SINN FLUT

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Gloria Fröhlich

SINN FLUT

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. KAPITEL

6. Kapitel

7. KAPITEL

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Impressum neobooks

Vorwort

Was macht man, wenn die Mutter der besten Freundin einen Roman schreibt und einen bittet, ihn zu lesen? Man liest ihn natürlich! Dass man ihn dann aber auch gut findet, ist nicht selbstverständlich. Ist ja nicht jedem die Kunst des Erzählens gegeben. Gloria Fröhlich schon. Ehrlich gesagt, habe ich es fast geahnt, da ich sie als vielseitig begabte Künstlerin, vor allem in der Malerei, schon lange bewundere. Zunächst habe ich erwartet, hinter jedem Satz die Persönlichkeit der Autorin zu erkennen, aber ich lauerte vergeblich. Stattdessen verführte mich ihr Buch – eine stilsichere Melange aus Prosa und Lyrik – innerhalb weniger Seiten zu einer Art Komplizenschaft mit den weiblichen Figuren ihrer Erzählungen.

Das mag an der Skurrilität der Charaktere liegen, an der humorigen Schilderung von Situationen, die einem zugleich vertraut und doch auch surreal vorkommen. Oder an Gloria Fröhlichs frech-provokantem Stil, der leichtfüßig und ungeschminkt daherkommt und die unüberwindbaren Barrieren zwischen Mann und Frau gnadenlos aufdeckt. Sie führt einen mit scharfsinniger Lebenserfahrung und doch auch spielerischer Leichtigkeit und Ironie die alltägliche Tragik des Lebens vor Augen, man findet sich darin wieder und denkt: Herrlich, dass es so viele verschrobene Leute gibt und wie gut, dass es so feinsinnige Beobachter wie Gloria Fröhlich gibt, die diese Menschen und ihre maladen Befindlichkeiten so subtil zeichnen können, sonst würde es dieses Buch nicht geben. Das alles macht „SINN FLUT“ zu einem herrlich skurrilen Lesevergnügen. Witzig, zum

Nachdenken anregend, unterhaltend und einfach nur gut.

Maria Ketikidou

Gloria Fröhlich

SINN

FLUT

1. Kapitel

„Lies mal!“ Etwas zaghaft reichte Lilli ihrer Freundin ein eng beschriebenes Blatt Papier. „Ich brauche deine Meinung dazu“, bat sie. „Das habe ich letzte Nacht geschrieben, nachdem mir Ralf wieder einmal mit einer fadenscheinigen Ausrede unsere Verabredung abgesagt hat. “Lilli ging zum Fenster und schaute in den grauen Novembertag, sah über das schräge Dach gegenüber, auf dem zwei Elstern stritten und empfand den gestrigen Abend noch einmal schmerzlich. Sie hatte sich nach Romantik und tiefen Gefühlen gesehnt, wie sie sie ähnlich empfand, wenn sie in Rilkes „Stundenbuch“ oder Tagores „Der Gärtner“ las. Aber Ralf? Immer ging es um seinen Job! Und dann das ewige Gerede über Dichtungsklappen und Kühlanlagen! Noch nie verstand er ihre großen Gefühle, nie ihre Sehnsucht nur nach mal einer zärtlichen Umarmung, ohne dass sie gleich im Bett landeten! Und so hatte sich Lilli auch in der vergangenen Nacht wieder in ihre Traumwelt geflüchtet, hatte sich in ihren Sehnsüchten und Wünschen verloren und sich schreibend getröstet. Neugierig schaute ihre Freundin Iris jetzt auf das Blatt Papier in ihren Händen und las:„Liebesglück! Ein Gedicht?“ „Ja, ich schreibe Gedichte und Geschichten, merkwürdige Geschichten, aber lies mal bitte weiter!“

Liebesglück! Im Frühling unter einem Baum, ist sie so lieblich anzuschaun. Noch zögert er, soll er es wagen, ihr seine Liebe anzutragen? Im Goldhaar stecken feine Spangen, ihr Antlitz und die rosa Wangen, ihr Atem, ihre weichen Brüste, er zittert, ach, wenn er nur wüsste, ob er sie zärtlich küssen darf! Scheu, wie ein Reh, schaut sie ins Gras. Warum er so viel Zeit verschwende! Ach, nähme er doch ihre Hände und zöge sie an seine Lippen, dann würde sie nach hinten kippen, er würde sie dann innig küssen und sich mit ihr vermählen müssen! Noch während sie an dieses denkt, hat er sich bei ihr eingehängt! Sie fühlt nun seinen Unterarm an ihrer Taille, leicht und warm. Sie atmen tief die warme Luft und freuen sich am süßen Duft, im Frühling unter einem Baum und halten ihre Lust im Zaum! Stille schlich durch das Zimmer und an den schrägen Wänden hinauf bis an die Decke, in deren Weiß sich Lillis Blick schon Minuten lang verlor. „Das hast du geschrieben?“ Iris staunte zu Lilli hinüber. „Die Seite kenne ich ja gar nicht an dir, Lilli! Aber wenn ich ganz ehrlich sein darf, das ist zwar ganz nett, aber viel zu brav, viel zu harmlos!“ Iris hob die Schultern und brachte sie in Zeitlupe wieder in die normale Position. „Wir sind nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert, liebe Lilli! Du erwartest doch nicht, dass heute noch jemand so etwas lesen möchte, genauso wenig wie jemand auf die Idee käme, Leipziger Allerlei zu essen. Es hat sich inzwischen viel getan. Ein gutes Beispiel ist der japanische Halbschattentee mit geröstetem Reis? Das ist flüssiger Fortschritt der ganz feinen Art! Was nicht althergebracht ist, danach lechzen wir und noch mehr, wenn es einen Namen hat, der nicht deutsch klingt! Und wir machen das mit, Lilli. Man passt sich eben an, hat ein verdammt gutes Gefühl, „in“ zu sein und so richtig dazuzugehören! Aber Vorsicht beim Kommentar, wenn über neuzeitliche Kunst geredet wird! Ich sage mit schweifendem Blick über das Kunstwerk: „Das hat eine unglaubliche Intensität und weckt meine Neugier!“ Damit bin ich immer auf der richtigen Seite. Da fragt niemand nach, sondern man nickt, verstehst du? Und bei den Büchern! Da sind die mit den größten Schweinereien auf den ersten Plätzen! Weil niemand in die obszöne Ecke gestellt werden will, regen sich alle erstmal so richtig auf, obwohl sie vor Neugier fast platzen! Und dann wunderst du dich, wie gut plötzlich alle Bescheid wissen, auch die, denen du niemals zugetraut hättest, dass sie so etwas lesen würden und was heißt schon so etwas! Also schreibe das Gedicht noch einmal, und zwar nicht in „verbaler Schönschrift“, sondern so, dass es in die heutige Zeit passt! Wer Fantasie hat, der hat nicht nur gute, der hat auch genug schlechte, um die niederen Instinkte der Menschen zu erreichen, und die lauern begierig unter der Oberfläche!“ Lilli biss sich auf die Unterlippe, griff in die Schublade ihres Arbeitstisches und sagte: „Und das?“ Iris las, und Lilly genoss die Spannung im Gesicht der Freundin, die Zeile für Zeile verschlang, aufschaute und sagte: „Das ist ja etwas völlig anderes, aber es ist gut, wie bist du darauf gekommen? Bei der Geschichte muss man mitdenken, überlegen und kombinieren, das ist nichts für Schnarchnasen!“ Iris verabschiedete sich, nachdem sie eine Pfirsich-Muskatsuppe, Lachsfilet auf Fenchelgemüse mit Feta und Zitronengras gegessen hatten. Zum Dessert gab es Lassi. „Statt der Nelken hättest du auch Chili nehmen können“, wusste Iris, dass das schmeckt. Die Weinflasche war inzwischen leer, und sie hatten sich nach dem Essen ein Verveine gegönnt und genossen ihn vor dem riesigen Vorratsglas, in dem sich Unmengen Pinienfinger platzsparend aneinander drängten, die Lilli gestern nach einem neuen Rezept gebacken hatte. Lillis entschlossene Schritte ließen den Holzfußboden knarren, als sie wenig später die abgegessenen Teller in die Küche balancierte. Danach stand sie gedankenverloren da, bevor sie sich setzte. Sollte sie wirklich das Liebesgedicht umschreiben? Ihr nachdenklicher Blick durchbrach die Fensterscheibe und glitt über die regennassen Dächer. Die beiden Elstern waren nicht mehr da. Aber was sollte sie anstelle von Liebe, Sehnsucht, Romantik und tiefen Gefühlen schreiben? Vögeln, pimpern, poppen und bumsen? Aber was reimte sich denn darauf? Und sollte sie wirklich das Wort Scheiße benutzen, wollte sie das? Und „Der Scheiß?“ Was war das überhaupt? Und wer richtig doll Angst hatte, der hatte „Schiss“ in der Hose! Total berechtigt, wenn man ein Flugzeug besteigt. Da gibt es Tabletten, und dann ist der „Schiss“ wie weggeblasen! Verblasste die Erinnerung von Generation zu Generation mehr, dass es sich bei diesen, inzwischen zur normalen Sprache zählenden Begriffen, um Exkremente unangenehmen Geruches handelte? Und dachte niemand mal darüber nach, wieso das verbal zu einem „festen“ Begriff geworden war und keiner weichen Masse mehr glich, sondern der Ausdruck für schlechte, aber oftmals nicht einmal mieser Empfindungen war, die man locker oben rausdrückte? Schade, dass da nicht alle verstopft sind! Und wenn es hin und wieder doch jemanden trifft, dann ist der Zeitgeist das beste Abführmittel, der schafft das schon! Auf Scheiße reimte sich gerade noch Oder-Neiße oder Berliner Weiße! Und wie konnte jemand mit Glaubwürdigkeit rechnen, bei der Behauptung, dass er sich „beschissen“ fühlt, wenn er diese Demütigung noch nicht erlitten hat. Es gibt doch nur eine vage Vorstellung davon, was das eigentlich bedeutet! Da brauchen einem nur mal die landwirtschaftlichen Nutzflächen einzufallen, für die jedes Frühjahr so beginnt! Und das immer durch einen auf dem Trecker mit einer dicken Tonne im Schlepp, randvoll mit dunkelbrauner Gemeinheit. Immer großzügig rauf auf Mutter Erde! Oder ein junger Löwenzahn, dem es endlich gelungen war, die dicke Asphaltdecke zu durchstoßen und der sich begierig der Sonne entgegenstreckt, und dann kommt ein Hund! Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Und wer den Mund mit Fresse umschrieb, der war garantiert nicht verklemmt, sondern gebildet! Der kannte sich gut „in schlechte Sitten“ aus. Eine Fresserei war für ihn eine lästige Tischeinladung, da ging man nicht hin! Aber wo bleibt bei alledem die Romantik? Lilli fühlte sich gezwungen, darüber nachzudenken, was so dahergesagt wurde und hatte plötzlich eine Idee. Da gab es doch noch das Wort mit „f!“ Ihr war beigebracht worden, dass man das nicht sagte! Denn dieses “Tu“ Wort, man kann auch Zeitwort oder Verb sagen, war ein „ ganz schlechtes Wort!“ Und heute? Im Fernsehen der Renner an Ausdruckskraft nicht nur für die Ohren, auch für die Augen schon lange keine unanständige Darstellung mehr! Warum war das so? Sie ging zum Bücherregal und griff nach dem Neuen Wörterbuch der Deutschen Sprache von Lutz Mackensen, herausgegeben vom Südwest-Verlag, München. Sie blätterte und suchte nach einer ganz bestimmten Stelle. Dann las sie auf Seite 276 folgendes: Ficke w Kleidertasche, f/en ZW (-ckte, gefickt) hin- und herrutschen, beschlafen, prügeln, peitschen, einstecken. F/er m Taschenmacher, F/fack m Ausflucht, Winkelzug. f/facken ZW (-ckte, gefickfackt) Winkelzüge machen, Böses planen, planlos herumlaufen. F/facker m Ränkeschmied. F/fackerei w Betrügerei, Unsinn. F/mühle w Brettspiel, Zwickmühle. Lilli dachte an ihre wahnsinnig teure Handtasche und lächelte. Die einzelnen Begriffe wurden da ganz sachlich erörtert. Für Lilli ein Aha-Erlebnis! Von „schlecht“ war da nicht die Rede! Warum umschrieb man dann diese hin und herrutschende Tätigkeit, der doch in erster Linie der fortpflanzende Effekt und das natürliche Bedürfnis nach sexueller Befriedigung zugrunde lagen und ab und zu auch ohne gezielte Absichten ein Vergnügen sein konnte, mit solch einem Wortreichtum? Warum war die Bezeichnung des Hin- und Herrutschens in alter, deutscher Sprache nicht tauglich? War die Tat an sich das Übel und nicht wert, mit richtigem, sondern einem Pseudonym benannt zu werden? – Oder was war da los? Lilli überlegte. Sie konnte zum Beispiel schreiben, dass manche Männer prügelnde und peitschende Taschenmacher wären, die in jeder Tasche herumrutschten und das als Winkelzug betrachteten, bevor sie wieder Böses vorhatten, planlos herumliefen und die nächste Betrügerei begingen, um dann wieder in der Zwickmühle zu sitzen! Aber dann müsste sie das Wörterbuch mitliefern, denn ohne fundiertes Wissen in dieser Hinsicht, käme man der Tragikkomödie gar nicht auf die Spur! Sexuelle Befriedigung ist ein natürliches Bedürfnis, wie essen und trinken, sind fast alle einig. Beim Essen wird auch etwas hineingeschoben, gelutscht, und man lässt sich mit vollem Mund etwas auf der Zunge zergehen und hat dann auch den unverkennbaren Ausdruck des Genusses im Gesicht, wenn es gut schmeckt! Und man sagt, ich gehe essen oder ich möchte mit dir essen gehen. Und das finden dann alle nett! Bei der sexuellen Bedürfnisbefriedigung heißt das unter besonderen Umständen, Mann geht ins Bordell, wenn Mann nicht absolut fest liiert ist oder seine Beziehung vermurksen will. Nur das dazu kaum eingeladen wird. Da bezahlt jeder selbst. Da geht Mann auch schon lange nicht mehr heimlich hin und empfiehlt das auch weiter, wenn das Preis- Leistungsverhältnis gestimmt hat. Das soll den Prostituierten helfen, die Anerkennung ihrer Tätigkeit! Klar, ist ja Arbeit! Im Bordell kann Mann auch mal was Neues ausprobieren, ohne ein Schwein zu sein! Und bei der

 

Nahrungsaufnahme? Da ist jeder eine arme Sau, der das nicht tut! Wer nicht probiert, der kann überhaupt nicht mitreden, der weiß nicht Bescheid! Wenn man sich da verbal genau so verhalten würde, wie beim Hin- und Herrutschen, dann hieße es: „Ich lade dich zum Gäumeln ein, es gibt Spaghettis, die kannst du in dich hineinflutschen lassen. Oder zum Mundeln mit viel Spucke und zum Bohren, Lecken mit der Zunge und in allen Winkeln nach Essenresten stöbern. Oder man würde fragen, kommst du mit zum Beißen, Kauen, Nagen, Schlecken und zum Lutschen, Nuckeln, Zermalmen und zum Nippen und das alles mit Sekret vermischen und runterschlucken und aus den Zahnlücken züngeln und zum Lutschfingersaugen als Dessert, hast du Lust?“ Klingt pervers, oder? Sollte man mal drüber nachdenken, warum das so ist! Lilli setzte sich jetzt an ihren Computer. Mit diesen neuen Informationen und Überlegungen im Kopf, wollte sie sich nun von sich überraschen lassen! Liebesleid! Unter einer Silberpappel, gab es neulich viel Gezappel. Er hat wie verrückt gebalzt und das Gras ganz flach gewalzt. Als sie lüstern Blicke tauschten und sich Unterröcke bauschten, grabschte er nach ihren Brüsten. Keuchend lag er über ihr, beide spürten ihre Gier! Als wenn ihre Schenkel wüssten, blieben sie nicht beieinander. Nein, nein, das will ich nicht, dachte Lilli, denn jetzt ging ihre sexuelle Fantasie mit ihr durch. In ihrem Kopf reimten sich in Sekundenschnelle unglaubliche Worte aneinander, die sie mit flinken Fingern tippte und sofort und entsetzt wieder löschte. Sie lehnte sich zurück! Fasziniert schaute sie auf den Bildschirm, nickte und fühlte zu ihrer Überraschung angenehm kribbelnd, tausend Unebenheiten in sich, die sie keinesfalls glätten, aber auch nicht für andere preisgeben wollte! Was da noch schwarz auf weiß stand und auch bleiben konnte, war ohne jede Anstrengung aus ihrem Kopf gesprudelt. Und sie hatte nicht einmal das gängige Wort fürs Hin- und Herrutschen, nicht einmal die diversen Decknamen dafür und auch nicht das Wort mit „Sch“ benutzt. Das, was sie gereimt hatte, das war von der anderen in ihr, der Naturbelassenen! Der Kamillentee war dottergelb. Er stand schon seit heute morgen da! Lilli goss warmes Wasser aus der Leitung dazu und trank in kleinen Schlucken. Sie lehnte sich zurück, war so angenehm mit sich selbst und überlegte. Die Zitterpappel! Ihre Blätter sind graugrün und zittern auch, wenn sich kein Lüftchen regt. Zu sehen sind dabei immer die Unterseiten, die mattsilbern leuchten! Welche Seite ist die bessere?„Gut erzogen und ein Rest Naturbelassen, es in ihr, das sind „meine“ beiden Seiten. Und dann dachte sie noch für Sekunden mit etwas Wehmut an die Reinheit ihrer Empfindungen, die sie wert gefunden hatte, aufzuschreiben und sie dachte daran, dass sie Schlüpfrigkeiten niemals zugelassen hatte. In dieser Nacht schlief Lilli unruhig aber nicht schlecht. Und am nächsten Tag fühlte sie sich gedankenehrlich und viel besser als sonst. In ihrer Gefühlswelt hatten wohltuende Veränderungen stattgefunden, die sie mehr und mehr freudig überraschten und etwas sehr Befreiendes hatten. Und wer übernahm dafür die Verantwortung? Natürlich – der Zeitgeist, der Zeitgeist war es! Er würde ihr in Zukunft ein gehöriges Maß an Empörung ersparen! In ihrem Kopf wisperte jetzt ein außergewöhnliches Geschehen, dass nach Niederschrift drängte, und sie schrieb:

2. Kapitel

So lange war es still gewesen. Sie hatte in aller Ruhe dafür sorgen können, dass ihre Behausung in Ordnung war, dass sie nur so viel aß, dass sie nicht noch mehr in die Breite ging, und gestört hatte sie schon lange niemand mehr. Mit ihren Nachbarn hatte sie keinen Kontakt. Es ergab sich einfach nicht. Worüber hätte sie sich auch unterhalten können, erlebte sie doch nicht genug, um für andere interessant zu sein! Aber heute ging es in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft drunter und drüber! Was war los? Kam die Müllabfuhr zu früh oder an einem falschen Tag? Sie war nicht so neugierig, dass sie nachschaute, sondern zog sich abwartend zurück. Und genau da wurde zugegriffen! Sie hatte das Gefühl einen Alptraum zu haben, als es wackelte und ruckte, knallte, stieß und plötzlich dunkel wurde, sehr dunkel sogar! Und dann kam sie ratternd vorwärts, ohne ihre Beine zu benutzen. Ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl! Durch die breite Tür über ihr, war das Ungeheure hereingebrochen, und dann schien sie zu fliegen, wie besinnungslos zu schweben! Nach einer ganzen Weile ruckte es noch einmal kräftig unter ihr, so dass sie Mühe hatte, die Balance zu halten. Sie verharrte wie gelähmt und wartete ängstlich, was nun geschehen würde. Der Tumult, in den sie dann geriet, als sie sich endlich aus ihrer vertrauten Umgebung wagte, war beängstigend! Es herrschte ein maßloses Durcheinander. Dazu kam, dass es jetzt hell wurde, viel heller als sie es gewohnt war. Es drängte sie, sich zu bewegen, und sie irrte herum, lief dorthin, kehrte rasch um und drückte sich schließlich in einen Hauseingang. Sie war grau gekleidet. Wie immer! Niemand schien sie zu bemerken, denn sie machte keinerlei Geräusche und machte sich auch sonst durch nichts bemerkbar. Vielleicht war das ihr Glück im Unglück! Die Haustür öffnete sich. Unbemerkt war sie rasch nach vorn ausgewichen und bewegte sich jetzt auf dem Fußweg, vorbei an langen Tischen und zwischen Kartons hindurch, in denen Unruhe und Neugierde wühlte. Sie war besonders darauf bedacht, nicht angerempelt, gestoßen und getreten zu werden, was zwischen den Gegenständen und der vielen Menschen einer großen Geschicklichkeit bedurfte. Neben ihr polterte etwas zu Boden! Es hätte ihr auf die Füße fallen können. Nicht auszudenken! Niemand bückte sich danach. Sie lief gehetzt von einer Seite zur anderen. Es war beschwerlich, dabei nicht die Richtung zu verlieren, obwohl sie überhaupt nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Dann war es ihr gelungen, eine gewaltige Strecke Asphalt zu überqueren, über die die Autos im Schritttempo rollten, weil sie durch einen Menschenpulk daran gehindert wurden, an Tempo zuzulegen. Am Bordstein angekommen, hielt sie neben einer Anzahl alter, rostiger Gartenstühle inne, die an eine Straßenlaterne gelehnt waren. Sie war unglücklich und wurde zunehmend unruhiger! Es war nicht nur der Verlust ihrer Wohnung, der ihr zu schaffen machte, sondern auch der ihres silbernen Zierrates, an dem sie ganz besonders hing. Sie hatte nur das bei sich, was sie am Leibe trug und nun nicht die Muße, sich hier noch länger aufzuhalten. Sie musste eine neue Bleibe finden und entschloss sich, den Zebrastreifen zu überqueren, der hier über die Straße führte. Zusammen mit Menschen in leichter, heller Sommerkleidung und in Turnschuhen, Halbschuhen, Sandalen und Stiefeln, lief sie los. Es war heiß und viele trugen wie sie, keine Strümpfe. Und zwischen diesem Gewusel wurde sie von enormem Glück begleitet, denn die Menschen ließen sie, wenn auch völlig unbeachtet, so doch mit ihnen gehen. Sie schaute vor sich auf den Boden und bekam zu spät mit, dass vor, neben und hinter ihr abrupt stehen geblieben wurde!

Und niemand warnte sie! Niemand rief Achtung, Vorsicht oder Halt! Und so lief sie allein weiter und weiter und somit in ihr Verderben! Sie erlag sofort und gut sichtbar, auf einem der weißen Streifen, die abwechselnd mit den schwarzen Streifen der Sache über die Straße einen Tiernamen gaben, ihren schweren Verletzungen! Der Tod hatte mit einem der hinteren Firestonereifen eines

schwarzen Kleinwagens, dessen Fahrerin wegen der erworbenen rostigen Gartenstühle sehr langsam den Zebrastreifen überquert hatte und dann am Bordstein hielt, nach ihr gegriffen.Ihr Schicksal wurde nicht einmal bemerkt! Und es gab auch niemanden, der bleich vor Kummer für sie schwarz tragen würde. Die schmierigen Reste ihres dicken Leibes und ihrer vielen, langen Beine, wurden wenig später exakt ins Sohlenprofil eines braunen Turnschuhs gedrückt, der sich mit schnellen Schritten fortbewegte und schließlich bei dem Zelt der Feuerwehr für Erbsensuppe mit Wursteinlage anstand. In ihrer verlassenen Behausung stöberte wenig später eine Männerhand nach Schätzen, fand ein Schriftstück und las: „Spinnenansichten.“ Ich habe nur dies eine Leben und das besteht aus Netze weben. Ich habe niemals nachgedacht, was mir wohl sonst noch Freude macht, als still zu sitzen, voller Gier, zu warten, auf das nächste Tier, das ahnungslos, nichts Böses denkt und sich in meinem Netz verfängt. Wo es dann voller Angst und Pein, mich anfleht, nicht so grob zu sein, wenn ich es beiße und verschnüre und es zum Mund genüsslich führe. Und hab ich es dann ausgesaugt, dass es für andres nicht mehr taugt, dann fürchte ich, gleich einzunicken, ich wollt doch in die Zukunft blicken! Der Christo packte Sachen ein, ins Netz fliegt mancher Fußball rein, und Kirschen werden abgedeckt und unter Netzen gut versteckt. Netzhemden trägt, wer Kühle mag, Netzstrümpfe gern am Faschingstag. Ins Einkaufsnetz legt man den Kohl, ein Netz sorgt fürs Artistenwohl. Mein Netz, das ich für mich nur webe, ist alles, wofür „ich“ so lebe. Auch wenn ich ständig neu beginne, ich bin und bleibe eine Spinne! Ich werde ganz bestimmt wie eben, auch in der Zukunft Netze weben! Vom Leben kann ich nichts verlangen, als immer nur Insekten fangen! Und wenn ein dürrer Spinnerich, signalisiert, ich liebe dich, wird er benutzt, und ich weiß mehr, ich! sterbe niemals beim „Verkehr!“ Ein Dompfaff mit hellroter Brust, hat irgendwann auf mich dann Lust! Die „Spinnenansichten“ unterlagen einem gewaltigen Irrtum und kosteten 2o Cent auf dem Flohmarkt.

 

Er war hässlich! Nicht nur äußerlich! Sie kam nicht umhin, das irgendwann festzustellen! Seine Fingerspitzen bogen sich nach oben. Ein Zeichen für grenzenlosen Egoismus, hatte sie mal irgendwo gelesen. Da ist Vorsicht geboten, da kann es seelische Verletzungen geben! Und die schmerzten und hinterließen Narben! Er hatte geschickt flache, silbrige Täfelchen ineinander gefügt, aus denen er die Tabletten gedrückt hatte, die er täglich schlucken musste. Ein glänzendes Gebilde türmte sich mit roter und blauer Aufschrift hinter den Glastüren eines schmalen Schrankes. Sie sagte nichts dazu. Warum eigentlich nicht? Ein Stück helle Pappe lag neben einer Zuckerdose aus dem Tal der Rosen. Mit ihm wurden Fliegen, Mücken, Spinnen und anderes winziges Getier mit enormer Abneigung eingefangen und durch das nur einen Spalt weit gekippte Fenster und einem ausgeklügelten Balanceakt nach draußen befördert. Mit akrobatischem Einsatz und enormer Konzentration, wurden sie in halbstündigem Abstand gesucht, entdeckt, überlistet und mit einer Taktik eingefangen, die nicht zu überbieten war.

Sie war amüsiert! Das durch den hellen Vorhang gefilterte Tageslicht fand seinen Weg nur träge bis in die Ecken des Zimmers, in dem es keinen freien Fleck mehr in der Ansammlung von Dingen, Dingen und noch mehr Dingen gab. „Hast du das gehört? Der schurrt schon wieder! Das macht der mit den Stuhlbeinen, wenn er aufsteht. Obwohl ich dem schon so oft gesagt habe, dass es mich stört, macht er es immer wieder - auch nachts!“ Er lachte kurz und verzweifelt auf seine Füße und dann hilflos in die bedrückende Enge des Zimmers. „Ich schlafe sowieso so schlecht, und ich habe das Gefühl, der macht es gerade nachts absichtlich, nur um mich zu ärgern! Ich schwitze dann so sehr vor psychischer Anstrengung, dass ich mein Bett neu beziehen muss! Und schuld daran ist er! An der Wohnungstür nebenan tat sich jetzt etwas! Die personifizierte Intoleranz verließ ihre Wohnung.

Der Schlüssel wurde zweimal umgedreht. „Der geht jetzt!“ Er trippelte rasch auf Zehenspitzen an seine Wohnungstür, presste das rechte Ohr an den vergilbten Schleiflack und belauschte und zählte dabei die Stufen, die der ungeliebte Nachbar hinuntertapste. Während seiner Lausch- und Zählaktion befummelte er nervös den braunen Filzstreifen, der vor dem Schlüsselloch hing, um schlechte Energien abzuhalten, die seiner Meinung nach außerhalb seiner vier Wände ihr Unwesen trieben. Jetzt drehte er sich zu ihr um und hörte, dass die Haustür geöffnet wurde und dann mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. „Er ist weg!“

Seine aufgerissenen Augen signalisierten Freude. Mit großer Erleichterung wollte er sich setzen, aber sofort setzte neuer Ärger ihm zu! Mit wenigen Schritten war er am Fenster, weil ein Auto hinter das Haus auf den Hof fuhr und vor dem Eingang zu den Kleingärten parkte. „Der stellt sich doch schon wieder falsch hin, das ist nicht zu glauben!“ Er kicherte gereizt und war zu feige, das Fenster ganz zu öffnen, um seinen Unmut hinauszuschreien. Er lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge, bemüht, nicht entdeckt zu werden. „Das macht der immer“, stöhnte er! „Ich ärgere mich jeden Tag über ihn. Der ist so stumpf, der merkt nicht mal, wie es mich aufregt!“ Er setzte sich jetzt wieder und machte einen erschöpften Eindruck. Seine stechenden Augen, die die Farbe des gewürfelten Glibbers hatten, den man zu Schweinebraten kaufen kann, fixierten das italienische Glasschälchen auf dem Tisch. Von diesen Schälchen hatte er einige angeschafft und machte viel Gewese darum! Sie beobachtete ihn weiterhin interessiert! Durch seine Verrücktheiten erfuhr sie bei sich eine ungekannte Wachsamkeit! Begierig wartete sie auf noch mehr Auffälligkeiten an ihm! Sie brauchte nicht lange zu warten, denn jetzt nahm er einen kleinen, hellbraunen, matten Stein, der mit einigen anderen auf dem runden Tisch lag, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr mit ihm durch die Rille zwischen Wange und Nasenflügel.

Zuerst rechts, dann links! Vom Talg seiner Haut wechselte der Stein in wenigen Augenblicken die Farbe. Er war jetzt dunkelbraun und glänzte fettig!

„Wie schön er jetzt ist!“ Zufrieden drehte er ihn hin und her. Sie fand es widerlich und antwortete nicht. Warum eigentlich nicht? „Komm, ich zeige dir etwas!“ Er war bemüht, sich nicht wieder das Schienbein am Bett zu stoßen und öffnete die Tür zu dem kleinen Flur und dann die zum Badezimmer. Dabei musste er sich bücken, weil am Türrahmen der alte schmuddelige, braune Cordmantel seines Großvaters väterlicherseits, hing. Der Großvater hatte ihn nie leiden können. Trotzdem war es ihm nicht möglich, sich von dem Mantel dieses längst verblichenen Vorfahren zu trennen. Über der Badewanne hing alles Mögliche, das er nun beiseite schieben musste, damit sie sehen konnte, was ihn mindestens drei Stunden Arbeit gekostet hatte! Er gab merkwürdige Erklärungen ab, ohne dass sie wusste, wovon er sprach, bis er auf einen kleinen, weißen Wall aus Silikon zeigte, der auf dem Badewannenrand so angelegt war, dass das Wasser, das sich beim Duschen dort sammelte, nicht außen an der Wanne herunter und dann auf den Fußboden laufen konnte. Sie unterdrückte einen Lachanfall! Warum eigentlich? Er war so hektisch stolz auf diesen Mist, dass sie auf ihren Verdacht, ob er noch alle Tassen im Schrank hätte, verbal verzichtete. Warum eigentlich? Er stand jeden Morgen in der dunkelsten Ecke seines einzigen Zimmers mit weit

aufgerissenen Augen auf dem Kopf, bis seine Stirnadern dick anschwollen und an Regenwürmer erinnerten. Währenddessen qualmte die immer gleiche Sorte Räucherstäbchen, deren intensiver Geruch ihn, von ihr unterwegs gerochen, in eine eigenartige, fast unangenehme Erinnerung brachte. Er hatte drei Pullover in Schmuddelfarben, die er umschichtig trug. Aus Mangel eines Kleiderschrankes, bewahrte er sie über der Lehne seines einzigen Stuhles auf, so dass nur der obere Pullover den ihm anhaftenden ranzigen Tragegeruch an die Zimmerluft abgeben konnte. Er hatte nun vor, eine Mahlzeit zuzubereiten und mit großem Getue und viel Umstand einen Wein unter drei Flaschen auszuwählen, als hinge der Weltfrieden davon ab. Um an deren Lager zu kommen, war er auf alle Viere geschrumpft, und sie konnte seine fahle Kopfhaut durch das schüttere Haar sehen. Er hatte so gar keine Haarfarbe, vielleicht Straßenköter, war aber im Nacken gut ausrasiert. Dann besprach er enorm wichtig mit sich selbst die Zubereitung der beiden Paprikaschoten und holte dazu den rechteckigen, durchwachsenen Speck im Pergamentpapier hervor, den er vom Wochenmarkt bis in seinen Kühlschrank transportiert hatte. Er drückte ihn mit zupackender Hand, wie einen Flüchtenden, auf das Holzbrettchen, um ihn, und das war eine Meisterleistung, an der langen Seite, in sehr dünne Scheiben zu schneiden. Das dauerte unter seinen druckreif verfassten Erklärungen dazu, mindestens eine halbe Stunde. Sie war gespannt darauf, was er mit den dünnen Speckscheiben zu tun beabsichtigte. Ob er sie um die Paprikaschoten wickeln wollte oder sie cross gebraten daneben oder drüberlegen würde. Umso sprachloser stand sie da und traute ihren Augen nicht, als er sich anschickte, aus den mühevoll zugeschnittenen, dünnen Scheiben, winzige Stücke zu schnippeln. Er ist so entsetzlich dämlich, dachte sie, verkniff sich aber, das auszusprechen. Warum eigentlich? Während er in der Pfanne rührte, sprach er von der kleinen Flasche neben der Spüle, in die er Geschirrspülmittel gefüllt hatte. Es war ihm gelungen, auszurechnen, wie viele Tropfen er davon bei jedem Abwasch verbrauchen durfte, um genau ein Jahr damit auszukommen Ihr fehlten die Worte für diesen Irrsinn! Warum eigentlich? Beim Essen redete er über allerlei Gelesenes. Er schluckte alles, was er las als richtig und wahr, machte sich keine eigenen Gedanken, sondern plapperte eifrig nach. Als sie das entdeckte, musste sie ihre Meinung, er sei intelligent, revidieren. Als Registrator verstaubte er, wie die Akten, für deren ordnungsgemäße Unterbringung in hohen, langen Regalen er zu sorgen hatte. Seine Dummheit machte sie häufig zornig, und sie verlor mehr und mehr die Achtung vor ihm, schwieg jedoch. Warum eigentlich?