Geschichte der deutschen Literatur Band 4

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2 Modernisierungskrisen im Vormärz
2.1 Zeit- und Krisendiagnosen in Immermanns „Epigonen“

Immermann als Chronist des Vormärz

Karl Leberecht Immermann12 ist heute weithin vergessen. Wer sich mit der Literatur des Vormärz beschäftigt, wird jedoch bald auf seinen Namen stoßen, denn hier gehörte er zu den zentralen Figuren des literarischen Lebens. 1796 in Magdeburg geboren, lebte er seit 1827 als Richter in preußischen Diensten in Düsseldorf, wo er 1840 auch verstarb. Das Schreiben war für ihn also nur eine Nebenbeschäftigung. Das hat ihn freilich nicht daran gehindert, eine ausgedehnte schriftstellerische Tätigkeit zu entfalten, die ihn mit vielen literarischen Größen seiner Zeit in Verbindung brachte, so etwa noch mit dem alten Goethe, vor allem aber mit den Literaten im Umkreis des Jungen Deutschland, mit Karl Gutzkow, der seinerseits der wichtigste Förderer von Georg Büchner war, mit Heinrich Laube (1806–1884), Ferdinand Freiligrath (1810–1976) und Christian Dietrich Grabbe (1801–1836). Eine Zeitlang arbeitete er eng mit Heine zusammen, der ja in Düsseldorf beheimatet war; so haben beide in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung wechselseitig ihre Manuskripte durchgesehen.

Immermann hat neben einer Reihe von Trauer- und Lustspielen, einem Komischen Epos, Gedichten und Memoiren vor allem zwei große Romane hinterlassen, „Die Epigonen“ (1836) und „Münchhausen“ (1838/39), die durchaus einen höheren Bekanntheitsgrad verdient hätten. Wenn sie vielleicht auch nicht jedem [<<31] ästhetischen Anspruch genügen, so sind sie doch besonders aufschlußreich für die Verhältnisse und die literarischen Interessen der Zeit. Beide versuchen sie sich an einer umfassenden Bestandsaufnahme der Epoche, und sie nehmen darüber geradezu den Charakter von Kompendien der sozial-, wirtschafts-, kultur- und literaturgeschichtlichen Entwicklungen an. So können sie hier genutzt werden, um einen Zugang zu den Lebensverhältnissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu den Vorstellungen zu gewinnen, mit denen sie die Menschen zu verarbeiten suchten. Autoren aus der zweiten Reihe machen derlei dem Leser mit ihren Werken oftmals leichter als die großen „Originalgenies“, die in den Olymp der Kunst eingegangen sind. Das Zeittypische wird bei ihnen vielfach deutlicher als bei diesen, wo es bald hinter der originellen Verarbeitung verschwindet und bald über dem Ringen um zeitlose Wahrheit, um die „monumentalen“ Qualitäten der Kunst in den Hintergrund tritt.

Grundzüge von Immermanns Zeitdiagnose

Immermann begreift seine Zeit als eine „Übergangsperiode“ (IW 3, 416). Das Alte ist nicht mehr zu halten, und worauf es mit dem Neuen hinauswill, vermag noch niemand zu sagen. Aber mit dem Gedanken des „Übergangs“ hat sich Immermann getäuscht, wie so viele seiner Zeitgenossen. Denn von einem „Übergang“ zu reden meint ja doch, daß das Neue das Alte irgendwann abgelöst und sich stabilisiert, eine feste, dauerhafte Form angenommen haben wird. Die moderne Welt kennt jedoch nur einen Wandel, der nicht wieder zum Stillstand kommt. Modern sein heißt, in einen Prozeß eingetreten zu sein, in dem jede Neuerung früher oder später durch eine weitere abgelöst wird. Die Modernisierung kennt, wenn sie denn einmal in Gang gekommen ist, kein Halten, sie weiß nur von einem Immer-weiter-Müssen.

In seinen Romanen versucht Immermann, sich Rechenschaft davon zu geben, was der Wandel der Verhältnisse mit dem Menschen, mit seinem Kopf und seinem Herzen macht. Er sieht sich und seine Zeitgenossen von einem „öden Wanken und Schwanken“ ergriffen, das er eine „moralische Seekrankheit“ nennt (IW 3, 135). Auf hoher See ist alles in Bewegung, da gibt es nichts Festes, so daß sich nach und nach ein Gefühl existentieller Unsicherheit breitmacht. Von diesem durch den Modernisierungswirbel ausgelösten existentiellen Schwindelgefühl handelt im Grunde die gesamte Literatur des Vormärz. [<<32]

Immermann und die Dorfgeschichte

Mit seinem „Münchhausen“13 ist Immermann übrigens auch zu einem Wegbereiter der Dorfgeschichte geworden. Nebeneinander werden von ihm hier zwei Welten zur Darstellung gebracht, von denen die eine dann eben ein Muster für die Dorfgeschichte abgegeben hat. Da ist auf der einen Seite die Welt des titelgebenden Herrn von Münchhausen, eine Welt, in der alles, was modern ist oder als modern gilt und was zumal das Leben des modernen Intellektuellen ausmacht, in gedrängter, zugespitzter Form zur Darstellung gebracht wird, um mit den Mitteln der Satire auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Und da ist als deren idyllisches Gegenbild die Welt des „Oberhofs“, eines alten westfälischen Bauernguts, wo die Menschen noch in den überkommenen Formen, auf vormodern-traditionale Weise leben; diese wird von Immermann keineswegs satirisch, vielmehr mit großem Ernst und Respekt zur Darstellung gebracht.

Die Oberhof-Kapitel des Romans sind bald schon ohne die Münchhausen-Passagen separat zum Druck gebracht worden und in dieser Gestalt zu einem der populärsten Bücher des 19. Jahrhunderts geworden – ein postumer Erfolg, der viel über den Geschmack des breiten Publikums in der zweiten Jahrhunderthälfte sagt. Von Immermanns grundkritischen Zeitdiagnosen wollte es bald nichts mehr wissen; die Idylle hingegen war ihm willkommen. Daß durch die Auslösung der Oberhof-Kapitel die Struktur des Münchhausen-Romans und damit das gesamte Projekt Immermanns zerstört wurde, scheint kaum jemanden unter seinen Lesern gestört zu haben, so kunstbeflissen sie sich auch gaben.

Immermanns „Epigonen“

Hier soll zunächst von den „Epigonen“14 die Rede sein, auch weil der Begriff des Epigonentums für die Literatur des 19. Jahrhunderts [<<33] zentrale Bedeutung hat. „Die Epigonen“ sind ein Entwicklungs- und Bildungsroman in der Nachfolge von Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, des großen Musters aller Entwicklungs- und Bildungsromane, die die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Der Held, ein junger Mann von ungewisser Herkunft mit Namen Hermann – ein Name mindestens so deutsch wie Wilhelm, wenn nicht noch ein wenig deutscher – ist in der Welt des frühen 19. Jahrhunderts unterwegs auf den Spuren des Geheimnisses seiner Herkunft und auf der gattungstypischen Suche nach einem „Platz im Leben“.

Dabei bewegt er sich unausgesetzt zwischen dem Lebensraum des alten Adels und dem der neureichen Bourgeoisie hin und her, zwischen Schlössern und Fabriken, Landgütern und städtischen Zirkeln und nicht nur zwischen den Klassen und ihren unterschiedlichen Milieus, sondern zwischen dem Alten und dem Neuen überhaupt sowie zwischen den verschiedenen Haltungen, in denen deren Gegeneinander verarbeitet wird, zwischen Fortschrittsglauben und Historismus, Romantizismus und Realismus. Gegen Ende des Romans wird sich das Rätsel der Herkunft schließlich lösen, wird sich symbolischerweise herausstellen, daß Hermann das uneheliche Kind eines Adligen und einer Bürgerlichen ist – kein Wunder also, wenn er sich weder in dem einen noch in dem anderen Lebensraum zu Hause fühlt.

Zwischen Adel und Bourgeoisie

Da gibt es auf der einen Seite eine weitverzweigte Adelssippe, die Familie eines Herzogs, dessen kleiner Fürstenstaat wie so viele andere in der „Franzosenzeit“ „mediatisiert“, von einem größeren geschluckt worden ist und der diesen Absturz, dieses Herausfallen aus der Macht nicht verwinden kann. So läßt er denn auf seinem Schloß Ritterspiele aufführen, mit denen er an die große Vergangenheit seines Hauses erinnert, was Hermann allerdings nur noch mit Gefühlen der Peinlichkeit quittieren kann. Hier zeigt sich bereits, daß die romantische Ritterherrlichkeit in den Augen Immermanns durchaus nicht so naiv und unschuldig ist, wie sie sich gibt; daß sie alles andere als die Ausgeburt eines rein poetischen und poetisch reinen Sinnes ist. Wie Heine acht Jahre später in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ sucht sie Immermann hier bereits als Ideologie zur Legitimation der Ansprüche des Adels zu entlarven, der sich ja vom mittelalterlichen Rittertum herleitet und von ihm aus die „Legitimität“ seiner Privilegien behauptet. Und [<<34] da gibt es auf der anderen Seite einen bürgerlichen Onkel Hermanns, den „Oheim“, einen neureichen Unternehmer, einen „Entrepreneur“ neuen Stils, der Fabriken baut, Kapital aufhäuft und dem überschuldeten Adel seine Schlösser und Ländereien abkauft.

Hermann wollen beide Welten nicht gefallen. Den Adel kann er nur noch als eine „Ruine“ (IW 3, 158) begreifen, in der die Gespenster der Vergangenheit umgehen. Da findet er nichts Überzeugendes, Lebensfähiges mehr, nurmehr noch eine hochproblematische Mischung von Überlebtem und von Prätentionen, die durch nichts gerechtfertigt scheinen. Aber die neue Welt der Industrie und des Kommerzes gefällt ihm auch nicht viel besser. Er beobachtet mit großer Aufmerksamkeit, wie die Industrialisierung und der Kapitalismus die Natur und die alte Kulturlandschaft zerstören, wie sie die Menschen „entwurzeln“, der Scholle entfremden, in eine mörderische Arbeitswelt hineinstoßen und über solcher verzehrenden Arbeit auch noch verelenden lassen. Nichts von dem, was sich an „Kollateralschäden“ des Fortschritts zeigt, entgeht seinem Blick, und er träumt davon, als Erbe des „Oheims“ die Fabriken wieder zu schließen und die Menschen aus den Industriestädten auf das Land zurückzubringen, zurück in gesündere, stabilere, menschlichere Verhältnisse.

Die Landschaft der Industrialisierung

Der eigentümlich aufgebrochene, durch schroffe Gegensätze geprägte, konfliktschwangere Handlungsraum, in dem sich Hermann bewegt, wird von Immermann bei Gelegenheit in die folgende Szenerie gefaßt; es handelt sich dabei um eine der frühesten Darstellungen der durch die Industrialisierung veränderten Landschaft, die sich in der deutschen Literatur finden.15

 

Abermals sah Hermann das tiefe, gewundene Tal vor sich liegen, aus welchem die weißen Fabrikgebäude des Oheims hervorleuchteten. Die Maschinen klapperten, der Dampf der Steinkohlen stieg aus engen Schloten und verfinsterte die Luft; Lastwagen und Packenträger begegneten ihm und verkündigten durch ihre Menge die Nähe des rührigsten Gewerbes. Ein Teil des Grüns war durch bleichende Garne und Zeuche (Zeuge) dem Auge entzogen; das Flüßchen, welches mehrere Werke trieb, mußte [<<35] sich zwischen einer Bretter- und Pfosteneinfassung fortzugleiten bequemen. Zwischen diesen Zeichen bürgerlichen Fleißes erhoben sich auf dem höchsten Hügel der Gegend die Zinnen des Grafenschlosses, in der Tiefe die Türme des Klosters. Beide Besitzungen nutzte der Oheim zu seinen Geschäftszwecken. Auch die geistliche hatte er unter der Fremdherrschaft (der Franzosen zur Zeit Napoleons) zu billigem Preise erworben. Lange Gebäude, mit einförmigen Trockenfenstern versehen, unterbrachen die Linien der gotischen Architektur auf der Höhe und in der Tiefe; der Wald, welcher die Hügel bedeckte, war fleißig gelichtet.

Gräfin Theophilie kam ihm entgegen, in einem Buche lesend. – „Was führt Sie her?“ fragte sie ihn. Er gab eine allgemeine, ausweichende Antwort, und da er von ihr manches über den Oheim zu erfahren wünschte, so trug er sich ihr zum Begleiter an. Sie gingen über angenehme Busch- und Wiesenplätze. Die Bleichen und Betriebsamkeitsstätten vermied sie; nach anderen Gegenden strebte sie mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit hin. Er sah an solchen Stellen Rasenbänke oder Überbleibsel ehemaliger Pavillons und Tempel.

Sie stiegen den Berg hinauf und standen nach einer kurzen Wendung vor dem Seitenflügel des Schlosses. „Wenn meine Gesellschaft Sie nicht langweilt und die enge Wendeltreppe Sie nicht abschreckt, so kommen Sie immerhin noch ein wenig zu mir“, sagte sie.

Als er sich oben nach kurzem Gespräch von ihr beurlauben wollte, hielt sie ihn angelegentlich zurück und rief: „Sie sehen ein, wie wohl es mir tut, mit jemand mich zu unterhalten, auf dessen Stirne nicht der Wechselkurs geschrieben steht, oder dessen Kleider nicht vom Rauche der Maschinen duften!“ (…)

Sie ging hinaus, um einige Bestellungen für das Abendessen zu geben, welches er mit ihr einnehmen sollte, und er benutzte diese Pause, sich in ihrem Zimmer umzuschauen. Eine Menge sehr sauber gezeichneter Geschlechtstafeln (Ahnentafeln, Stammbäume) der ersten Familien des Landes hing an den Wänden umher; zwischen denselben sah man viele vornehme Gesichter in Miniaturporträts. Als er den Inhalt eines kleinen Bücherschranks musterte, erblickte er sämtliche Jahrgänge des „Gothaer Historisch-Genealogischen Kalenders“ (eines Kompendiums der adligen Familien) in Reihe und Glied aufgestellt, damals einundsechzig an der Zahl, welche in solcher Vollständigkeit sich wohl schwerlich in der Bibliothek einer zweiten Dame versammelt haben mögen. [<<36]

„Das ist mein Zirkel“, sagte sie lächelnd, als sie ihn in die Betrachtung dieser Dinge versenkt fand. „Die Stammbäume habe ich selbst gezeichnet und mich dabei im Gedächtnis der Personen erfreut, die ich gekannt, und wenn ich die Blätter der Kalender aufschlage, so blühen mir bei jeder Familie Geschichten entgegen. Die Gegenwart kann mir nicht gefallen, Zukunft hat ein armes Fräulein bei Jahren nicht mehr; da suche ich denn an der Vergangenheit, in der das Leben etwas wert war, meine Tage zu fristen.“ (IW 4, 7–9)

Die Gräfin ist auf dem Schloß ihrer Väter nur noch geduldet, denn es gehört inzwischen einem neureichen Fabrikanten, eben dem „Oheim“, dem Onkel Hermanns. Der hat es dem Vorbesitzer, dem Vater der Gräfin, in der Franzosenzeit abgekauft. Der alte Graf hatte sich wie viele seiner Standesgenossen zur Aufrechterhaltung seiner aufwendigen adligen Lebensführung mehr und mehr verschuldet, hatte am Ende die Zinsen nicht mehr zahlen können und sich von seinem Besitz trennen müssen – seinerzeit ein gar nicht so seltener Vorgang.

Großbürgerliches Selbstbewußtsein

Die Einstellung des „Oheims“, der auf solche Weise von der Mißwirtschaft des Adels profitiert, das neue bürgerliche oder vielmehr großbürgerliche, bourgeoise Selbstbewußtsein äußert sich in einem Gespräch mit Hermann wie folgt:

„Auch ist es endlich einmal Zeit, daß eine beßre Ordnung in der Welt gestiftet wird. Das Herz blutet einem, wenn man sieht, wie sie (die Adligen) mit dem Ihrigen wirtschaften. So erfuhr ich im Vorüberfahren, daß der Herzog einen herrlichen Kalkbruch, der ihm jährlich die sicherste Rente abwerfen würde, aus bloßem Eigensinne nicht aufbrechen läßt. Weil sie nie etwas zu erringen brauchten, so denken sie auch nicht an das Vermehren, kaum an das Bewahren.

Man spricht so viel von der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes, und wenn sie sich einmal an einem deutlichen Beispiele zeigt, so ist des Verwunderns kein Ende. Du weißt es nicht, denn du bist noch zu jung, wie uns andre dieses bevorzugte Geschlecht drückte, peinigte, verdrängte, wie es sein Gift in das Innerste unserer Häuser spritzte! Ja, mir kann groß zu Mute werden, wenn ich an manches, was vorgefallen ist, mich erinnere und nun bedenke, daß ich es bin, der das Messer in der Hand hat, um …“

Seine Augen blitzten, die hagre Gestalt wurde länger, seine Gebärde hatte etwas Erhabnes. Doch besann er sich, vollendete den Satz nicht und fuhr [<<37] in gleichgültigem Tone fort: „Es ist noch nicht so gar lange her, daß wir nur mit dem Beisatze Bürgerkanaille genannt wurden, wenngleich das jetzt schon wie veraltet klingt. Wir Mittelleute (Leute der Mittelklasse) haben ein unbeschreiblich kurzes Gedächtnis für unsre Kränkungen und halten alle Gefahr der Wiederkehr für so entlegen, wie die Sündflut oder den Untergang der Welt durch Feuer, obschon manche Zeichen dahin deuten, daß man an tausend Ecken und Orten mittelbarer- oder auch unmittelbarerweise versucht, die Zeit der Junker, ihrer gnädigen Öhme und Basen zurückzuführen. Was mich betrifft, ich will mich wenigstens an meinem Platze bestreben, die alten Feudaltürme und Burgverließe zu sprengen.“ (IW 3, 296–297)

Die Frage nach der Zukunft des Schönen

Hermann und sein Freund Wilhelmi sehen den Adel im Grunde nicht viel anders als der Oheim.

„(…) der Adel ist (…) eine Ruine“, sagte Hermann. „Ich muß immer lächeln, wenn ich sie noch mit ihren Titeln und Würden sich brüsten sehe. Was macht den Adel? Die Abgeschlossenheit, das Kastenmäßige. Nun aber haben die Bessern sich längst mit dem gebildeten Mittelstande vermischt. Nirgends finden Sie noch in der guten Gesellschaft den Unterschied der Stände.“ (…)

Wilhelmi lachte bitter. – „Sie Neuling Sie in der Welt, trotz aller Reisen und Bekanntschaften!“ spottete er. „Ja freilich ist der Adel im Kern verwest; aber das Gehäuse steht noch aufrecht, und man kann sich daran noch immer die Stirn einrennen. Die Lebensluft der Aristokratie ist der Egoismus. Andre Menschen sind selbstsüchtig aus Not, böser Gewöhnung, angeeigneter Maxime. Der Edelmann ist es von Natur, er muß es sein; mit der Muttermilch saugt er, wie etwas sich von selbst Verstehendes, die Überzeugung ein, daß er da sei um seiner selbst willen und daß er die Kräfte andrer von Rechts wegen benutzen dürfe.“ (IW 3, 158–159)

Aber diese bürgerliche Perspektive auf den Adel ist bei den beiden Freunden nicht alles. Anders als der „Oheim“ sehen sie auch, daß mit der adligen Lebensweise eine ästhetische Kultur verlorengeht, um die es schade ist; daß der Fortschritt auch hier negative Folgen hat. Das deutet sich etwa in einer Szene wie der folgenden an: [<<38]

Teils Wilhelmi, teils der Herzog hatten ihn (Hermann) im Schloß und in den Umgebungen, die nicht leicht ansprechender gefunden werden konnten, umhergeführt. Überall stieg ihm das Bild eines würdigen, still-prächtigen Daseins entgegen, welches auf den Erwerb verzichtet, weil es in seiner Fülle genug hat. Und wie in einer schönen Landschaft ein klarer Wasserspiegel die reizende Natur ringsumher noch einmal verklärt wiedergibt, so erhielt dieses Bild adligen Lebens zuletzt sein seelenvolles Auge in der Anmut der Herzogin. (…)

Bei ihr angemeldet, war er nach einem Gartenkabinette beschieden worden. Himmelblaue Tapeten bedeckten die Wände dieses Zimmers, weiße Meubles mit goldnen Leisten standen umher, von Konsolen herab sahen die Büsten der großen Dichter. Heitre und doch ernsthafte italiänische Landschaften füllten die Zwischenräume aus; auf einem runden Tische lagen rote vergoldete Bände. Der Advokat schlug einige derselben auf und fand (Goethes) „Hermann und Dorothea“, „Tasso“, „Iphigenia“, Homer, die Gesänge unsres Schiller. (…)

Er war eine geraume Zeit lang allein, und seine Empfindungen wurden immer trüber, je länger er diese gewölbten Marmorstirnen, diese Prospekte (Ausblicke) auf Felsen und Palmen, Himmel und Meer betrachtete oder in die glühenden Georginenbeete der holden Fürstin schaute. (…)

Schon erblickte er hier, wo das Schöne gute Menschen beseligt hatte, ein ödes rechnendes Comtoir (Kontor, Büro); schon sah er dort draußen, quer über die armen Blumen, über den samtnen Rasen einen Weg für Karren und Schleifen zu irgend einer trostlosen Fabrikhütte führen. Er kam sich selbst hassenswürdig und niedrig vor, daß er zu solchem Beginnen die mithelfende Hand bieten wollte. (IW 3, 109–110)

Die Industrialisierung zerstört die Schönheit, macht mit der Lebensform des Adels einer Kultur den Garaus, die sich überall zur Heimstatt des Schönen zu gestalten suchte – eine Entwicklung, die Hermann nur mit Gefühlen des Trübsinns quittieren kann.

Die Folgen der Industrialisierung

Noch bedrängender werden die zwiespältigen Erfahrungen, die Hermann auf seiner Reise macht, als er die moderne kapitalistische Wirtschaft des Oheims näher kennenlernt. Das Bild, das Immermann von dieser Wirtschaft zeichnet, vermittelt einen guten Eindruck davon, in welchen Formen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung auf dem flachen Land vollzog und wie sich die [<<39] Lebensverhältnisse der Bevölkerung darüber veränderten. Immermann mag dabei an die Regionen um Wupper und Ruhr gedacht haben, die besonders früh von der Industrialisierung erfaßt worden waren und die man von Düsseldorf aus gut im Blick hatte.

In den folgenden Tagen durchstreifte er (Hermann) mit einem erfahrenen Führer, welchen der Oheim ihm beigegeben hatte, die Gegend und besah die Fabriken. Fast alle Zweige dieser Art menschlicher Tätigkeiten hatten sich hier im Umkreise weniger Stunden abgelagert. Man mußte wirklich über den Geist des Mannes erstaunen, der in verhältnismäßig kurzer Zeit eine ganze Gegend umzuformen verstanden hatte. Aus einfachen Landbauern waren Garnspinner, Weber, Bleicher, Messer- und Sägenschmiede, Glasbläser, Töpfer, Vergolder, ja sogar Zeichner und Maler gemacht worden.

Als er sich bei einigen Vorstehern nach den Mitteln erkundigte, welche diese Verwandlung bewerkstelligt hatten, sagten sie, daß nichts leichter gewesen sei. Man habe von fernher geschickte Leute des Fachs kommen lassen, welche ihre Kunststücke anfangs wie zum Scherz auf Tanzböden und in Schenkstuben vorgewiesen hätten. Alsobald sei der Nachahmungstrieb besonders bei den jüngeren Leuten rege geworden, da man denn hauptsächlich auf die zweiten und dritten Söhne der Hofbesitzer Augenmerk genommen habe, welche, zum Dienen bestimmt, unzufriednen Geistes, sehr froh gewesen wären, einen lohnenderen und ehrenvolleren Erwerb zu finden. (…)

Mußte Hermann diesen Ausweg für eine Menge durch die Geburt hintangesetzter Menschen sehr ersprießlich finden, und sah er auf allen Maschinenstätten, in jedem Lager und Speicher die größte Ordnung und Nettigkeit, wurde es ihm hier recht klar, welch ein großes Ding das Geld und ein diese Weltkraft bewegender verständiger Geist sei, so fehlte auf der andern Seite viel, daß ihn alle die nützlichen und lehrreichen Anschauungen, welche er auf dieser Wanderung einsammelte, erfreut hätten. Vielmehr empfand er einen tiefen Widerwillen gegen die mathematische Berechnung menschlicher Kraft und menschlichen Fleißes, gegen die Verdrängung lebendiger Mittel durch tote, und er konnte dieses Gefühls nicht Herr werden, so bedeutende Resultate er auch vor Augen sah, so große Achtung er vor dem Oheim und seinen Helfern haben mußte.

Abschreckend war die kränkliche Gesichtsfarbe der Arbeiter. Jener zweite Stand, von welchem die Vorsteher geredet hatten, unterschied sich auch [<<40] dadurch von den dem Ackerbau Treugebliebenen, daß seine Genossen bei Feuer und Erz oder hinter dem Webstuhle nicht nur sich selbst bereits den Keim des Todes eingeimpft, sondern denselben auch schon ihren Kindern vermacht hatten, welche, bleich und aufgedunsen, auf Wegen und Stegen umherkrochen. Wie die beiden Beschäftigungen, die natürliche und die künstliche, dem Menschen zuschlagen, sah Hermann in diesem Gebirge oft im härtesten Gegensatze. Während er hinter den Pflügen Gesichter erblickte, die von Wohlsein strotzten, nahm er bei den Maschinen andre mit eingefallenen Wangen und hohlen Augen wahr, deren Ähnlichkeit die Brüder oder Vettern jener Gesunden erkennen ließ. (…)

 

Wenn er mit diesem Zustande das Leben auf dem Schlosse des Herzogs verglich, so fühlte er sich nur noch unbehaglicher erregt. Es ist wahr, hier gehörte alles tätig der Gegenwart an, und dort zehrte man von Erinnerungen, bestrebte sich umsonst, der Vergangenheit neues Leben einzuhauchen; aber jene Örtlichkeiten und ihre Bewohner erzeugten doch in der Seele eine Stimmung, während er hier vergeblich danach rang, den Knäuel der dumpfen und niederdrückenden Wirklichkeit sich zum Gespinste zu entfalten. Entschieden war es ihm, wenn diese Bestrebungen weiter um sich griffen, so war es in ihrem Umkreise um alles getan, weswegen ein Mensch, der nicht rechnet, leben mag.

Der Sinn für Schönheit fehlte hier ganz. Die Stunde regierte und die Glocke; nach deren Schlage füllten und leerten sich die Arbeitsplätze, traten die Träger ihre täglichen Wege immer in der nämlichen Richtung an, versammelten sich die Hausgenossen zu den gemeinschaftlichen Mahlzeiten. (IW 4, 21–23)

Diese Erfahrungen mit dem Übergang zur technisch-industriellen Produktionsweise, zu Formen der Arbeit, die auf der „mathematischen Berechnung menschlicher Kraft“ und der „Verdrängung lebendiger Mittel durch tote“ beruhen und die demgemäß für Schönheit keinen Platz mehr lassen, ja die Verhältnisse heraufführen, die durch und durch unmenschlich scheinen, suchen Hermann und Wilhelmi in langen Gesprächen in jenen weiteren Entwicklungszusammenhang einzuordnen, der hier mit Begriffen wie Modernisierung, Mobilisierung und Entwurzelung umschrieben worden ist – freilich immer unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um Erscheinungen einer bloßen „Übergangsperiode“ handeln würde. [<<41]

Romantischer Historismus

In der folgenden Szene entzündet sich ein solcher Versuch an einer der Aktivitäten, wie sie typisch für den Historismus sind, an dem Sammeln von Antiquitäten. Wilhelmi ist ein Liebhaber von Altertümern und hat unter anderem das Statut einer Bauhütte aus dem Mittelalter an sich gebracht, eine jener Zunftordnungen, in denen nicht nur das Arbeitsleben, sondern die gesamte Lebensführung der Zunftgenossen aufs genaueste und strengste geregelt war. Es war noch gar nicht so lange her, daß die Zünfte, die alten Zwangsgenossenschaften der Handwerker, der Geschichte anheimgefallen waren; erst in der Revolutionsepoche waren sie weithin aufgehoben worden, im Namen einer Gewerbefreiheit, die es jedermann erlauben sollte, an jedem Ort jedes beliebige Gewerbe zu betreiben.

Gewöhnlich brachte Hermann, wenn die Gesellschaft auseinandergegangen war, noch einige Stunden bei Wilhelmi zu. Dieser war ein erklärter Liebhaber alles Alten und Veralteten; er besaß die seltensten Sachen und Pergamente. In einer solchen Zusammenkunft holte er eine Urkunde herbei, woraus sich das schönste Licht über die großen Bauverbrüderungen des Mittelalters verbreitete. Alles war darin bestimmt: wie der Gesell dienen soll, wie jeder verpflichtet sei, sein Zeichen zu führen, wie Hader, Schimpf und Unzucht in der Hütte (Bauhütte) zu meiden, wie, wenn einer der Bauleute mit einer anrüchigen Person notwendig sprechen müsse, er sich mit ihr über Hammerwurfsweite vom Bauplatze zu entfernen habe, und was dergleichen Vorschriften mehr waren, welche alle auf die strengste, sittlichste Geschlossenheit des Handwerks Bezug hatten. (…)

„Schöne Denkmale einer untergegangnen Zeit!“ rief Hermann. „Man verwundert sich weniger über jene Riesengebäude (die mittelalterlichen Kathedralen), wenn man dergleichen Urkunden durchliest. Und noch klarer begreift man, daß sie jetzt nicht mehr nachzuahmen sind, und daß alle Versuche dieser Art schwach und kindisch ausfallen. Aber was hilft es, Unwiederbringliches zu beklagen? Wir müssen doch vorwärts! Niemand kann in den Leib seiner Mutter zurückkehren.“

„Und doch müssen die Zünfte wiederhergestellt werden, wenn wir künftig vor Wind und Wetter geschützt wohnen wollen“, sagte Wilhelmi. „Jetzt, wo jeder baut, wie er Lust hat, sind wir nahe an den Stand der Nomaden zurückgeführt. Das ist auch eine von den Früchten der gepriesenen Gewerbefreiheit, die denn wieder zu den Blüten unsrer Kultur gehört! Aber [<<42] diese sogenannte Kultur scheint mir nur eine andre Barbarei zu sein, der wir entgegengehn, oder vielleicht schon verfallen sind. Denn, wenn die frühere darin bestand, daß niemand oder wenige etwas wußten, so ist die jetzige wohl nicht minder beklagenswürdig, wo alle zu verstehn glauben, was kaum einer oder der andre überwältigt (bewältigt). Das ist eben das traurige Gefühl, was man gar nicht los wird, daß man die Nichtsnutzigkeit der Gegenwart immer empfinden muß und mit seinem Verstande sich doch vorhält, wie schwierig eine Restauration dessen sein möchte, was vor der Welt freilich zur Ruine geworden ist.“ (IW 3, 157–158)

Hermann und Wilhelmi sind von der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts überzeugt – „Wir müssen doch vorwärts! Niemand kann in den Leib seiner Mutter zurückkehren“ – und huldigen doch zugleich dem romantischen Interesse an „allem Alten und Veralteten“, wohl wissend, daß dessen „Restauration“ auf intellektuell redliche Weise kaum noch möglich wäre. Zugleich bekunden sie ihr Unbehagen gegenüber der Mobilität der Moderne, wie sie die Menschen vollends zu „entwurzeln“ und erneut zu „Nomaden“ zu machen scheint, gegenüber dem Individualismus, der damit einhergeht und der dem Raum zu geben scheint, wozu ein jeder „Lust hat“, sowie gegenüber der Halbbildung, die ihnen in der modernen „Wissensgesellschaft“ an die Stelle wahrer Bildung zu treten scheint.

Der „flexible Mensch“

Wie auf das Mittelalter, so blicken sie auch mit Interesse auf die jüngst vergangenen Zeiten, insbesondere auf die Epoche der Empfindsamkeit – die Zeit von Lessing und Wieland – zurück, und auch hier entdecken sie Lebensformen, die sie nur ungern im Zuge der Modernisierung verschwinden sehen.

„Wenn ich die Dokumente jener verspotteten empfindsamen Zeiten betrachte, so muß ich sagen, daß diese schwärmerischen Freundschaften auf Leben und Tod, diese leidenschaftlich-platonischen Liebesverhältnisse, diese begnügten Familienglückseligkeiten, wie sie damals gang und gäbe waren, jetzt fast aufgehört haben. Das Gemüt hat die Fähigkeit verloren, sich in so traulicher Enge zu regen; alle Kräfte und Sinne der Menschen streben weiteren und höheren Zwecken zu. Das wäre recht schön, wenn wir nur schon ein Vaterland oder große öffentliche Einrichtungen hätten. Aber alle diese erhabnen Tröstungen zeigen sich bei näherer Betrachtung denn doch meistens als Schein, höchstens als ziemlich schwache Versuche. [<<43] Und so darbt unser Herz über den Mangel eines Freundes, einer Geliebten, eines Hauses sich zu Tode, und wenn es sich auf einem anderen Altare opfern möchte, so fehlt eben dieser.“ (…)

„Ja, wir leben in einer Übergangsperiode“, sagte Wilhelmi. „Das ist ein trivial gewordenes Wort, welches alle Schulknaben jetzt nachplappern. Schwieriger ist es, die ganze Bedeutung desselben zu fühlen, sympathisch nachzuempfinden, wie viele Menschen an einem solchen Übergange zu Grunde gehn. Wohl befinden sich in der Gegenwart eigentlich nur die oberflächlichen Naturen, welche von Schatten und Klängen genährt werden, während jede tiefer gehöhlte Brust ein heimliches Verzagen erfüllt. Auf alle Weise sucht man sich zu helfen; man wechselt die Religion oder ergibt sich dem Pietismus; kurz, die innere Unruhe will Halt und Bestand gewinnen und löst in diesem leidenschaftlichen Streben gemeiniglich noch die letzten Stützen vom Boden.“