Unser aller Psychose

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Unser aller Psychose
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Unser aller Psychose

Gesine Palmer

Copyright: 2014©Gesine Palmer

ISBN 978-3-8442-8614-4

Published at epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Inhaltsverzeichnis:

I.Ungewöhnlich intensive Krankheitseinsicht
II. Die philosophische Karriere der „Borderline-Störung“
III. Das gespaltene Denken in der Philosophie und in der Psychoanalyse
IV.Das Verhältnis von kollektiven und individuellen Psychosen
V.Verwerfungen – zwischen kritischem Denken und „staatstragender“ Psychologie heute
VI.Beziehungswunder - therapeutisch, als-ob, wirklich – und das Recht
VII. Konsequenzen für den Begriff der Psychose und das Konstrukt der Borderline-Störung
VII. Reinheit als Gefährdung

IX. Ein kleines Bekenntnis zum Schluss

I. Ungewöhnlich intensive Krankheitseinsicht

Einmal war ich bei einer Kollegin, mit der ich nur oberflächlich befreundet zu sein glaubte, zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Das Geburtstagskind, eine hochbegabte Intellektuelle, die ich immer sehr bewundert habe, litt unter einer schweren Krebserkrankung und hatte, da sie fürchtete, dass es ihr letztes derartiges Fest sein würde, sehr viele Gäste eingeladen. Selbstverständlich waren unter den Gästen auch ihre beiden Schwestern. Die Gastgeberin, von den drei Schwestern die älteste, war mit ihrer Schönheit auf jenem unwirklich erscheinenden Höhepunkt angekommen, den man manchmal an Menschen sieht, die dem Tode tatsächlich sehr nahe sind und entsprechend den herabziehenden Banalitäten der anderen weit entrückt erscheinen. Ihre jüngste Schwester war von einer Schönheit wie ich sie auch von der älteren aus der Zeit unserer ersten Begegnungen in Erinnerung hatte: Irdisch, elegant, bodenständig, gepflegt, gekonnt inszeniert. Die mittlere Schwester hingegen hatte ihre mögliche Schönheit tendenziell durchgestrichen und arbeitete anscheinend daran, auch andere Wirklichkeiten und Möglichkeiten durchzustreichen, indem sie sich zum Beispiel vorstellte mit dem Satz: „Ich bin … und habe eine Psychose.“ Dabei sah sie mir in aller wünschenswerten Festigkeit und ein bisschen forschend in die Augen.

Das hat mich verblüfft. Bis dahin hatte ich gedacht, dass man zwar über Neurosen, Komplexe und Zwangsstörungen recht munter plaudern könne, möglicherweise auch über einstmals überstandene Psychosen – aber dass jemand dir ins Gesicht sagt: „Ich habe eine Psychose“, fand ich erst geradezu lustig, dann, als ich merkte, sie meinte es ernst und die anderen nahmen es auch ernst, geradezu mundtot machend erstaunlich.

Ich habe also nicht viel dazu gesagt, sondern haupt-sächlich zugehört, ihr und den anderen, und das lange. Immerhin war es ja möglich, dass ich etwas verwechselte – zwar steht im Lexikon von Laplanche und Pontalis ebenso wie in vielen anderen Manualen, dass in der Psychose der Realitätsverlust zuallererst die „Krankheitseinsicht“ affiziere. Die von ihr Betroffenen wissen also quasi bereits per definitionem nicht, dass sie krank sind, oder wollen es nicht wahrhaben. Es ist immer noch eine erstaunlich kleine Minderheit von Menschen, die Anstoß daran nimmt, dass „die fehlende Krankheitseinsicht“ zu einem Hebel für die Zwangsbehandlung von Menschen werden kann, denen man in manchen Fällen womöglich nicht einmal sagt, was man warum mit ihnen macht, „da mit ihnen ja sowieso nicht zu reden sei“. So etwas habe ich leider wirklich sehr oft gehört und später – auf verschiedenen Parties und in den sozialen Medien – recht lebhafte Diskussionen über gerade diesen Punkt geführt, der mit der Idee der Freiheit der Individuen nun einmal auf keine Weise vereinbar ist. Immerhin ist die „fehlende Krankheitseinsicht“ in den meisten Arbeiten zum Thema, die ich gesehen habe, kein ausschließliches und auch kein zwingend erforderliches Kriterium für eine Psychose, so wenig übrigens wie „andauernder Realitätsverlust“. Im Gegenteil, Freud selbst schreibt der gesunden Restpersönlichkeit die stärkste Kontinuität zu, wenn er sagt: „Das Problem der Psychose wäre einfach und durchsichtig, wenn die Ablösung des Ichs von der Realität restlos durchführbar wäre. Aber das scheint nur selten, vielleicht niemals vorzukommen. Selbst von Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Außenwelt so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia), erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, dass damals in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich vorüberziehen ließ.“1

Nimmt man aber das Kriterium des Realitätsverlusts mit „fehlender Krankheitseinsicht“ als einer Konsequenz ernst, müsste jemand, der dir ins Gesicht sagt, er leide unter einer Psychose, einen performativen Selbstwiderspruch aufführen. Die Gründe, aus denen er das täte, könnten sicher unterschiedlich sein: er könnte ein-fach einen Scherz machen wollen, er könnte Wind davon bekommen haben, dass er in einem solchen Ruf steht, und nun die vage Hoffnung hegen, diesen selben Wind der sozial immer katastrophalen Wirkung einer solchen Zuschreibung aus den Segeln zu nehmen, indem er ihr zuvor kommt, oder – wie ich es in diesem Fall für möglich halten wollte – die junge Frau hatte den (mehr oder weniger bewussten) Wunsch, der unwirklich wirkenden Wirklichkeit ihrer schönen und „todgeweihten“ Schwester eine eigene widersprüchliche Haltung zur Wirklichkeit entgegenzusetzen. In jedem Fall aber darf man sich nach so einer Selbstvorstellung auf einiges gefasst machen.

Die Gastgeberin sprach zu vorgerückter Stunde, als der große Andrang vorbei war und nur noch sehr wenige Menschen an ihrem Küchentisch saßen, in aller Gelassenheit vom wohl unvermeidbar bevorstehenden, aber so weit wie möglich hinauszuschiebenden Tod und von dem Leben, das sie ihm täglich abtrotzte: für ihre Tochter, für ihre Arbeit, für sich selbst. Die nach eigenen Aussagen psychotische Schwester blieb am Tisch sitzen und nahm – ebenfalls in aller Gelassenheit – an dem Gespräch teil, zu dem sie gelegentliche Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit der Schwestern, ein paar praktische Erwägungen die kleine Tochter der Kranken betreffend und andere vollständig plausible Gedanken beitrug. Umso mehr fragte ich mich, was an ihr um Himmels willen psychotisch sein sollte, und wieso sie sich mir gleich zu Beginn mit dieser Klassifizierung und Selbststigmatisierung vorgestellt hatte. Immerhin hatte sie nicht einmal gesagt, was ich in diesen (philosophisch hochgebildeten) Kreisen eher erwartet hätte: dass sie eine Borderline-Störung oder dergleichen habe.

II: Die philosophische Karriere der „Borderline-Störung“

Die Borderline-Störung ist ja sehr beliebt bei Philosophen, weil sie anscheinend eine der letzten Möglichkeiten ist, das Sein von etwas Unsichtbarem zu behaupten und mit einer gewissen Absolutheit zu vertreten, die dann auch an bestimmten Opfern zur für andere nachvollziehbaren Erscheinung und – im Falle nicht gelieferter Krankheitseinsicht – zur Vollstreckung kommen kann. Man hält die Existenz oder die „Wirklichkeit“ dieser Störung für so gesichert, dass man sie ohne weitere skeptische Erwägungen aufführt, um die „sozialdemokratische Theorie vom Ideal eines unendlichen Fortschritts“2 über das Problem der „Als-Ob-Lehre“ mit dem Beispiel des absolut misslingenden Lebens zu widerlegen: „In der Zwischenzeit ist das Als-ob in der Psychiatrie zu einer nosologischen Figur geworden, die äußerst verbreitet ist, fast ein Massenphänomen: Man nennt all jene Fälle Als-ob-Persönlichkeiten – sie heißen auch borderline –, die man weder der Psychose noch der Neurose deutlich zuordnen kann und deren Übel sozusagen darin besteht, überhaupt kein Übel zu haben. Sie leben, als ob sie normal wären – als ob das Reich der Normalität existieren würde, als gäbe es überhaupt ‚kein Problem’ (so lautet die törichte Formel, die sie bei jeder Gelegenheit zu wiederholen gelernt haben) –, und gerade dies stellt den Ursprung ihres Unbehagens dar, ihr ganz besonderes Gefühl von Leere.“3

Von diesem Satz ausgehend möchte ich das Problem des Begriffs der Psychose noch einmal aufrollen.4 Dabei ziele ich direkt auf die begrifflichen Voraussetzungen der Missbrauchbarkeit des Begriffs zur Unterwerfung der von seiner Zuschreibung Betroffenen unter Maßnahmen, deren erste und/ oder letzte die Auflösung der Handlungsfähigkeit innerhalb einer mehr oder weniger bürgerlichen Gesellschaft westlichen Stils ist. In vielen – keinesfalls nur aus der Realität autoritärer Staaten bekannten – derartigen Fällen treten an die Stelle der Selbstbestimmung Expertengutachten und -meinungen über einen zum Gegenstand solcher Begutachtungen reduzierten Menschen. Ist jemand einmal in eine solche Mühle geraten, umgeben sich auch die Meinungen Fernstehender regelmäßig an bestimmten Stellen mit dem Sicherheitsgestus von „Faktenwissen“. Wer – als selbst Hilfe Suchender oder als „wegen fehlender Krankheitseinsicht“ der Begutachtung und Behandlung unfreiwillig Unterstellter – unter den Begriff „Psychotiker“ gebracht worden ist, kann allenfalls dann auf „Rehabilitation“ hoffen, wenn er eine frühere Zeit des „Realitätsverlusts“ (in Wahrheit oft nur: der aufrecht-erhaltenen Nichtübereinstimmung seiner Wirklichkeitswahrnehmung mit derjenigen der Mehrheit der anderen) eingesteht und sich als neuerdings „realitätstüchtiger“ erweist, indem er schon mal eine „Krankheitseinsicht“ formuliert.5 Von dieser Art könnte die Situation der mittleren der drei Schwestern auf der genannten Party gewesen sein.

 

Was hat es aber mit dem Realitätsstatus solcher Ein-sichten, seien sie nun „Eigeneinsichten“ oder ungeprüfte Annahmen anderer über ein bestimmtes Menschenbild, einen bestimmten Menschentypus, einen bestimmten anderen Menschen oder einfach nur ein abstraktes Krankheitsbild auf sich? Und welche Idee von „Gesundheit“ oder „Normalzustand“ gehört als Gegenstück dazu, mit welchem Realitätsgehalt? Für die Bearbeitung der Problemstellung lohnt es sich, in die Zeit zurück zu gehen, in der die heute geltenden Kategorien entstanden. Denn den Pionieren der Psychoanalyse scheinen die Verstrickungen der Bereiche noch etwas schärfer bewusst gewesen zu sein – sei es auch nur, weil sie noch hoffen durften, sie mit den Mitteln der Analyse sämtlich entwirren zu können. Im gegenwärtigen Gebrauch psychoanalytischer Begriffe vermisst man die selbstkritische Reflexion, die den Pionieren eignete, zuweilen schmerzlich, wie sich gerade an diesem Beispiel aus Agambens Arbeit zeigen lässt.6

Wenn Agamben schreibt, dass die Borderline-Störung weder der Psychose noch der Neurose zuzuordnen sei, setzt er vermutlich Freuds Unterscheidung beider Formen der seelischen Erkrankung voraus. Wenn er schreibt, die Als-ob-Persönlichkeiten würden sich benehmen, „als ob sie normal wären“ und (also nicht etwa oder) „als ob das Reich der Normalität existieren würde,“ darf man annehmen, dass ihm Freuds eigene Kritik an der Idee eines „Reiches der Normalität“ und wahrscheinlich auch andere Kritiken an den zugrunde gelegten Grenzziehungen durchaus bewusst sind. Umso erstaunlicher bleibt, dass er die Definition der Borderline-Störung unangefochten in Geltung zu lassen scheint. Dadurch nämlich gerät ihm dieses winzige Beispiel zu einer – wissentlich oder unbewusst aufgeführten – Darstellung dessen, was er als ein Problem des homo sacer in seinem bekannten Werk gleichen Namens7 beklagt: Einerseits nimmt ein als zwischen nacktem Leben und Getötetwerden außerhalb einer schützenden Rechtsordnung vegetierender Mensch die Unsicherheiten der gesamten Ordnungen auf sich, und ein solches Verhältnis wäre mit Agamben natürlich kritisch gegen diese Ordnungen und ihre Wirklichkeitsanmaßung zu wenden – andererseits bleibt, sobald einmal die Psychologie ins Spiel gebracht wurde, alles Problematische auch dann an dem mit ihrer Hilfe Ausgegrenzten hängen, wenn die Ordnung, die das Problem des homo sacer zu verantworten hat, kritisiert wird.

Ich bin wie gesagt nicht sicher, ob Agamben sich in diesem ja einem anderen, späteren Werk entstammenden Textstück einer solchen Implikation bewusst ist – vermutlich nicht. Im übrigen kennt jeder, der eine Zeile mehr geschrieben hat, dieses Phänomen: irgendwann schreiben wir immer etwas, das unseren im Gros unserer Texte verfochtenen Auffassungen in einer Weise entgegen zu stehen scheint, auf die das Verb „Durchstreichen“ in seiner postmodernen Verwendung durchaus passen könnte. Ein Phänomen, das gerade Schriftsteller, die – kritisch oder affirmativ – die Psychoanalyse nicht ignorieren, nicht überraschen werden. Ich möchte mich trotzdem ein bisschen bei diesem speziellen Problem aufhalten, denn es passt auf kritische Weise zusammen mit einer neuen Strömung in der Verbindung von Psychoanalyse und Philosophie, die in mein längerfristiges Forschungsgebiet, die Arbeit mit dem Werk Franz Rosenzweigs, fällt.

Rosenzweig wird da gern mit seinem Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand8 als ein Kronzeuge gegen die Als-ob-Philosophie angeführt. In einer intellektuellen Großwetterlage, in der sich ein immer weitere Gebiete erfassender Relativismus und Konstruktivismus auf der einen und ein unbefragter Begriffsrealismus auf der anderen Seite zunehmend „heilloser“ (teils in denselben Sprechern) gegenüber stehen, spätestens aber seit der Aufnahme des Phänomens einer Rereligiosifizierung der Öffentlichkeit in den philosophischen Diskurs der Postmoderne, hat der Begriff des Glaubens das Gebiet der im engeren Sinne theologischen oder religionsphilosophischen Diskussion verlassen und ein ungeahnt großes Interesse auf sich ziehen können. Er wurde einer eingehenden Betrachtung von allen Seiten unterzogen – und ist so, gründlichst durchgeprüft, dann auch in der Psychoanalyse noch einmal neu erwogen worden. Dabei ist über den alten Begriff des „Urvertrauens“ tatsächlich ein christliches Theologumenon in die scheinbar naturwissenschaftlich argumentierende Psychologie eingewandert: Man geht nun davon aus, dass nur derjenige ein gutes und gesundes Leben führe, der etwas glaubt, der vertraut, der gegebenenfalls entgegen allem Faktenwissen den Menschen seiner näheren Umgebung gegenüber immer wieder etwas wagt, das dem christlichen „Sprung in den Glauben“ ziemlich ähnlich sieht. Mit der Säkularisierung von der affirmativen Behauptung, dass solch ein Glaube gut für das Seelenheil sei, zur scheinbar wissenschaftlich psychologischen Feststellung, dass das immer wieder neu ausgegebene Vertrauen ein Kennzeichen für die seelische Gesundheit der Individuen sei, ist auch die inquisitorische Kehrseite aller Glaubensgewissheit säkularisiert worden. In beiden Fällen ist Glaube bzw. Vertrauen so etwas wie eine „Bringschuld“ – die freilich regelmäßig erst dann als solche eingefordert wird, wenn jemand durch übertrieben zur Schau gestellten Unglauben bzw. neurotisches oder eben psychotisches Misstrauen aufgefallen ist.

Wie sehr sich dabei die unterschiedlichen Konzepte des Wirklichkeitsverständnisses selbst als ein Problem erweisen, wie sehr Theologisches und Psychologisches sich vermischen können, und wie sehr dabei auch ein interreligiöses Problem eine Rolle spielen kann, zeigen bereits in der Zeit der Entstehung der Psychoanalyse und der Ich-Du-Philosophie besonders anschaulich die herzzerreißenden Briefe, die Rosenzweig an seine Geliebte, Gritli Rosenstock-Huessy, schrieb.9 Am 24. Juni 1918 schreibt er über Eugen Rosenstock: „Sieh, das ist das was mich jetzt über das grauenhafte Gefühl, ihn eifersüchtig zu wissen, hinweggetragen hat: dass er da, in einer wüsten leiblich-geistigen Erschütterung seines Wesens, erst den Glauben an mich gelernt hat – über das Bewusstsein unsrer ‚planetarischen’ Zueinandergehörigkeit hinaus – den wirklichen Mensch-zu-Mensch-lichen Glauben an die Wirklichkeit meiner Existenz – so wie ichs bei ihm gelernt habe in jener gleichfalls entsetzlichen Durchschütterung jener Leipziger Nacht vor bald 5 Jahren, in und nach der ich mich schliesslich auch nicht grade nett zu ihm benommen habe. Es ist eben nichts schwerer als dies scheinbar Einfachste: einander gegenseitig unsre Wirklichkeit zu glauben. ‚Liebe deinen Nächsten – er ist wie du’, ja wirklich wie du, ganz wie du! Du hast die Wirklichkeit nicht gepachtet und die andern sind blosse Gestalten deiner ‚Weltanschauung’, blosse Filmgespenster an der weissen Wand, wie dus dir immer wieder gar so gern einreden möchtest; sondern wirklich wie du, Menschen wie du, - Mensch!“10

Die Konvertibilität von theologischen und psychologischen Momenten in diesem Abschnitt bleibt bedenkenswert. Bei Rosenzweig ist die für beide Gebiete neue Formel, die ihn unter den Bedingungen der postmodernen Philosophie und Psychoanalyse nun auch für die betreffende Literatur interessant macht, die berühmte A=A-Formel, mit der er, kurz gesagt, die Idee abweist, ein Mensch könne nach dem Muster A=B auf etwas „zurückgeführt“ oder reduziert werden, was nicht mehr er selbst wäre.11 Das Problem mit dem Glauben an die Wirklichkeit des anderen ist also nicht – wie es im humanistischen und religiösen Denken noch immer verbreitet ist und hier im dekontextualisierten Auszug aus einem vor Vollendung des Stern geschriebenen Brief missverstanden werden könnte – dass man nicht zwei „nur äußerlich“ verschiedene Personen in dasselbe „Menschenbild“ pressen könnte oder wollte. Das Problem ist vielmehr, dass eine Wirklichkeit des anderen als eines anderen erst dann richtig gesehen oder doch wenigstens „geglaubt“ wäre, wenn dieser nicht als „Beispiel für etwas“ oder als „Schauspieler in einem Welttheater“ oder als, wie Rosenzweig es an anderer Stelle ausdrückt, „ein Schrank voller Ansichten“12 oder eben als „Beispielfall einer Psychose“ angesehen wird, sondern als die singuläre Person mit Namen und Adresse, die er immer schon ist. Die Erkenntnis, dass er nicht „der Mensch mit seinem Palmenzweig“, sondern dieser bestimmte Mensch mit seinem Namen und seinem ganz eigenen Zugang zu Welt und Wirklichkeit ist, das erst wäre für Rosenzweig der richtige Glaube an die Wirklichkeit des je anderen Menschen. Dieser Gedanke verblieb verständlicherweise erst einmal im Gebiet von Theologie und Philosophie. Psychologie muss schließlich, solange sie sich als eine beschreibende und an der Bildung verallgemeinerbarer naturwissenschaftlich formulierter Sätze orientierte Wissenschaft versteht, genau das Gegenteil von Singularisierung betreiben: Sie muss verallgemeinern, abstrahieren, Fälle bilden, Gesetze formulieren und die einzelnen Menschen mit ihren Krankheitsgeschichten oder sonstigen Leiden den Bildern, die sie sich von Krankheiten gemacht hat, gleich machen. Die Behauptung „A ist ein Psychotiker“ entspricht dabei auch – vor aller forensischen Relevanz – formal schon dem juristischen Urteil: Durch diesen Satz werden die bisher getrennt nebeneinander bestehenden gesetzmäßigen Nosologien von Psychosen und die Beschreibung von Verhalten und Aussagen des jeweiligen Betroffenen einander gleichgemacht, analog dazu, wie im juristischen Geschehen Tatbestand und Sachverhalt einander gleichgemacht werden. Zuweilen werden durch solche Sätze allein, wenn sie nur von der richtigen Person ausgesprochen und über einen längeren Zeitraum weiter behauptet werden, tatsächlich Psychotiker gemacht. 13

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