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Die Kinder informieren

Ich bin allein.

Ich setze mich auf eine der wenigen kleinen Bänke in die Sonne und denke an die Kinder und dass sie uns erwarten. Ich weiß, dass ich sie jetzt anrufen und gleichzeitig das Telefonat möglichst kurz halten muss.

Und wenn dann der Akku leer ist und Franz mich nicht mehr erreicht? Aber er sagte ja, dass er noch ein Ladekabel hätte, und er weiß auch, dass ich hier sitze und nicht weg kann. Er kann mich also auf alle Fälle erreichen. Ich muss aber die Kinder anrufen!

Mir wird fast körperlich übel dabei und ich hoffe, dass die Verbindung hält.

Während ich die Nummer meiner Tochter wähle, habe ich das Gefühl, als würde mir jemand den Brustkorb abdrücken. Manuela ist wie ich Krankenschwester und ich weiß, dass sie sofort die gesamte Tragweite des Geschehens erfassen wird.

Ich höre ihre Stimme und fühle den Stich in meinem Herzen.

»Hallo, Maus, hier ist die Mama!«

Nach ihrem erfreuten »Hallo!« unterbreche ich sie und fahre fort: »Ich weiß nicht, wie lange der Akku reicht, hör bitte gut zu, es ist sehr wichtig! Der Papa hatte heute Morgen einen Herzinfarkt und liegt jetzt hier in Zypern im Krankenhaus!«

»Neeeiiin!« Ihr Schrei ist markerschütternd.

Ich fahre fort: »Er hatte einen Herzstillstand, wird jetzt beatmet und ist nicht bei Bewusstsein. Er liegt auf der Intensivstation!«

»Neeeiiin!! Neeeiin, Mama!!«

Ich muss unbeirrt weitersprechen, während ich sie weinen höre: »Ich darf nicht zu ihm und weiß jetzt auch noch nicht, wie es weitergehen wird oder wann wir heimkommen können. Bitte kümmert euch zu Hause um alles. Bitte haltet jetzt zusammen und kümmere dich auch um deine Brüder, damit sie zu Essen haben. Ich weiß nicht, ob und wann ich euch wieder erreiche!«

Weinend fleht sie: »Bitte, Mama, lass den Papa nicht alleine dort unten!«, woraufhin ich nur vollkommen verständnislos verspreche, dass ich das nie im Leben machen würde.

Schnell rede ich weiter: »Bitte ruf auch bei mir auf der Station an und sag Bescheid, dass ich nicht weiß, ob ich nächste Woche zum Dienst kommen kann!«

»Ja, ja, ich mach das schon, Mama!«, stammelt sie verzweifelt.

Dann bitte ich Manuela noch, meine Kollegin Dragana zu informieren, die mit Fernheilung vertraut ist, und ebenso meine beste Freundin Gerlinde, auch sie soll energetisch arbeiten.

»Ja, Mama, ja, ich kümmere mich schon um alles! Bitte, bitte melde dich bald wieder!«

»Ja, natürlich, Maus, so bald es mir möglich ist!«

Ich kann noch hinzufügen, dass mir ein Reiseleiter helfend zur Seite steht, dann beenden wir das Gespräch und ich fühle mich hundeelend.

Wie gerne würde ich meine Tochter jetzt in den Arm nehmen, sie festhalten und ihr sagen, dass ich für sie da bin und mich um alles kümmere. Aber es ist nicht möglich.

Eine endlose Wartezeit

Die Zeit scheint stillzustehen.

Immer wieder gehe ich ins Haus und setze mich vor die Intensivstation. Ich möchte Rupert so nah wie möglich sein.

Nichts geschieht.

Wieder im Eingangsbereich des Krankenhauses beobachte ich, wie eine junge Frau aus einem Raum geführt wird und sich setzt, während sie verzweifelt schluchzt. Ihre Qual äußert sich in lautem Schreien und Weinen und während sie dabei um sich schlägt, beneide ich sie insgeheim, da sie ihren Schmerz zulassen kann.

Ich fühle mich wie in Schockstarre.

Wo schlafe ich heute Nacht, wenn Franz kein Zimmer für mich findet?

Der ältere Mann am Empfang, der zu allen Leuten sehr freundlich ist, beobachtet mich. Ich gehe auf ihn zu und schildere ihm kurz meine Situation in der Hoffnung, einen Rat zu erhalten. Er bestätigt, dass man auf der Intensivstation niemanden besuchen darf, erklärt mir aber, dass man jeden Dienstag und Donnerstag zwischen 13 Uhr und 14 Uhr über einen kleinen Monitor die Angehörigen sehen dürfe.

Wir haben Mittwoch!

Ein Hoffnungsschimmer keimt auf! Ich würde auf alle Fälle morgen davon Gebrauch machen!

Anschließend erklärt er sich bereit, die umliegenden Hotels anzurufen, um nach einem Zimmer zu fragen, jedoch ohne Erfolg.

Ich hoffe also weiterhin auf Franz.

Wieder in der Sonne betrachte ich die Menschen, die das Krankenhaus verlassen, und überlege, ob ich vielleicht jemanden ansprechen soll, um zu fragen, ob ich bei ihnen auf der Couch übernachten dürfe. Es erscheint mir aber niemand geeignet.

Vielleicht darf ich auf der kleinen Holzbank schlafen im Eingangsbereich?

Nach einer weiteren Wartezeit mache ich mich auf die Suche nach einer Toilette und lasse mir schließlich den Weg dorthin erklären. An der vermuteten Türe angekommen, beschleichen mich plötzlich Zweifel. Die Aufschrift ist türkisch und Bilder für die Zuordnung Mann/Frau gibt es nicht. Ich will auf keinen Fall riskieren, in der Herrentoilette zu landen! Also warte ich und stelle mich dabei so hin, dass ich hineinsehen kann, wenn eine Tür sich öffnet.

Kurz darauf befinde ich mich in der Damentoilette mit zwei Waschbecken und drei WCs. Während ich meine Hände wasche, stehen zwei junge Frauen neben mir, von denen die eine der anderen dabei behilflich ist, eine Binde in die Unterhose einzulegen. Anschließend breitet sie ein Tuch auf den Boden, um sich hinzuknien und zu beten.

Inzwischen ist es Mittag geworden und ich kaufe mir am Kiosk um die Ecke eine Flasche Wasser. Mir ist bewusst, dass ich auf mich achten muss, um durchzuhalten.

Ich muss wieder nach Hause zu meinen Kindern – mit meinem Mann!

Ich habe ein Hotelzimmer

Franz ist zurückgekommen! Er hat unsere Koffer, die Gott sei Dank am Flughafen waren, abgeholt und für mich ein Hotelzimmer gefunden, nur einen kurzen Fußmarsch vom Krankenhaus entfernt. Es war das letzte verfügbare, mit Frühstück und bezahlbar.

Er hilft mir noch, die Koffer in mein Zimmer im ersten Stock zu tragen und erinnert mich daran, dass ich seine Nummer im Handy habe und ihn jederzeit anrufen könne.

Das geräumige Doppelzimmer hat ein Fenster direkt zur dicht befahrenen Hauptstraße, ist sehr hellhörig, aber sauber. Ich bin unendlich erleichtert, dass ich die Koffer und vor allem das Ladekabel wieder habe, das mir den Kontakt nach Hause zu den Kindern ermöglicht.

Ich habe solche Sehnsucht nach ihnen! Wie gerne hätte ich sie jetzt umarmt! Gleich nachdem Franz fort ist, rufe ich zu Hause an.

»Hallo, Maus (ich nenne meine Tochter Manuela häufig Maus), ich bin es, Mama! Ich hab jetzt ein Hotelzimmer! Die Koffer sowie das Ladekabel fürs Handy sind auch hier. Wir können also jederzeit telefonieren. Wie geht es euch?«

»Hallo, Mama!«

Ihre Erleichterung ist fast spürbar. Ebenso ihre Angst.

»Wir machen uns solche Sorgen um dich, weil du in dieser Situation jetzt ganz alleine bist!«

»Ihr braucht euch um mich keine Sorgen zu machen, ich komm schon zurecht!«, versuche ich sie zu beschwichtigen. »Und ansonsten kann ich ja noch Franz um Hilfe bitten. Aber ich mache mir große Sorgen um euch! Ihr seid zu Hause allein mit dieser Situation und ich kann euch nicht helfen! Es fühlt sich an, als ließe ich euch im Stich!«

»Nein, Mama, wir kommen schon klar! Ich habe Andi angerufen und gefragt, ob er und Andrea heute Abend zu uns kommen wollen. Dann sind wir nicht allein! Bei dir in der Arbeit wissen sie auch Bescheid und ebenso Gerlinde und Robert!«

Ich bin erleichtert, dass mein Bruder und meine Schwägerin heute Abend bei den Kindern sind und in unseren engsten Freunden Robert und Gerlinde haben sie eine große Stütze an ihrer Seite.

Auch meinen Schwager, Ruperts Bruder und gleichzeitig Chef, hatte Manuela angerufen. Dieser wollte es Mutter und Schwester beibringen.

»Manuela, weißt du, was ich im Krankenhaus erfahren habe? Jeden Dienstag und Donnerstag kann man am Nachmittag für jeweils eine Stunde die Angehörigen über einen Monitor sehen! Das werde ich gleich morgen machen!«

»Ja, Mama, dann siehst du Papa wenigstens, wenn du schon nicht zu ihm rein darfst!«

»Das stimmt, und ich habe das Gefühl, dass ich damit wenigstens irgendetwas für ihn tun kann und ihm zumindest auf diese Art nah sein kann!«

Manuela berichtet noch, dass am Vormittag ihre Schwiegermutter zu ihr kam und sie gemeinsam mit den zwei kleinen Kindern zu einer Kapelle in der Nähe spazierten, um eine Kerze anzuzünden.

Zum Abschluss des Gespräches habe ich noch eine große Bitte an sie: »Es gibt etwas, womit du mir sehr helfen könntest. Vielleicht ist es möglich, dass ihr mich ab 17 Uhr immer anruft? Vorher bin ich wahrscheinlich nie im Zimmer. Ich möchte bei Papa in der Nähe sein. Aber es wäre schön, am Abend mit jemandem telefonieren zu können, damit mir nicht die Decke auf den Kopf fällt und ich nicht in Grübeleien versinke!«

»Ja, natürlich machen wir das, und ich sag es auch Gerlinde!«

»Danke, und es ist beruhigend, zu wissen, dass ihr heute Abend nicht allein seid. Ich hab euch lieb!«

»Wir dich auch, Mama!«

Nach dem Telefonat gehe ich zum Fenster und betrachte den Ausblick. Es erscheint mir fast als Ironie des Schicksals, dass sich direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite die gleiche Bank befindet, die an unserem ersten Urlaubstag in Girne unsere EC-Karte eingezogen hatte und von der ich jetzt problemlos Geld abheben könnte.

 

Dankbarkeit breitet sich in mir aus und abermals dieses Gefühl, geführt zu sein. Ich verlasse das Hotel und will sehen, welche Geschäfte sich in der Nähe befinden. Da ich einen ungemein schlechten Orientierungssinn besitze, gehe ich nur einige hundert Meter die Hauptstraße entlang, um mich nicht auch noch zusätzlich zu verlaufen. In einem kleinen Laden möchte ich mir Wasser kaufen. Einen Kanister mit klarer Flüssigkeit kann ich nicht eindeutig identifizieren, da er nur auf türkisch beschriftet ist. Es könnte sich ebenso um destilliertes Wasser oder um eine andere Flüssigkeit handeln.

Mit der jungen Verkäuferin an der Kasse ist gestikulierend schnell geklärt, dass es tatsächlich Trinkwasser ist. Mit dem Kanister und zwei Bananen mache ich mich auf den Rückweg, lege die Vorräte im Hotelzimmer ab und spaziere dann in die andere Richtung die Straße entlang. Auf dem Rückweg werden meine Schritte immer langsamer und ich fühle, wie sich ein Eisenring um meine Brust legt.

Ich habe Angst vor meinem Zimmer! Dort bin ich ohne Ablenkung und fühle mich konfrontiert mit all meinen Ängsten, die wie schwarze Schatten in mir aufzusteigen beginnen.

Ich wandere wie ein Tiger im Käfig in meinem Zimmer umher, setze mich aufs Bett, gehe zum Fenster, zur Toilette, trinke etwas Wasser und wiederhole dieses Spiel immer wieder, um zu vermeiden, zur Ruhe zu kommen.

Was ist, wenn Rupert aufwacht und ich bin nicht da? Wird er dann denken, dass ich ihn allein zurückgelassen habe?! Er weiß ja nicht, dass ich nicht zu ihm rein darf! Was ist, wenn er aufwacht und Schmerzen hat? Er kann sich doch nicht mitteilen! Ich möchte an seinem Bett sitzen, seine Hand halten und auf dem Stuhl neben ihm wachen!

In meinem Kopf kreisen immer wieder dieselben Gedanken. Nur daran, dass er sterben könne, daran denke ich nicht, will ich nicht denken.

Ich zwinge mich, eine Banane zu essen, obwohl es mich davor ekelt. Aber ich muss durchhalten!

Das Telefon läutet. Es ist meine Kollegin Dragana.

»Hallo, Gerti, wie geht es dir?«

Beim Klang ihrer sanften Stimme lösen sich die ersten Tränen und ich berichte ihr weinend von meinen Ängsten um Rupert und die Kinder. Ich kann ihre Betroffenheit und ihr Mitgefühl deutlich spüren.

»Heute Vormittag habe ich, gleich nachdem die Kollegen mich angerufen hatten, mit Geistheilung begonnen! Anschließend bin ich zum Spätdienst gefahren. Im gesamten Team herrscht tiefe Betroffenheit und ratloses Schweigen. Die Stimmung ist echt gespenstisch. Wenn wir dir auf irgendeine Weise helfen können, lass es uns bitte wissen. Wir denken ständig an dich!«

»Danke, Dragana, dass du mit Geistheilung hilfst! Damit fühle ich mich nicht so hilflos, weil ich das Gefühl habe, dass etwas unternommen wird! Ich kann nicht sagen, wie es weitergehen wird und wann ich wieder zurückkomme!«

»Mach dir bitte wegen uns keinen Stress, jetzt zählt nur, dass du gut auf dich selbst achtest! Ich bin in Gedanken bei dir und drück dich! Ich melde mich wieder! Bis bald!«

Was brauche ICH?

Nach diesem Telefonat fühle ich mich etwas besser. Es tut gut, zu wissen, nicht allein zu sein. Immer noch unschlüssig, was ich jetzt tun soll, kommt mir der Gedanke einer Aufstellung in den Sinn. Vielleicht kann ich erkennen, wohin der Weg führt?

Ich lege jeweils ein T-Shirt von Rupert und mir auf den Fußboden und stelle mich zuerst auf meinen Platz. Hier sehe ich in weite Ferne und erblicke am Ende ein wunderschönes, strahlendes Licht!

Alles wird gut werden, denke ich erleichtert.

Als Stellvertreterin auf Ruperts Platz blicke ich nach schräg vorne und erkenne hier seinen Vater, der ein Jahr nach unserer Hochzeit starb. Neben ihm stehen zwei Kinder und ich weiß, dass es sich hierbei um seine beiden Brüder handelt, die jung verstorben sind. Dahinter nehme ich schemenhaft noch andere Personen wahr. Mein Blick auf Ruperts Position ist klar und es fühlt sich alles sehr ruhig und abgeschlossen an. Ich fühle jetzt aber gleichzeitig, wie meine Frau sich um meine Füße schlingt und mich festhalten will. Aber es ist bereits entschieden. Mein Weg ist klar.

Schnell räume ich die T-Shirts wieder in die Koffer.

Vielleicht habe ich mich geirrt, meine Wahrnehmung kann ja getrübt sein durch den Schock!

Nach einer erneuten Zimmerwanderung beschließe ich, ebenfalls mit Fernheilung zu arbeiten. Ich setze mich also aufs Bett und richte meine Aufmerksamkeit eine Weile auf meine Atmung, bevor ich beginne.

Es dauert nicht lange, da »höre« ich Rupert klar und in normaler Lautstärke direkt neben mir: »Hör auf, ich will das nicht!«

Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich das zu beherzigen habe und alles andere übergriffig wäre. Aber er ist mein Mann! Ich will ihn nicht verlieren! Es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Wider besseres Wissen fahre ich fort, nur um gleich darauf erneut seine Stimme zu »hören«, diesmal lauter und energischer: »Ich hab gesagt, du sollst aufhören! Ich will das nicht!«

Auffordernd setzt er hinzu: »Kümmere dich jetzt lieber um dich!«

Ich gebe auf, sitze nun einfach nur da und starre Löcher in die Luft. Wie gerne würde ich weinen können. Gleichzeitig fühle ich, dass mich dieser Schockzustand befähigt, durchzuhalten.

Was hat er gesagt? Ich soll mich jetzt um mich kümmern?

Mit geschlossenen Augen stelle ich mir die Frage: Was brauche ICH jetzt?

Die Antwort ist so klar wie einfach: ATMEN!

Langsam und gleichmäßig fließt der Atem, wieder und wieder. Nach ein paar Minuten frage ich erneut: Was brauche ich JETZT?

Die Antwort wiederholt sich ebenfalls: ATMEN!

Ich atme noch eine Weile ruhig weiter, dann geht mir die Geduld aus. Ich wandere lieber wieder umher und starre zwischendurch das Handy an, als ob ich von diesem eine Lösung ablesen könne.

Nichts geschieht.

Aus dem angrenzenden Zimmer kann ich laut den Fernseher hören, dazwischen knallen immer wieder irgendwelche Zimmertüren. Ich beschließe, zu Bett zu gehen, in der Hoffnung, etwas schlafen zu können, obwohl ich mich nicht müde fühle.

Die Nacht verläuft wie der Abend: Wandern, Trinken, Toilette, aus dem Fenster auf die Straße blicken, Licht an, Licht aus, das Handy betrachten.

Vielleicht werde ich angerufen und Rupert ist aufgewacht und ich darf doch zu ihm? Aber wenn er aufwacht und denkt, ich hätte ihn allein gelassen? Ich darf nicht daran denken, da werde ich verrückt! Ob die Kinder schlafen können? Ich möchte so gerne bei ihnen sein!

Ein Gedanke jagt den anderen, die ganze Nacht hindurch. Immer wieder dieselben Gedanken.

Erst gegen Morgen falle ich für eine Stunde in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf und stehe um 7 Uhr bereits wieder unter der Dusche.

Der nächste Morgen (Donnerstag)

In dem großen Frühstücksraum sind um diese Zeit nur wenige Gäste. Ich hole mir eine Tasse Kaffee und ein Glas Orangensaft und setze mich an einen kleinen Tisch. Während ich mich dazu zwinge, ein kleines Baguette zu essen, freue ich mich bereits, anschließend mit Manuela telefonieren zu können.

Sie erzählt mir kurz darauf, dass sie gestern Abend alle lange zusammengesessen seien. Sie selbst, unsere Söhne Bäda und Georg, unser Schwiegersohn Christoph sowie Andi und Andrea. Ich bin dankbar, dass mein Bruder und meine Schwägerin bei ihnen waren. Außerdem berichtet sie, dass Koni noch vorbeigekommen sei. Er zählt neben Gerlinde und Robert zu unseren engsten Freunden, und ich habe schon gemeinsam mit ihm die Schulbank gedrückt. Es tut gut, zu hören, dass die Freunde in dieser Situation für die Kinder da sind.

Manuela äußert noch ein Anliegen: »Mama, Martina hat angerufen und sich erkundigt, ob sie zu dir runterfliegen soll? Und Andi hat gestern Abend das gleiche gefragt. Bitte, Mama, nimm das Angebot an! Wir machen uns so große Sorgen um dich!«

»Das ist wirklich sehr nett von ihnen, aber damit ist mir nicht geholfen, Maus. Ich würde jederzeit mit Papas Schwester oder meinem Bruder das Hotelbett teilen, aber ich müsste dann noch zusätzlich auf jemanden Rücksicht nehmen. Allein kann ich mich im Zimmer ungezwungen bewegen, ich kann die ganze Nacht das Licht anlassen, herumspazieren oder wonach mir auch immer ist. Wenn jemand bei mir wäre, würde ich zwangsläufig auf den anderen achten!«

»Aber die würden das doch verstehen! Bitte, Mama, lass zu, dass jemand zu dir kommt!«

»Nein, Manuela, das geht nicht. Ihr braucht euch wirklich um mich keine Sorgen zu machen, ich komm schon klar, das geht schon! Ich bin bestimmt im Schock, aber dadurch kann ich wunderbar funktionieren. Das beinhaltet aber auch, dass ich auf mich achte. Deshalb kann ich die Angebote, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, nicht annehmen! Bitte macht euch keine Sorgen um mich, notfalls könnte ich ja auch noch Franz, den Reiseleiter, anrufen.«

»Ja, gut«, erwidert sie kleinlaut und obwohl ich weiß, dass sie nicht überzeugt ist, kann ich in diesem Punkt nicht anders handeln, so leid sie mir auch tut.

Auf meine Nachfrage, wie die Buben es aufgenommen hätten, erklärt sie mir, dass Bäda (er mag seinen Schreibnamen Peter nicht besonders) es von ihr erfahren habe, nachdem er von derArbeit zu Hause war. Und sie hat ihm erzählt, wovon sie selbst überzeugt war: »Wenn Papa wieder daheim ist, wird er einige Bypässe bekommen und anschließend auf Reha gehen.« Etwas anderes kam für sie zu keinem Zeitpunkt in Betracht.

Ihren jüngsten Bruder Georg fand sie weinend vor, als sie ihm die Nachricht vom Herzinfarkt überbringen wollte. Er hatte es soeben von Bäda erfahren und Manuela konnte ihn nur noch tröstend in die Arme nehmen und halten.

Der Schmerz meiner Kinder treibt mir die Tränen in die Augen und gleichzeitig erfüllt mich tiefe Dankbarkeit, dass zwischen ihnen so viel Liebe und Zusammenhalt besteht.

»Manuela, ich mache mich jetzt auf den Weg ins Krankenhaus, um zu erfahren, wie es Papa geht. Sobald ich zurück bin, melde ich mich wieder!«

»Ja, mach das, Mama!«

»Bis bald! Ich hab euch lieb!«

»Wir dich auch, Mama!«

Gespräch mit der Ärztin

Kurz darauf befinde ich mich wieder vor der Intensivstation und warte hier mit einigen anderen Leuten. Hin und wieder wird einer von ihnen aufgerufen und darf eintreten. Ich spreche die junge Frau, die die Wartenden aufruft, an und bekomme kopfschüttelnd die Information, dass sie leider kein Englisch spreche.

Wieder erhalte ich überraschend Hilfe. Einer der wartenden Männer steht auf, tritt zu uns und bietet seine Hilfe zur Übersetzung an. Auf meine Bitte hin wird die behandelnde Ärztin herausgeholt und ich darf endlich erfahren, wie es Rupert geht:

Die Ärztin teilt mir mit, dass er nach wie vor nicht bei Bewusstsein und weiterhin beatmet sei. Lediglich der Herzschlag habe sich etwas stabilisiert.

Ein Hoffnungsschimmer keimt in mir auf. Es wird noch besser: Sollte sich das Herz weiterhin stabilisieren, so könne man Anfang nächster Woche eventuell an einen Rücktransport mit einem Ambulanzflugzeug denken. Mein Herz macht einen Freudensprung!

Ergänzend fügt sie hinzu, dass ich, falls Rupert beim Rückflug noch beatmet sein sollte, nicht mit derselben Maschine zurückfliegen dürfe. Ich bräuchte dann einen extra Flug.

Auf meine Nachfrage, wer für die Organisation des Ambulanzflugzeuges zuständig sei, erklärt sie mir, dass ich mich darum selbst kümmern müsse und teilt mir mit, dass ich die Adressen hierzu im Konsulat erhalten würde.

Ich bedanke mich und habe es plötzlich sehr eilig.

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