Geschichte der deutschen Literatur Band 4

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„Kein Mensch will noch etwas befolgen, was er von seinen Ältern ererbt hat“, konstatiert auch Karl Gutzkow in seinen „Zeitdiagnosen“ von 1837, „ jeder strebt darnach, sich seine eigenen Grundsätze zu bilden“ (GS 2, 161).

Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Individuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft (…)? Oder ist Alles schon individuell geworden, (…) alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Ich glaube, das Letztre. Ich glaube, daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. (…) Warum sind die Institutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, (…) weil sie keinen (…) schützenden Mantel (mehr) über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten. (GS 2, 133–134)

Subjektivismus und „Weltschmerz“

Das „Reich der wildesten Subjektivität“, in das die Vormärzdichter ihre Leser führen, ist freilich ganz dazu angetan, Goethes Befürchtungen im Blick auf die problematischen Seiten der Individualisierung nachträglich [<<71] ins Recht zu setzen. In ihm nimmt nämlich ein Individuum Gestalt an, das keineswegs, wie man nach Heines hochgemuter Ankündigung annehmen möchte, in vollen Zügen das Glück der Autonomie genießt, das vielmehr völlig von dem beherrscht ist, was man seinerzeit „Weltschmerz“ oder „Zerrissenheit“ nennt und was bei Hegel „unglückliches Bewußtsein“, bei Heine „der große Weltriß“ (HS 3, 405) heißt.

„Weltschmerz“: damit meint man eine Lebensstimmung, die aus dem Gefühl erwächst, daß „Subjekt“ und „Objekt“ nicht mehr zusammenfinden und schon gar nicht mehr harmonisch ineinander aufgehen würden. Das „Subjekt“ soll sich so sehr in sich selbst vertieft, in die künstlichen Welten einer überreflektierten und überbildeten Kultur eingesponnen und dabei so weit vom „Objekt“, von den Realitäten der Natur und der Gesellschaft entfernt haben, daß es sich bei keiner Gelegenheit mehr im Einklang mit der Natur erleben könnte und daß es auch das Gefüge von Institutionen, Traditionen und Konventionen, in dem ihm die Gesellschaft begegnet, nur mehr noch als etwas ihm ganz und gar Fremdes, als Ausdruck von Entfremdung im Sinne Rousseaus erfahren würde.

Die klassischen Formulierungen für diesen „Weltschmerz“ finden sich übrigens auch schon bei Goethe, vor allem in den Eingangsszenen des „Faust“. Da heißt es etwa:

Der Gott, der mir im Busen wohnt,

Kann tief mein Inneres erregen;

Der über allen meinen Kräften thront,

Er kann nach außen nichts bewegen;

Und so ist mir das Dasein eine Last,

Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt. (HA 3, 53)

Weite Teile der Vormärzliteratur lesen sich wie endlose Variationen solcher und ähnlicher Passagen aus den Eingangsmonologen „Fausts“ – ein Befund, der mehr über die Eigenart und Bedeutung von Goethes Werk aussagt als das meiste von dem, was ihm die Klassik-Doktrin zugeschrieben hat.

Die Ambivalenz der Individualisierung

Mit ihrer „wilden Subjektivität“ und ihrer weltschmerzlichen „Zerrissenheit“ gibt sich die Literatur im Vormärz eine Form, in der die Ambivalenzen der Individualisierung besonders deutlich zum [<<72] Vorschein kommen. Wenn der Mensch auf dem Weg in die Moderne mehr und mehr aus der Bindung an die Mächte des Herkommens, an den Glauben und die Sitte der Väter und eine festgefügte traditionale Gesellschaft wie die Ständegesellschaft entlassen und auf seine eigenen zwei Füße gestellt wird, dann heißt dies nicht nur – so zeigt sich nun überall –, daß er sich in freier Selbstbestimmung ein ganz auf seine individuellen Bedürfnisse und Vorstellungen abgestimmtes Lebensgebäude zusammenzimmern kann. Es heißt auch, daß ihm gar nichts anderes mehr übrigbleibt, als es mit einem solchen individualisierten Lebensentwurf zu versuchen, ob ihm das gefällt oder nicht und ob er dem gewachsen ist oder nicht; daß er sich immer weniger darauf verlassen kann, von den Traditionen und Konventionen eines Kollektivs – einer Familie, eines Stands, einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, einer Landsmannschaft, einer kirchlichen Gemeinschaft – durch das Leben getragen zu werden.

Und das wiederum bedeutet, daß es für ihn in den Sternen steht, ob er sich jemals in einem Lebensumfeld wiederfinden wird, dem er sich wahrhaft zugehörig fühlen kann, von dem er sagen kann: das ist meine Welt, das sind meine Menschen, hier bin ich „in meinem Kreise zu Hause“, zumal ja auch die Dinge und die Menschen um ihn herum zunehmend von der Dynamik der Moderne erfaßt und durcheinandergewirbelt werden. Mit einem Wort: es wird unübersehbar, daß der Weg in die Autonomie ein Weg ist, auf dem sich dem Individuum keineswegs nur neue Perspektiven der Selbstverwirklichung eröffnen, auf dem es zugleich Gefahr läuft, aus allen äußeren Bindungen herauszufallen und innerlich jeden Halt zu verlieren.

Der Prozeß der Individualisierung

Von alledem hat sich Immermann in einem Brief Rechenschaft zu geben versucht, in dem er sich gegen frühe Kritik an seinen „Epigonen“ zur Wehr setzt. Im Mittelpunkt des Briefs steht der Versuch, den Prozeß der Individualisierung dadurch begreiflich zu machen, daß er auf ein Dreistufenmodell der Weltgeschichte projiziert wird, auf die Abfolge Altertum – Mittelalter – Moderne. Dabei geht Immermann wie die meisten seiner Zeitgenossen davon aus, daß die Individualisierung bereits im christlichen Mittelalter begonnen habe; er versteht also nur die Gesellschaft der Antike als eine traditionale Gesellschaft. Demgegenüber gilt es festzuhalten, daß auch die christliche Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit noch das Gepräge einer traditionalen [<<73] Gesellschaft trägt und daß sich die Individualisierung erst von ihr aus und gerade in der Gegenwendung gegen sie in Gang gesetzt hat.

Das Alterthum hatte seine geschlossenen Grenzen (…). Das Individuum, wollte es überhaupt existiren(,) fiel zusammen mit dem Staat, dem Volksglauben, der Sitte (…).

(…)

Mit dem Christenthum tritt die Persönlichkeit, das Individuum in seinen eigentlichen weitgreifenden Berechtigungen ein, der Mensch ist nur für sich da, der beste Theil seiner Existenz beginnt erst mit der Loslösung seines Selbst von dem allgemeinen irdischen Substrate; das Gemeinsame war eigentlich nur die Kirche – ein Staatenleben gab es kaum; der Feudalismus, das einzig politische Institut, spiegelte das besonderste Verhältniß ab.

(…)

Was ist nun das Charakteristische der modernen Zeit? Das Individuum hat sich mit seinen Ansprüchen bis zur eigensinnigsten, ja krankhaftesten Spitze heraufgetrieben, aber eben darum ist (es) auch über den Punct der Befriedigung in sich selbst schon hinweg. Alle Menschen empfinden jetzt ein Bedürfniß nach allgemein gültigen Unterlagen des Daseyns, nach organischen, objectiven Lebensformen, ohne gleichwohl zur Ergreifung derselben schon geschi(c)kt zu seyn; weil es dabey immer auf eine starke Entäusserung des Egoistischen Individuellen ankommt. Eine Kirche gibt es kaum noch, der Feudalismus hat ganz aufgehört, u(nd) etwas Analoges, wie der Staat des Alterthums, erblicken wir nur erst in der Zukunft in dämmernden Umrissen. Dieser noch nicht geschlichtete Zwiespalt giebt allen Charakteren der Gegenwart etwas Halbes u(nd) Doppeltes zugleich, allen Ereignissen etwas Zweideutiges (…).32

Während sich Immermann in den „Epigonen“ noch darauf beschränkt, die „Zweideutigkeit der Zeit“ zum Vorschein zu bringen, unternimmt er in seinem nächsten Roman, dem „Münchhausen“, dann auch einen Versuch, dem „Bedürfnis nach allgemeingültigen Unterlagen des Daseins“ entgegenzukommen und mit der Welt des Oberhofs [<<74] ein Bild von den ersehnten „organischen, objektiven Lebensformen“ zu zeichnen.

2.4 Die Krise der Religion

Wie wir gesehen haben, schenkt Immermann den Schattenseiten der Individualisierung, den Gefahren der äußeren Bindungs- und inneren Haltlosigkeit, in seinen „Epigonen“ besondere Aufmerksamkeit. Wie das „individualisierte Ich“ in der „nomadischen“ Form der Existenz, in die es die Dynamik der Moderne versetzt habe, äußerlich mehr und mehr den „Mangel eines Freunds, einer Geliebten, eines Hauses“ zu verkraften habe, so innerlich ein „ödes Wanken und Schwanken“, eine „moralische Seekrankheit“, die statt gefestigter „Überzeugungen“ nur noch wechselnde „Ansichten“ zulassen würde. Als besonders markanten Ausdruck solcher „inneren Unruhe“ führt Immermann an: „man wechselt die Religion oder ergibt sich dem Pietismus“, man hat, angeblich „von einem inneren Drange getrieben“, „wieder einmal das katholische Glaubensbekenntnis abgelegt“, obwohl „es mit dem religiösen Bedürfnis betrübt (steht)“ und man eigentlich „ein leichter, nachgiebiger Weltcharakter (ist)“.

Damit gibt Immermann zu erkennen, daß das „individualisierte Ich“ in der Welt des Vormärz auch in der Religion vielfach keinen Halt mehr findet, da selbst diese inzwischen von der Mobilität der Moderne ereilt worden und der allgemeinen weltanschaulichen Unruhe anheimgefallen ist. Der Prozeß der Säkularisation, der im 17. Jahrhundert begann und im 18. Jahrhundert unter der Ägide der Aufklärung Fahrt aufnahm, geht nach Immermanns Zeugnis im 19. Jahrhundert unvermindert weiter. Er geht weiter trotz des religiösen Roll back der Romantik, ihres Salto rückwärts in die Glaubenswelt des Mittelalters, und trotz der „Restauration von Thron und Altar“, mit der die alten Mächte einen Schlußpunkt hinter das Zeitalter der Französischen Revolution setzen wollten, und er treibt die Religion in eine immer tiefere Krise hinein: „eine Kirche gibt es kaum noch“. [<<75]

 

2.4.1 Modernisierung und Säkularisation

Säkularisation und Konfessionsstreit

Unter Säkularisation33 versteht man bekanntlich den Prozeß, in dem sich die Gesellschaften Europas von den Dogmen, Normen und Lebensformen der christlichen Religion lösten. Diese Säkularisation ist nicht etwa, wie ihre Kritiker im 18. und 19. Jahrhundert behaupteten, aus einem Nachlassen des „religiösen Bedürfnisses“, einer zunehmenden Gleichgültigkeit in Glaubensfragen erwachsen – im Gegenteil: an ihrer Wiege stand gerade ein besonders energischer Versuch, mit dem „religiösen Bedürfnis“ Ernst zu machen, stand nämlich jene Erneuerung des religiösen Lebens, die sich im 16. Jahrhundert im Widerspiel von Reformation und Gegenreformation vollzog. Denn sie brachte eine Pluralität von Konfessionen, und mit ihr den Konfessionsstreit, den Dauerkonflikt zwischen Katholiken, Lutheranern und Calvinisten, zwischen Orthodoxie und Pietismus, und dieser erfaßte in eben dem Maße sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in dem man sich um dessen Fundierung in den Dogmen und Normen der christlichen Lehre bemühte, von der großen Politik bis zum Alltag der kleinen Leute. Daß der Konfessionsstreit Dimensionen anzunehmen vermochte, in denen er geradezu die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zerstörte, wurde spätestens im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) offenbar.

So suchte man denn seither die Bereiche, die für das schiedlich-friedliche Zusammenleben der Menschen von zentraler Bedeutung waren, mehr und mehr aus dem Konfessionsstreit herauszunehmen und auf ein neues Fundament zu stellen, und das konnte natürlich kein religiöses mehr, konnte nur noch ein säkulares sein. Eine solche Grundlage wollte man nun vor allem in der Natur erkennen, als dem Inbegriff alles dessen, was ohne Zutun des Menschen in der [<<76] Welt ist und in seinem Dasein und Sosein nicht von dem Glaubens- und Meinungsleben des Menschen abhängt. Dieses Fundament zu sichern und zu exponieren wurde zur Aufgabe neuer, säkularer Formen von „Wissenschaft und Kunst“, wie sie der Humanismus auf den Weg gebracht und die Aufklärung kultiviert hatte: der modernen Naturwissenschaft, der Anthropologie und der Medizin als der Wissenschaften von der „allgemeinen Menschennatur“, der Naturrechtslehre und nicht zuletzt auch einer Kunst, die sich selbst als „Nachahmung der Natur“ verstand. Ja man versuchte sich nun sogar an natürlichen Begriffen von Religion, fragte nach einem „natürlichen Gottesbegriff“ als einem Begriff, der frei von den Dogmen und Normen der christlichen Theologie – der Theologie gleich welcher konfessioneller Couleur – wäre.

Die Wissenschaft als Motor der Säkularisation

Zum wichtigsten Rückhalt und Motor der Säkularisation wurde die moderne Wissenschaft, wie sie mit ihrem „doute méthodique“ (Descartes), ihrem methodischen Zweifel, und ihren empirischen Methoden der Überlieferung zu Leibe rückte und nach und nach sämtliche Bestandstücke der christlichen Tradition einer kritischen Prüfung unterzog. Da sie immer wieder zeigen konnte, daß Vorstellungen der überlieferten Glaubenswelt einer solchen Prüfung nicht standhielten, solche, die das Bild der Erde, des Sonnensystems und des Kosmos betrafen, nicht weniger als solche, die sich auf die Natur des Menschen und auf den Aufbau und die Entwicklung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt bezogen, geriet schließlich das gesamte Gebäude der christlichen Lehre in ein schiefes Licht. Die Elite der Gebildeten, die mit der neuen, aufgeklärten „Wissenschaft und Kunst“ lebte, rückte mehr und mehr von der christlichen Religion und dem kirchlichen Leben ab; nur die bildungsfernen Schichten, die freilich nach wie vor den größten Teil der Bevölkerung ausmachten, hielten der alten Religion die Treue – eine Entwicklung, die am Ende des 18. Jahrhunderts auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen war.

Als typisch für die Einstellung der gebildeten Welt in jener Phase der Entwicklung mag hier einmal mehr Goethe stehen, der gesagt hat:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt,

Der habe Religion. (HA 1, 367) [<<77]

Was der Ungebildete in der Religion sucht, das findet der Gebildete in „Wissenschaft und Kunst“. Goethe hat sich überhaupt bereits ein recht distanziertes Verhältnis zum Christentum geleistet. So stand er nicht an, immer wieder erkennen zu lassen, daß ihm das Kreuz, das zentrale Symbol des Christentums, zuwider sei, so hat er die christliche Religion bei Gelegenheit „eines Gassenvolkes Windesbraut“ (HA 1, 286) und seine Bildwelt einen „apokalyptischen Wahnsinn“34 genannt, ja es findet sich bei ihm sogar der Vers „Freyen Menschen geziemet es nicht, Christ (…) zu seyn“.35 Freilich hat er sich als ein Mann in exponierter politischer Position – er war ja Mitglied der Weimarer Regierung – gehütet, derlei allzu offensiv in die Öffentlichkeit zu tragen; der Ärger war vorhersehbar.

Romantische Kritik an der Säkularisation

Bei diesem distanzierten Verhältnis der gebildeten Schichten zur Religion ist es allerdings nicht lange geblieben. Es waren gerade die Kinder der Aufklärung, die Intellektuellen, und hier wiederum gerade die jungen unter ihnen, für die die Aufklärung bereits ein fester Bestandteil der Väterwelt war, die sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erneut für religiöse Fragen zu interessieren begannen. Dieses Interesse verdankte sich vor allem dem kritischen Blick auf das, was die Politik inzwischen an Säkularisation veranstaltet hatte. Denn das revolutionäre Frankreich hatte mit der Säkularisation in jeder Hinsicht Ernst zu machen versucht und nicht nur die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt und die Kirchen enteignet, sondern diesen auch einen kuriosen Staatskult der Vernunft entgegengestellt; und Deutschland hatte unter der Herrschaft Napoleons erleben müssen, daß die geistlichen Fürstentümer aufgelöst und von weltlichen geschluckt, die Klöster aufgehoben und die Kirchengüter von den Fürstenstaaten eingezogen wurden. Die Kirchen waren inzwischen so geschwächt, daß die Bedrängnisse des Konfessionsstreits kaum noch eine Rolle spielten. An deren Stelle waren die Probleme getreten, die die Epoche der Revolution mit ihren gewaltsamen Modernisierungsschüben über die Menschen gebracht hatte. [<<78]

Und da hieß es nun eben, gerade in den Turbulenzen der Moderne bedürfe der Mensch der Religion; nur sie könne in dem permanenten Streit der Parteien und Interessen den Zusammenhalt der Gesellschaft garantieren und nur sie dem Einzelnen in einem Umfeld Halt geben, in dem alles in Bewegung geraten und von Auflösung bedroht sei. In Deutschland wurde diese neuerliche Hinwendung zur Religion vor allem von der Romantik vorangetrieben. Novalis verfaßte 1799 die bereits erwähnte Rede über „Die Christenheit oder Europa“, in der er den verunsicherten Zeitgenossen die christliche Gesellschaft des Mittelalters als Modell für eine bessere Zukunft andiente. Im selben Jahr veröffentlichte Friedrich Schleiermacher (1768–1834), ein protestantischer Theologe, der den Frühromantikern nahestand, Reden „Über die Religion“, die eine Erneuerung der protestantischen Theologie aus dem Geist der Romantik, nämlich eine „Herzreligion“, einen neuen Kult der Innerlichkeit zum Ziel hatten. Wie der Untertitel seiner Schrift – „Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ – anzeigt, dachte er bei seinen Bemühungen vor allem an jene Intellektuellen, die wie Goethe im Zuge der Aufklärung auf Distanz zum Christentum gegangen waren.

Auch außerhalb der Zirkel deutscher Romantiker wollten nun manche aufgeklärte Intellektuelle so wie Novalis wieder einen „heiligen Sinn“ in sich entdecken. Hier sei nur der französische Autor François René de Chateaubriand (1768–1848) genannt, der 1802 mit einem monumentalen Werk hervortrat, in dem er „Le Génie du Christianisme“ und „la Beauté de la Religion Chrétienne“, den Genius des Christentums und die Schönheiten der christlichen Religion feierte. Wie der Protestant Schleiermacher wollte auch der Katholik Chateaubriand das Christentum vom religiösen Gefühl her neu begründen; bei ihm ging es allerdings weniger um einen Kult der Innerlichkeit als um das ästhetisch Faszinierende des kirchlichen Ritus und um das poetisch Wunderbare der religiösen Überlieferung. Die katholische Kirche dankte ihm sein Engagement, indem sie sein Werk wegen theologischer Unkorrektheit auf den Index verbotener Bücher setzte.

Einige der deutschen Romantiker, die ja überwiegend Nord- und Mitteldeutsche und als solche protestantischer Herkunft waren, gingen noch einen Schritt weiter als Novalis und vollzogen gleich ganz die Rückkehr in den Schoß der katholischen Kirche, wo sie sich dem [<<79] mittelalterlichen Christentum am nächsten fühlen konnten. An erster Stelle ist hier Friedrich Schlegel (1772–1829) zu nennen, der Wortführer der Jenaer Frühromantik, der 1808 unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit gemeinsam mit seiner Frau Dorothea im Kölner Dom zum Katholizismus übertrat. Die Konversion erlaubte es ihm, im folgenden Jahr in die Dienste des katholischen Kaiserhofs zu Wien zu treten und zur Edelfeder einer Kriegspropaganda zu werden, die die Französische Revolution und ihren Erben Napoleon im Sinne einer „Restauration von Thron und Altar“ bekämpfte. Viele Romantiker gingen einen ähnlichen Weg wie Schlegel, aber nicht alle. So haben sich zwei der produktivsten Köpfe der Romantik, Ludwig Tieck (1773–1853) und E. T. A. Hoffmann (1776–1822), nicht an dem religiösen Roll back beteiligt; ihre Religion war und blieb die romantische „Kunstreligion“.

„Restauration von Thron und Altar“

Mit dem Wiener Kongreß wurde die Erneuerung der Religion, wie sie die Romantiker zunächst als persönliches Anliegen und ganz auf eigene Rechnung betrieben hatten, schließlich zu einem offiziellen Projekt der großen Politik. Die alten Monarchien schlossen sich, soweit sie das Fegefeuer der Revolutionszeit und der Herrschaft Napoleons überlebt hatten, zu einer „Heiligen Allianz“ zusammen, die sich auf die Werte des christlichen Abendlands berief, und betrieben mit der „Restauration des Throns“ zugleich auch die des „Altars“. Von der Förderung des religiösen Lebens und der Stützung der geschwächten Kirchen erhofften sie sich eine Stabilisierung der eigenen Machtposition, nach dem Motto: wer regelmäßig in die Kirche geht, lernt dort den Respekt vor höheren Mächten und damit auch den Respekt vor der weltlichen Obrigkeit; wer ins Gebet vertieft ist, macht keine Revolution. Die Kirchen haben sich dem nicht verweigert, erkannten sie darin doch eine Chance, nach den Anfechtungen von Aufklärung und Revolution wieder auf die Füße zu kommen; ohnehin waren sie seit jeher aufs engste mit den oberen Etagen der Ständegesellschaft verbandelt.

Erneuerung der Religionskritik im Vormärz

Auf die Dauer hat der Religion ihre Inanspruchnahme für die Ziele der Restauration aber wohl mehr geschadet als genutzt. Die Generation, die auf die der Romantiker folgte, die Generation des Vormärz, erfuhr Religion als eine Macht, die immer schon mit den Kräften der Reaktion im Bunde wäre, ja sie konnte sie gar nicht anders erleben, so daß sich ihr Aufbegehren gegen diese Reaktion wie von selbst auch [<<80] auf die Religion ausweitete. Damit ging die Religionskritik in eine neue Runde. Kritik hieß nun nicht mehr nur, Lehrstücke der christlichen Tradition auf den Prüfstand der modernen Wissenschaft zu stellen wie zu Zeiten der Aufklärung; es wurde nun auch verstärkt nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Religion gefragt, nach den sozialpolitischen Funktionen der Institution Kirche und den sozialpsychologischen Wirkungen des religiösen Lebens. Dabei machten sich unter den Intellektuellen Vorstellungen wie die breit, die Karl Marx in das Wort vom „Opium des Volkes“ faßte: Religion als ein Rauschmittel, das es dem „Volk“ ermöglicht, sich über die elenden Lebensbedingungen hinwegzuphantasieren, denen es in der Realität ausgesetzt ist, das es freilich zugleich davon abhält, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.

Die Mittel für eine solche soziologische und psychologische Analyse des Phänomens Religion besorgte sich die Generation des Vormärz vor allem bei der Philosophie Hegels, die inzwischen die akademische Szene beherrschte. So wurde die Religionskritik nun eine Sache der sogenannten Linkshegelianer, also derer, die versuchten, die Instrumente der Hegelschen Philosophie für eine „linke“, eine ganz auf Fortschritt getrimmte Gesellschaftspolitik zu nutzen. Die wichtigsten Namen sind hier die von Arnold Ruge (1802–1880), Ludwig Feuerbach (1804–1872), David Friedrich Strauß (1808–1874) und Bruno Bauer (1809–1882) und sodann die zweier Nachzügler im Reich des Linkshegelianismus: Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895).

 

Von der „Christusreligion“ zur „Humanitätsreligion“

Eine große Wirkung hatten zunächst vor allem zwei Schriften, die aus diesem Kreis hervorgingen: „Das Leben Jesu“ (1835/36) von David Friedrich Strauß und „Das Wesen des Christentums“ (1841) von Ludwig Feuerbach, zwei Werke, die auf heftigen Widerspruch von Seiten der Kirchen und ihrer staatlichen Protektoren trafen, die dank ihrer skandalumwitterten Aura aber bald schon zu regelrechten Bestsellern wurden und die auch in der Literatur ihre Spuren hinterließen, etwa im Werk des Realisten Gottfried Keller. Wie sehr sie einen Nerv der Zeit trafen, mag man aus den Vorgängen um die Berufung von Strauß nach Zürich, den sogenannten „Straußschen Händeln“, ersehen. Zürich war im 19. Jahrhundert ein Hort des Liberalismus in Europa, eine Insel im Meer der Reaktion, auf die sich viele politische Verfolgte flüchteten. [<<81] Als Strauß, der nach dem Erscheinen des „Leben Jesu“ seine Stelle am Tübinger Stift verloren hatte, 1839 in Zürich eine Professur erhalten sollte, kam es in der Schweiz geradezu zu einem Bürgerkrieg, einem Aufstand von Bauern aus den katholischen Kantonen gegen das liberale Zürich; Strauß mußte seinen Ruf zurückgeben.

Strauß und Feuerbach36 verfolgen beide das gleiche Programm, das einer „Fortbildung der Christusreligion zur Humanitätsreligion“. In diesem Sinne nimmt sich Strauß die biblische Geschichte von Jesus vor, um sie „kritisch zu betrachten“, um sie nämlich einer Entmythologisierung zu unterziehen. Er will in ihr keinen historischen Bericht mehr erblicken, wie es der christlichen Tradition entspricht, sondern eine mythologische Dichtung; er trennt also den historischen Jesus von dem Bild ab, das die Autoren der Bibel von ihm gezeichnet haben, einem Bild, das für ihn nurmehr noch den Status eines Symbols hat. Dabei bedient er sich der avanciertesten Formen von Quellenkritik, wie sie von der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft kultiviert worden sind, wendet er mithin Methoden, die für die Auswertung historischer Dokumente entwickelt worden sind, auf die „Heilige Schrift“ an – für viele gläubige Christen seinerzeit noch immer ein Sakrileg.

Straußens Ziel ist es nicht so sehr aufzuzeigen, wo der Mythos den Boden des Historisch-Faktischen verläßt, als vielmehr ihn als Dichtung, als kulturelle Leistung eigenen Rechts und eigenen Ranges zu würdigen. Letztlich verfährt er mit der biblischen Geschichte genauso wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit den Götter- und Heldengeschichten der alten Griechen; auch da ging es nicht allein darum zu demonstrieren, wo sich der Mythos von der historischen Wahrheit und dem natürlich Möglichen entfernt, sondern immer auch darum begreiflich zu machen, daß er seine eigene Wahrheit habe, eine Wahrheit, die eben nicht in der Weise der Historiographie und der anderen Wissenschaften, sondern mit dichterischen Mitteln entfaltet werde, die nämlich in symbolischer Form Einblick in die „allgemeine Menschennatur“ gewähre und die insofern als eine höchst bedeutsame Quelle [<<82] der Anthropologie zu gelten habe. In ebendiesem Sinne interpretiert Strauß den Jesus der Bibel als ein Symbol der „Idee der Menschheit“, als Idealbild alles dessen, was den Menschen ausmacht, als Vergegenwärtigung der „Humanität“ in einem Bild, das sich anschauen läßt und den Menschen so mit sich selbst und seinen besten Möglichkeiten bekanntmachen kann.

Ähnlich wie Strauß mit der biblischen Geschichte verfährt Feuerbach mit der christlichen Theologie. Nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde, und er tat es, um sich ein Bild von sich selbst zu machen, um sich eine „Idee“ von der „Humanität“ zu geben, die ihm in seinem Streben nach Selbstverwirklichung zur Orientierung dienen könnte. „Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, gereinigt, befreit von den Schranken des individuellen Menschen, verobjektiviert, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum menschliche Bestimmungen“.37 In seinen Gottesbildern stellt sich der Mensch vor Augen, was seine besten Seiten, seine wahrhaft „humanen“ Züge sind: das Streben nach Wahrheit, die Kraft, das Gute zu tun, und die Fähigkeit, Schönes zu schaffen. Dank des Fortschritts von Wissenschaft und Kunst ist er in der Moderne aber inzwischen dahin gelangt, daß er dem auch ohne den Umweg über die alten Religionen und ihre Mythen und Symbole nachkommen kann, daß er die „Christusreligion“ hinter sich lassen und sich mit einer säkularen „Humanitätsreligion“ begnügen kann, die bei der Feier des Wahren, Guten und Schönen ohne mythologische Maskerade auskommt.

Materialismus und Religion

Was Strauß und Feuerbach Religion nennen, ist in der Tat nicht mehr das, was orthodoxe Christen darunter verstehen, aber es ist doch immer noch mehr und anderes als nur „Opium des Volkes“; es ist für sie auch eine kultur- und gesellschaftsbildende Kraft, die es zu würdigen gilt. Insofern fällt die Religionskritik bei ihnen noch vergleichsweise moderat aus. Neben und nach ihnen haben sich freilich [<<83] andere zu Wort gemeldet, die am Christentum, seinen Kirchen und Priestern kein gutes Haar mehr lassen wollten. Radikalere Töne finden sich vor allem bei denen, die sich unter dem Einfluß der modernen Naturwissenschaften eine materialistische Weltanschauung zulegten.

Unter Materialismus38 versteht man bekanntlich ein Denken, das einzig in der Welt der Körper, in dem, was sich mit den Sinnen wahrnehmen und mit den Händen anfassen und bearbeiten läßt, etwas Substantielles erkennen will, etwas, was sich immer gleichbleibt und worauf sich setzen läßt. Das aber heißt nichts anderes, als daß dem Bewußtseinsleben, dem, was in der europäischen Tradition „Seele“ und „Geist“ heißt, daß den Prozessen des Seelenlebens und der Welt der Ideen eigene Formen der Subsistenz und Kohärenz abgesprochen werden; daß nun alles, was im Bewußtsein vorgeht, auf irgendetwas Materielles zurückgeführt werden soll, so etwa Gefühle auf physiologische Vorgänge und Ideen auf Instinkte oder auf materielle Interessen.

Daß ein solcher Materialismus einer Religion, die von der Unsterblichkeit der Seele und der Herrschaft des Geistes über den Körper handelt, nichts mehr abgewinnen kann, liegt auf der Hand. Da wird der Seele eine Substantialität und Kohärenz zugesprochen, die noch die der Materie übertreffen soll, da macht man sich vor, man könne den Lauf der Dinge mit der Kraft des Geistes unter Kontrolle halten – für einen konsequenten Materialisten sind das nur noch Hirngespinste; er kann daran nichts mehr finden, was als ein irgendwie relevanter Beitrag zur kulturellen Entwicklung zu würdigen wäre.