ Annahme über die Grundlage aller zwischenmenschlichen Konflikte und mancher sozialwissenschaftlicher Theorien darüber: »Homo homini lupus« (Der Mensch verhält sich gegenüber dem Menschen wie ein Wolf).6 Komplizierter und für die Wissenschaft wertvoller sind Wenn-dann- und Je-desto-Aussagen. In den Abschnitten über Theorien und Hypothesen wird das noch eingehender behandelt.

Unterschiede zwischen Wissen und anderen Bewusstseinszuständen können also, sofern sie grundsätzlich sein sollen, nur in ihrer Begründetheit und Begründbarkeit liegen. Die Besonderheiten des Wissens liegen dabei in Folgendem:

 

Sachlich begründet ist ein Bewusstseinszustand, wenn die Aussagen über den Gegenstand aus der Sache kommen, also aus dem Gegenstand. Hier besteht die Verbindung zu dem Schlagwort von der wissenschaftlichen Objektivität: Der Gegenstand ist das Objekt, und nur aus diesem, nicht etwa aus dem Forscher, sollen die Aussagen über das Objekt bzw. über den Gegenstand kommen, wenn sie objektiv sein sollen. Wissen kommt nur aus der Erforschung des Gegenstandes, nicht aus dem Reden über den Gegenstand. Das wissenschaftstheoretische Problem besteht darin, welche sachliche Begründung einer entgegenstehenden, ebenfalls sachlichen Begründung die Existenzberechtigung nehmen kann. Denn leider ist es bei der Schwierigkeit wissenschaftlicher Probleme nicht so, dass von zwei Begründungen die eine stets »unsachlich« ist; vielmehr geht es meistens darum, dass über die jeweilige Begründungskraft von Begründungen zu entscheiden ist, denen man ausnahmslos die Herkunft aus der Sache nicht absprechen kann. Diese Entscheidung ist eines der Hauptprobleme wissenschaftstheoretischer Überlegungen. So kann es beispielsweise sein, dass eine Untersuchung die Ursache A für ein Phänomen herausfindet, eine andere die Ursache B. Davon muss nicht eine notwendig falsch sein. Vielmehr könnte es sein, dass A unter bestimmten Randbedingungen die Ursache ist, B unter anderen Randbedingungen.

Daraus folgt, dass Wissen auch intersubjektiv begründbar sein muss. Wäre es das nicht, gäbe es sachliche Begründetheit bestenfalls im subjektiven Bereich des einzelnen Produzenten von Wissen. Schon bei der Mitteilung von Wissen im Kollegenkreis – und die Kommunikation von Wissen wird immer unumgänglicher, weil Universalgelehrte seit mehreren Jahrhunderten unmöglich sind – wäre man ohne intersubjektive Begründbarkeit doch wieder auf blinde Autoritätsgläubigkeit, Zugrundelegen unüberprüfbarer Annahmen usw. angewiesen. Die Wissenschaft hat sich erst dann so exponential entwickelt, als sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit ihre Maximen wurden. Insofern sind beide Gesichtspunkte aufeinander bezogen und in der Regel gemeinsam zu sehen.

Hier ist einer der Berührungspunkte zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik, genauer: zwischen dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Wissen und dem wissenschaftsethischen Prinzip von Wahrheit. Wahrheit ist der höchste Wert in der Wertordnung der Wissenschaftler (deshalb ist das Abschreiben in Dissertationen disqualifizierend, nicht wegen der Verletzung irgendwelcher Zitierregeln). Ihre letzte Frage lautet immer: Ist es so, wie es unmittelbar scheint, oder ist es nach methodisch strenger Untersuchung anders? Auch hier sind sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit gefragt.

Schon aus diesen wenigen Überlegungen ist zu erkennen, dass die Bereiche von Wissen und anderen Bewusstseinszuständen und damit von Wissenschaft und anderen Tätigkeiten nicht ein für alle Mal reinlich zu scheiden sind. Nicht alle Argumente, die für oder gegen einen Satz über einen Gegenstand gebracht werden können, stehen so eindeutig auf verschiedenen Stufen, dass stets eine unumstrittene Entscheidung über die Richtung des Fortschritts möglich ist. Vielmehr ist die Anerkennung von Wissen und damit eine Scheidung von Nichtwissen im Sinne von Meinen usw. zu einem guten Teil von Geisteshaltungen, von Zeitströmungen, auch von Einsichtsvermögen und Informiertheit der Diskussionspartner, insbesondere aber vom Basiskonsens in der Gemeinschaft der Wissenschaftler (scientific community) und der Gesamtgesellschaft (society at large) abhängig, so dass wir erkennen müssen: Nicht nur die Sozialwissenschaften7, sondern alle Wissenschaften sind von hochsozialer Natur!


Forschung

Der Forschung hatten wir in unserer Wissenschaftsdefinition die Aufgabe der Wissensproduktion zugewiesen. Was in der Theorie systematisiert werden soll, hat die Forschung vorab zu liefern, nämlich Wissen. Deshalb muss die Forschung nach den Gesichtspunkten arbeiten, die wir im Kapitel 1.1.1 als maßgeblich für das Wissen beschrieben haben. Wir erhalten damit als genaueren Forschungsbegriff:

Definition »Forschung«

Forschung ist eine Tätigkeit, die darauf zielt, neues Wissen zu erarbeiten, indem der Forschungsgegenstand mit Methoden untersucht wird, die das Ergebnis sachlich begründet und intersubjektiv begründbar machen.

Damit soll nicht behauptet werden, dass nur die Forschung neues Wissen produzieren könne. Das ist vielmehr auch durch das möglich, was man im Deutschen einen Einfall, im Italienischen trovato und im Englischen inspiration nennt, und was genau eine zufällige Eingabe von außen bedeutet. Im Französischen heißt es »ça me vient à l’esprit«; dazu passt die Erzählung über den Chemiker August Kekulé, ihm sei die Ringstruktur des Benzols im Traum erschienen. Ebenso kann man »Neues« durch eine Entdeckung (discovery/découverte) hervorbringen, indem man Vorhandenes, aber Verstecktes ans Licht zieht. Nur reichen zufällig Neues und wiedergefundenes Altes nicht aus, um die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft nach Neuem zu befriedigen. Um das systematisch erledigen zu können, haben wir die Forschung und sonst gar nichts.

Allerdings sind es nicht Überlegungen zur sozialen Kosten-Nutzen-Rechnung, die uns in erster Linie zur strengen Methodik beim Forschen zwingen. Wären genügend Personal, Zeit, Geld und Material vorhanden, könnte man Bereiche, Themen, Gegenstände, Instrumentarien und Ansätze der Forschung mit rein aleatorischen, d. h. zufälligen Verfahren festlegen. Das würde dem Forscher vielleicht endlich die von mancher Seite stereotyp gebrachten Vorwürfe der Auftraggeberhörigkeit oder des Eigeninteresses ersparen.

Aber auch in diesem utopischen Forscherparadies müsste der Zufall durch Systematik abgelöst werden, sobald es um die eigentliche Wissensproduktion geht. Denn wenn das Ergebnis aus dem Gegenstand heraus begründet und gegenüber anderen Forschern begründbar sein soll, muss es mit solchen Methoden gewonnen worden sein, die jeder andere Forscher anwenden kann. Nur so lässt sich feststellen, ob die Ergebnisse dann gleich sind. Auf einzelne Aspekte werden wir später eingehen, an dieser Stelle bleibt es bei dem Hinweis, der anregen soll, über einzelne Konsequenzen für die Forschungspraxis nachzudenken, etwa über den Mindestumfang der Mitteilungen über die Untersuchungsanordnung oder über die Zeitgebundenheit von Untersuchungsgegenständen. Diese ist ein Problem für die Sozialwissenschaften, das die Naturwissenschaften nicht im Entferntesten so zu lösen haben.


Theorie

In unserer Wissenschaftsdefinition in Kapitel 1.1 hatten wir für die Theorie die Funktion vorgesehen, Wissen zu systematisieren. Wissen in seiner einfachsten Form kann in einem Satz gespeichert werden, der nichts anderes enthält als die Grundelemente eines Aussagesatzes. Damit können wir uns aber nicht begnügen. Komplexere Wissenszusammenhänge werden daher in einer Theorie formuliert, unter der verstanden werden soll:

Definition »Theorie«

Eine Theorie ist ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit, das durch die sprachliche Zuordnung sachliche Zusammenhänge wiedergibt.

Die Zusammenhänge, die in einer Theorie zwischen den Sätzen hergestellt werden, können sehr verschieden sein. Es kann um die Parallelisierung von Ereignissen, die Angabe von Phasen oder Stufen eines Prozesses, um Bedingungen oder Konsequenzen gehen, um nur einiges zu nennen. Das höchste Ziel wohl jeder wissenschaftlichen Theorie ist die Darstellung von Kausalzusammenhängen. Erst die Kenntnis dieser Kausalzusammenhänge macht den Forschungsgegenstand manipulierbar im Sinne einer zielbewussten Veränderung.

Sozialwissenschaftler wie Naturwissenschaftler setzen sich daher die Erforschung von Kausalverbindungen als höchstes, wenn auch keineswegs einziges Ziel. Diese Art von Forschung ist damit größte Chance, aber auch größte Gefahr jeder Wissenschaft. Derartige Zusammenhänge zwischen Einzelerkenntnissen lassen sich nicht anders darstellen als eben in einer Theorie. Und nur eine Theorie kann den wissenschaftlichen Beitrag zu einer Praxisveränderung liefern.

Damit sind wir beim Verhältnis von Theorie und Praxis. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Verhältnis meistens so gesehen, wie es Kant in seiner berühmten Streitschrift zitiert: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«8 Nach dem hier vorgestellten Theoriebegriff für die empirischen Sozialwissenschaften muss man eher den Satz des Psychologen Kurt Lewin für richtig halten: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.«9


Empirische Sozialwissenschaft

Was im Kapitel 1.1 zum Wissenschaftsbegriff gesagt wurde, muss uneingeschränkt auch für die empirischen Sozialwissenschaften zutreffen, wenn sie im beschriebenen Sinn als Wissenschaften gelten wollen. »Wissenschaft« ist der Oberbegriff, so dass alle seine Merkmale in jeder Sozialwissenschaft anwendbar sein müssen. Von anderen Wissenschaften, also ebenfalls konkreten Unterbegriffen von »Wissenschaft«, können und/oder müssen Sozialwissenschaften sich aber in zweierlei Hinsicht unterscheiden.

Eine erste Besonderheit könnte aus dem Gegenstand der Sozialwissenschaften kommen, also aus der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften die Gesellschaft erforschen. Ein häufiger Ansatz zur Unterscheidung von Wissenschaften geht davon aus, dass jede Wissenschaft eigene Gegenstände und/oder Methoden habe. Daraus leiten wir die Überlegung ab, dass bestimmte Gegenstände auch bestimmte Methoden verlangen bzw. ausschließen. So brauchen die Sozialwissenschaften Methoden, mit denen sie die Selbstdeutungen ihres Gegenstandes ermitteln können; die Geologen können darauf besten Gewissens verzichten. Andererseits können Sozialwissenschaftler keine Methoden benutzen, durch die ihr Gegenstand vernichtet oder auch nur wesentlich verändert wird. Müssten sich die Ingenieurwissenschaften damit begnügen, was sie zerstörungsfreie Prüfverfahren nennen, hätten sie sicherlich noch viel engere Grenzen ihres Wissens. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik haben hier wieder einen Berührungspunkt. Wer sich zu verdeckter, teilnehmender Beobachtung in eine Selbsthilfegruppe jugendlicher Drogenabhängiger einschleicht und die Ursache der Therapieerfolge im missionarisch-religiösen Eifer eines Meinungsführers genau herauspräpariert, hat sich damit einen viel beachteten Aufsatz und der Wissenschaft vielleicht eine wichtige Erkenntnis verschafft; ob diese aber sozial – und wir hatten Wissenschaft von ihrer sozialen Aufgabe her definiert! – gerechtfertigt ist, wenn wegen dieser Erkenntnis die Gruppe zerbricht, ist eine andere Frage. Schließlich ist in der Gesellschaft vieles auch bei schonendsten Forschungsmethoden auf natürliche Weise vergänglich und nicht unveränderlich, beliebig reproduzierbar oder nach Wunsch herstellbar wie bei vielen Objekten der Physik oder Chemie. Unter den Naturwissenschaften leiden bisher vor allem die Biologie und zunehmend die Geowissenschaften unter ähnlichen Erkenntnisgrenzen wie die Sozialwissenschaften.

You have finished the free preview. Would you like to read more?

Other books by this author