50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Für den Kaiser wird dieses Problem immer mehr zum persönlichen Konflikt. Als geistiger Mensch, als Liberaler und Demokrat, als sentimentale, wenn auch etwas habsburgisch kühle Natur, muß ihm die Sklaverei ein Greuel sein. Deutlich zeigt er seinen Widerwillen gegen alle, die mit diesem schandbaren Geschäft zu tun haben, indem er sich hartnäckig weigert, irgendeinem und auch dem reichsten Manne, der sein Vermögen durch Sklavenhandel gemacht hat, ein Adelsprädikat oder eine Auszeichnung zu verleihen. Es ist dem kultivierten Manne unermeßlich peinlich, bei seinen Besuchen in Europa vor den großen Vertretern der Humanität, deren Freundschaft er sucht, vor einem Pasteur, einem Charcot, einem Lamartine, einem Victor Hugo, einem Wagner, einem Nietzsche als verantwortlicher Herrscher des einzigen Weltreiches zu gelten, das noch die Sklavenpeitsche und die Brandmarkung duldet. Aber lange muß er diesen seinen persönlichen Widerwillen im Hintergrund halten und jede Einmischung vermeiden gemäß dem Ratschlag seines besten, seines weisesten Staatsmannes Rio Branco, der ihn noch vom Totenbette aus beschwört: Não perturbem a marcha do elemento servil, der also auch dieses Problem auf brasilianische, will sagen unradikale Art gelöst sehen wollte. Die wirtschaftlichen Folgen sind im voraus so unberechenbar, der leidenschaftliche Gegensatz zwischen Abolitionisten und Sklavenhaltern so unerbittlich, daß der Thron sich gleichsam nur in einer Schaukelstellung zwischen beiden Parteien erhalten kann, weil das Überneigen zur einen oder zur anderen Gruppe seinen Sturz bedeuten könnte. Bis 1884, über vierzig Jahre, hält der Kaiser darum seine – privat wohlbekannte – Meinung möglichst zurück. Aber allmählich wächst seine Ungeduld, sich von dem Odium zu befreien; ein vorläufiges Gesetz 1885 ordnet die Befreiung aller Sklaven an, soweit sie das sechzigste Jahr überschritten haben – wieder ist ein kräftiger Ruck nach vorwärts getan. Noch immer aber ist der Zeitraum, der automatisch zur Befreiung der letzten Sklaven in Brasilien führte, länger als jener, der einem alten und schon kranken Manne zugemessen scheint, der diese Stunde noch selbst erleben will; so stützt Pedro II. immer sichtlicher im Einverständnis mit seiner Tochter, Dona Isabel, der Thronerbin, die Partei der Abolitionisten. Am 13. Mai 1888 wird endlich das langersehnte Gesetz beschlossen, das eindeutig und ohne Aufschub die sofortige Freilassung sämtlicher Sklaven in Brasilien dekretiert.

Beinahe hätte der alte Kaiser die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches nie erfahren. In den Tagen, wo der Jubel über die Nachricht die Straßen Brasiliens füllt, liegt Dom Pedro II. lebensgefährlich krank in einem Hotel in Mailand. Im April hatte er noch mit seinem gewohnten Lerneifer die Museen und die Gelehrten Italiens besucht; er war in Pompeji und in Capri gewesen, in Florenz und Bologna, er war in Venedig in der Accademia prüfend von Bild zu Bild gegangen und hatte abends im Theater Eleonora Duse gehört und Carlos Gomes, den brasilianischen Komponisten, empfangen. Dann wirft ihn eine schwere Pleuritis auf das Krankenbett. Charcot aus Paris und drei andere Ärzte behandeln ihn, aber der Zustand des Kaisers verschlimmert sich derart, daß er bereits mit den Sterbesakramenten versehen wird. Besser als alle Medizinen und Mittel wirkt auf ihn die Nachricht von der Aufhebung der Sklaverei. Das Telegramm gibt ihm neue Kräfte, und in Aix-les-Bains und Cannes erholt er sich so weit, daß er nach einigen Monaten wieder daran denken kann, in die Heimat zurückzukehren.

Der Empfang des alten weißbärtigen Monarchen, der seit fünfzig Jahren friedlich und würdig das Land beherrscht hat, ist in Rio enthusiastisch. Aber der Lärm einer einzelnen Straße spricht nie die Stimmung eines ganzen Volkes aus. In Wirklichkeit hat die Entscheidung in der Sklavenfrage noch mehr Unruhe geschaffen als vordem der Parteienkampf, denn noch schwerer als die Warnenden vorausgesehen, setzt die wirtschaftliche Krise ein. Viele ehemalige Sklaven laufen vom Lande in die Städte, die landwirtschaftlichen Unternehmen, denen plötzlich ihre main d'œuvre entzogen ist, geraten in Schwierigkeit, und die früheren Eigentümer fühlen sich beraubt, weil ihnen keine oder keine zureichenden Entschädigungen für ihren Kapitalverlust an schwarzem Elfenbein gezahlt werden. Die Politiker, die den scharfen Wind spüren, gebärden sich aufgeregt, weil sie nicht wissen, wohin den Mantel hängen, und die republikanischen Tendenzen, die in Brasilien seit der Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas immer unter der Asche glommen, bekommen unerwartete Nahrung durch diese scharfe Zugluft. Die Bewegung richtet sich nicht eigentlich gegen den Kaiser selbst, dessen guten Willen, dessen Rechtschaffenheit und ehrlich demokratische Gesinnung selbst die prinzipiellsten Republikaner achten müssen. Aber Dom Pedro II. fehlt eine und zwar die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung einer Dynastie: der nun Fünfundsechzigjährige hat keinen Sohn, keinen männlichen Thronerben. Zwei Söhne sind in frühem Alter gestorben, die Erbtochter ist mit einem Prinzen d'Eu aus dem Hause Orléans verheiratet, und das brasilianische Nationalbewußtsein ist schon so stark und zugleich empfindlich geworden, daß es einen Prinzgemahl aus fremdem Geblüt nicht mehr anerkennen will. Der eigentliche Staatsstreich geht von der Armee aus, einer ganz kleinen Gruppe, und könnte bei energischer Gegenwehr wahrscheinlich leicht niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser selbst, alt und krank und eigentlich des Regierens längst müde, empfängt in Petrópolis die Nachricht ohne rechten Willen zum Widerstand; nichts kann seiner konzilianten Natur verhaßter sein als ein Bürgerkrieg. Da weder er noch sein Schwiegersohn rasche Entschlossenheit zeigen, zerfließt und zerrinnt über Nacht die monarchistische Partei. Fast lautlos fällt die Kaiserkrone zu Boden, auch diesmal, da sie verlorengeht, ebensowenig von Blut befleckt, als da sie gewonnen wurde; der eigentliche moralische Sieger ist wiederum die brasilianische Konzilianz. Ohne jede Gehässigkeit legt die neue Regierung dem alten Manne nahe, der fünfzig Jahre ein wohlgesinnter Herrscher des Landes gewesen, friedlich sich zu entfernen und in Europa zu sterben. Und nobel und still, ohne ein Wort der Anklage verläßt am 17. November 1889 Dom Pedro II. wie einst sein Vater und sein Großvater für immer den amerikanischen Kontinent, der für Könige keinen Raum hat.

Seitdem sind die »Estados Unidos do Brasil« eine föderalistische Republik und sind es geblieben. Aber diese Umwandlung aus einem Kaiserreich in eine Republik hat sich ebenso ohne innere Erschütterungen vollzogen wie vordem der Übergang vom Königreich zum Kaiserreich und in unseren Tagen die Übernahme der Präsidentschaft durch Getúlio Vargas; nie sind es die äußeren Staatsformen, die den Geist und die Haltung eines Volkes bestimmen, sondern immer nur der eingeborene Charakter der Nation, der im letzten Sinne sein Bild der Geschichte aufprägt. In all seinen verschiedenen Formen hat sich Brasilien im tiefsten nicht verändert, es hat sich nur entwickelt zu immer stärkerer und selbstbewußterer nationaler Persönlichkeit. Sowohl in seiner inneren wie in seiner äußeren Politik hat es unerschütterlich, weil die Seele von Millionen und Millionen spiegelnd, dieselbe Methode angewendet: friedliche Schlichtung aller Konflikte durch gegenseitige Konzilianz. Niemals hat es mit dem eigenen Aufbau den Aufbau der Welt gestört und immer nur gefördert, seit mehr als hundert Jahren seine Grenzen nicht erweitert und mit allen seinen Nachbarn sich gütlich verständigt; es hat einzig seine immer wachsenden Kräfte nach innen gewandt; seine Bevölkerungszahl und Lebenshaltung ständig gemehrt und besonders in den letzten zehn Jahren durch straffere Organisation sich dem Rhythmus der Zeit angepaßt. Verschwenderisch von der Natur bedacht mit Raum und unendlichem Reichtum innerhalb dieses Raumes, gesegnet mit Schönheit und allen erdenkbaren potentiellen Kräften, hat es noch immer die alte Aufgabe seines Anfangs: Menschen aus überfüllten Zonen einzupflanzen in seine unerschöpfliche Erde und, Altes mit Neuem verbindend, eine neue Zivilisation zu erschaffen. Noch immer nach vierhundertundvierzig Jahren ist seine Entwicklung erst im Anschwung, und keine Phantasie reicht aus, zu erdenken, was dieses Land, diese Welt der nächsten Generation bedeuten wird. Wer immer Brasiliens Heute schildert, beschreibt unbewußt schon sein Gestern. Nur wer seine Vergangenheit ins Auge faßt, sieht seinen wahren Sinn.

Kapitel Vier­und­zwanzig

Wirtschaft

Brasilien, dem Raum nach weitaus der größte Staat Südamerikas, eine weitere Fläche umfassend, als selbst die Vereinigten Staaten Nordamerikas umspannen, ist heute eine der wichtigsten, wenn nicht vielleicht die wichtigste Zukunftsreserve unserer Welt. Hier ist unermeßlicher Reichtum an Scholle, die noch nie Anbau und Pflug gekannt, und unter ihr Erze, Mineralien und Bodenschätze, die nicht im entferntesten ausgenützt und kaum annähernd entdeckt sind. Hier besteht Siedlungsmöglichkeit in einem Umfang, den ein Phantast vielleicht richtiger errechnet als der übliche Statistiker: schon die Verschiedenheit der Kalkulationen, ob dies Land, das heute etwa fünfzig Millionen zählt, fünfhundert, siebenhundert oder neunhundert bei normaler Dichtigkeit beherbergen könnte, gibt einen Anhaltspunkt für die fachmäßigen Schätzungen, was Brasilien in einem Jahrhundert, vielleicht schon in Jahrzehnten in unserem Kosmos sein könnte. Und man unterschreibt gerne die knappe Formulierung von James Bryce: »Kein großes Land der Welt, das einer europäischen Rasse gehört, besitzt ähnliche Fülle der Erde für die Entwicklung menschlichen Daseins und einer schöpferischen Industrie.«

Von Gestalt eine riesige Harfe, kurioserweise mit ihrer Grenzlinie das Profil ganz Südamerikas genau nachzeichnend, ist dieses Land alles zugleich, Bergland, Küstenland, Flachland, Waldland, Flußland und fruchtbar in fast allen seinen Gliederungen. Sein Klima vereint alle Übergänge vom Tropischen zum Subtropischen und Europäischen, seine Luft ist hier feucht und dort trocken, hier ozeanisch und dort alpin, es wechseln regenarme mit regenreichen Zonen und damit die Möglichkeiten für die verschiedenartigste Vegetation. Brasilien besitzt oder speist die mächtigsten Ströme der Welt, den Amazonas und den La Plata, seine Gebirge gemahnen in manchen Partien an die Alpen und steigen mit dem höchsten Gipfel, dem Itatiaia, dreitausend Meter hoch zu Schneezonen auf. Seine Wasserfälle, der Iguassú und der Sete Quedas übertreffen den ungleich berühmteren Niagara an Gewalt und zählen zu den größten hydraulischen Elektrizitätsreserven der Welt, seine Städte wie Rio de Janeiro und São Paulo können schon heute, noch inmitten eines phantastischen Wachstums, mit den europäischen an Luxus und Schönheit rivalisieren. Alle Formen der Landschaft wechseln vor dem immer wieder faszinierten Blick, und die Vielfalt ihrer Fauna und Flora gewährt seit Jahrhunderten den Forschern noch immer neue Überraschungen: allein das Verzeichnis seiner Vogelarten füllt ganze Bände von Katalogen, und jede neue Expedition bringt hunderte neuer Spezies heim. Was aber unterhalb dieser Erde an latenten Möglichkeiten, an Mineralien und Erzen noch verborgen liegt, wird erst die Zukunft enthüllen. Gewiß ist nur, daß die größten Eisenvorräte der Welt hier unangetastet warten, allein schon ausreichend, um unseren ganzen Erdball für Jahrhunderte zu versorgen, und daß im geologischen Bilde kaum ein Erz-, ein Stein-, eine Pflanzenart diesem gewaltigen Imperium fehlt. Soviel in den letzten Jahren an erster ordnender Übersicht auch geleistet worden ist, die eigentliche Feststellung und Bewertung steht hier noch im Anfang und sogar vor dem entscheidenden Beginn. So muß man es immer wieder sagen: dies ungeheure Land bedeutet für unsere überdrängte, vielfach schon ermüdete, ausgeschöpfte Erde dank einer Unverbrauchtheit und Weiträumigkeit heute eine der größten Hoffnungen und vielleicht sogar die berechtigste Hoffnung unserer Welt.

 

Der erste Eindruck von diesem Lande ist der einer verwirrenden Üppigkeit. Alles ist vehement, die Sonne, das Licht, die Farben. Das Blau des Himmels schmettert hier stärker, das Grün ist tief und satt, die Erde dicht und rot, kein Maler kann auf seiner Palette glühendere, blendendere, schillerndere Farbtöne finden als hier die Vögel auf ihrem Gefieder, die Schmetterlinge auf ihren Schwingen tragen. Immer erreicht die Natur ihren Superlativ, die Gewitter, die mit krachenden Blitzen den Himmel aufreißen, die Regen, die wie Wildbäche niederstürzen, die Vegetation, die in ein paar Monaten zu gewaltigen grünen Wildnissen wuchert. Aber auch die Erde, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden unberührt und zur vollen Leistung noch nicht herausgefordert, gibt hier auf jeden Anruf Antwort mit einer fast unglaubhaften Kraft. Erinnert man sich an die Mühe, die Qual, die Geschicklichkeit, die Zähigkeit, mit der man in Europa einem Garten oder einem Feld Blumen oder Früchte entringen muß, so begegnet man hier im Gegenteil einer Natur, die man eher bändigen muß, nicht zu wild, nicht zu ungestüm sich zu entfalten. Hier muß man Wachstum nicht fördern, sondern bekämpfen, damit es mit seinem barbarisch wilden Wuchern nicht die menschliche Pflanzung überflute. Allein und ohne Pflege schießen hier die Bäume und Sträucher auf, die einem Großteil der Bevölkerung die Nahrung frei in die Hand reichen, die Banane, der Mango, der Mandioca, die Ananas. Und jede neue Pflanze, jede Frucht, von einem anderen Erdteile gebracht, gewöhnt und verwöhnt sich sofort in diesem jungfräulichen Humus.

Diese Impetuosität und Bereitwilligkeit, diese – fast möchte man sagen: Generosität, mit der dieses Land auf jedes Experiment, das man mit ihm versucht, Antwort gibt, ist ihm paradoxerweise sogar in seiner Wirtschaftsgeschichte mehrmals zur Gefahr geworden; in regelmäßiger Folge entstanden hier Krisen der Überproduktion einzig darum, weil alles zu rasch und zu leicht ging, immer mußte – die Versenkung der Kaffeesäcke ins Meer im zwanzigsten Jahrhundert ist das letzte Beispiel – Brasilien, sobald es etwas zu produzieren begann, sich selbst zurückdämmen, nicht zu viel zu produzieren. Deshalb ist die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens voll überraschender Umstellungen und vielleicht sogar dramatischer als seine politische Geschichte. Denn in der Regel ist der wirtschaftliche Charakter eines Landes von Anfang an eindeutig bestimmt, jedes spielt gleichsam auf einem einzigen Instrument, und der Rhythmus verändert sich nicht wesentlich in den Jahrhunderten. Das eine Land ist ein Gartenland, das andere gewinnt seinen Reichtum aus Holz oder Erz, das dritte von Viehzucht. Die Linie der Produktion mag in einzelnen Aufstiegen und Abstiegen schwanken, aber die Richtung bleibt im allgemeinen dieselbe. Brasilien dagegen ist ein Land der ständigen Wandlungen und brüsken Umstellungen. Eigentlich hat jedes Jahrhundert hier ein anderes wirtschaftliches Charakteristikum gezeitigt, und in dem dramatischen Ablauf hat jeder Akt seinen Namen, Gold oder Zucker oder Kaffee oder Gummi oder Holz. In jedem Jahrhundert, eigentlich jedem halben Jahrhundert, offenbarte Brasilien bisher von seinem Reichtum immer eine andere und neue Überraschung.

Im allerersten Anfang, im sechzehnten Jahrhundert, war es das Holz, das pau-brasil, das dem Lande seine wirtschaftliche Marke und sogar ein für allemal seinen Namen gab. Als die ersten Boote an dieser Küste anlegten, waren die Europäer zunächst arg enttäuscht. Sie fanden nichts zu holen und zu rauben, Brasilien hatte nichts für sie als seine Natur, die sich den Menschen noch nicht unterworfen hatte. Nem oiro, nem prata, diese knappe Formel des ersten Berichts genügte, um den kommerziellen Wert des neuen Landes zunächst auf Null herabzusetzen. Man konnte den Eingeborenen, die neugierig auf die fremden, bekleideten, weißen Wesen blickten, nichts nehmen, weil sie nichts besaßen außer ihrer eigenen Haut und ihrem eigenen Haar. Nicht wie in Peru oder in Mexiko hatte hier eine nationale Kultur vorgearbeitet, die Fasern zu Stoffen verwebte, Erze aus den Tiefen der Erde holte und zu Schmuck und Waffen verhämmerte. Die nackten Kannibalen der Terra de Santa Cruz hatten noch nicht einmal die primitivste Stufe der Zivilisation erreicht, sie wußten weder die Erde zu bebauen, noch Vieh zu züchten, noch Hütten zu bauen. Sie griffen und schlangen einzig, was sie auf den Bäumen und im Wasser fanden und zogen weiter, sobald sie einen Bezirk abgegrast hatten. Wer aber nichts hat, dem kann man nichts nehmen; enttäuscht kehrten die Matrosen auf ihre Schiffe zurück aus einem Land, von dem nichts mitzunehmen lohnt, denn selbst diese Menschen dort erwiesen sich nicht als brauchbare Ware. Fing man sie als Sklaven ein und trieb man sie zur Arbeit an, so verbrauchten sie sich unter der Peitsche gewöhnlich nach ein paar Wochen, legten sich hin und starben.

Das einzige, was diese ersten Schiffe heimbrachten, waren Kuriositäten, ein paar hurtige Äffchen und jene wunderbar vielfarbigen Papageien, wie sie die vornehmen Damen Europas gern als Luxustiere in Käfigen hielten, und um derentwillen man das Land manchmal auch Terra dos Papagaios nannte. Erst bei der zweiten Reise entdeckte man ein Fertigprodukt, das allenfalls einen Handel mit diesem entlegenen Lande lohnen konnte, das Brasilholz. Dieses Holz, Brasil genannt von brasa, schwelen oder glühen, weil es in seiner Schnittfläche rötlich leuchtet, war eigentlich als Holz nicht so verwertbar wie als Färbemittel, aber als solches, da man andere Farbstoffe nicht kannte, wie jede exotische Ware im Handel sehr gesucht.

Einen regulären Export des pau-brasil selbst zu übernehmen, ist die portugiesische Regierung zu beschäftigt. Für sie, die ihre ganze militärische und maritime Kraft einsetzt, die Schatzkammern der indischen Fürsten aufzusprengen, bedeutet das Holzmonopol ein zu kleines und andererseits mühsames Geschäft. Der Umschlag ist zwar lohnend. Für ein Quintal dieses Färbholzes, das sich in Lissabon mit allen Frachtspesen und Risiken auf einen halben Dukaten stellt, kann man in Frankreich oder auf den holländischen Märkten zweieinhalb oder drei Dukaten lösen. Aber die Krone braucht für ihre größeren und großartigen Unternehmungen rasch ausmünzbaren Gewinn. So zieht sie es vor, das Holzmonopol an einen der reichsten unter den cristãos novos, an Fernando de Noronha gegen Barzahlung zu verpachten, der dann gemeinsam mit seinen geflüchteten Glaubensbrüdern in Pernambuco den Handel organisiert. Aber auch unter seiner Führung bleibt es ein Handel in kleinen Dimensionen und kann keinesfalls einer werden, der zu geregelter Kolonisierung und zur Etablierung großer Faktoreien anreizen könnte. Ein bloßer Färbstoff reicht nicht aus, um eine Besiedlung dieses immerhin weitabgelegenen Landes in Schwung zu bringen. Soll sich Brasilien als produzierender Faktor im Weltmarkt entwickeln, so muß man zuvor ein neues und ergiebigeres Absatzprodukt finden und der kurze Zyklus des pau-brasil von einem geschwinder und gewichtiger umlaufenden abgelöst werden.

Ein solches Produkt besitzt nun Brasilien – oder vielmehr jener schmale Streifen an der Küste, der bisher erforscht ist zur Zeit seiner Entdeckung noch nicht. Um fruchtbar zu werden für die europäische Wirtschaft, muß dieses Land zuerst von Europa befruchtet werden. Alles was in seinen üppigen Zonen wachsen und gedeihen soll an Pflanzen und Produkten, muß erst umgesiedelt und angesiedelt werden, und dazu bedarf es überdies noch eines besonderen Düngers, des Menschen. Von der ersten Lebensstunde an ergibt sich für Brasilien der Mensch, der Kolonist, der Siedler in der Form des belebenden, befruchtenden Elements als die notwendigste aller Notwendigkeiten. Was Brasilien hervorbringen soll, muß ihm von Europa gebracht und gelehrt werden. Aber alles, was ihm dieses leihen wird an Pflanzen und Menschenkräften, gibt die neue Erde dann mit tausendfacher Verzinsung dem alten Erdteil zurück. Indes also die überseeischen Länder des Orients, in denen aufgestapelte Schätze zu holen, zu rauben, zu greifen sind, für Portugal zunächst ein Eroberungsproblem darstellen, erweist sich dieses noch völlig unorganisierte Land von Anfang an als ein Kolonisationsproblem, ein Investitionsproblem.

Als ersten Versuch einer solchen Überpflanzung und Anpflanzung eines in Brasilien nicht heimischen Produkts bringen die Portugiesen von Cap Verde das Zuckerrohr herüber. Und gleich dieses früheste Experiment gelingt vollkommen – immer vollbringt die Natur in Brasilien in überschwenglicher Weise jede ihr zugemutete Leistung. Das Zuckerrohr bedeutet ein absolut ideales Produktionsobjekt für ein noch unorganisiertes Land, weil seine Pflanzung und Ausbeutung nur die allergeringste manuelle Arbeit erfordert und keinerlei Vorbildung. Kaum in die Erde gepflanzt, schießt hier die Staude, ohne weitere Wartung zu verlangen, doppel-daumendick empor, und dies sechsmal und zehnmal im Jahr; mit den einfachsten, leichtesten Methoden entpreßt man ihr den kostbaren Saft. Es genügt, das Zuckerrohr zwischen zwei Holzrollen zu legen; zwei Sklaven – da ein Ochse zu teuer wäre – umwandern in einer Art Tretmühle den waagerechten Schwengel. Ihr unermüdlicher Rundgang preßt immer wieder und wieder die Rollen zusammen, bis die letzte Unze Sirup dem Stengel entrungen ist. Dieser weiße, klebrige Ausfluß wird dann verkocht und zu Klumpen und Zuckerhüten geformt, die ausgelaugten Stengel dienen dann noch als Maische, die verbrannten Blätter als Asche der Landwirtschaft. Diese erste und primitivste Fabrikationsmethode verbessert sich in vielfachen Versuchen; bald werden die engenhos, solche kleine Fabriken, an Wasserläufen angelegt, um statt der menschlichen Kraft die hydraulische zu verwerten. Aber in allen Formen bleibt die Zuckergewinnung ein Prozeß bequemster Art und überdies der denkbar ergiebigste. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit verwandelt sich der weiße Zucker, den die schwarzen Sklaven aus den braunen Stangen mit den grünen Blättern pressen, in gelbes, schweres Gold. Denn in Europa ist, seit es auf den Kreuzzügen die erste Berührung mit der verfeinerten und raffinierten orientalischen Welt erfahren hat, eine ungestüme Gier einerseits nach scharfen, stimulierenden Spezereien und anderseits nach Süßigkeiten und Leckereien ausgebrochen. Reich geworden durch den aufblühenden Handel, will es nicht weiterhin seine spartanisch karge, monotone Kost und sucht nach feinerer und nuancierterer Gaumenlust. Die matte Süßung, die man bisher einzig dem Honig entlockte, genügt ihm nicht mehr. Seit es einmal von diesem neuen starken Süßstoff, dem Zucker, gekostet, verlangt es mit kindischem Starrsinn immer mehr von dieser lukullischen Speise. Und da es noch drei Jahrhunderte dauern wird, ehe Europa – zur Zeit der Kontinentalsperre – sich Zucker aus der heimischen Rübe gewinnen wird, muß er vorerst als Luxusprodukt von exotischen Zonen geholt werden, und die Kaufleute, einer immer steigenden Kundschaft gewiß, zahlen für diese neue Ware jeden Preis. Mit einem Schlage wird Brasilien nun auf dem Weltmarkt wichtig. Da die Spesen dieser primitiven Fabrikation beinahe gleich Null sind, denn die Erde kostet nichts, die Pflanze kostet nichts, und die Sklaven in den engenhos sind die billigsten aller Arbeitstiere, schießen die Gewinne wild empor und der Reichtum, den Brasilien – oder vielmehr Portugal – aus diesen Betrieben zieht, wird unermeßlich. Von Woche zu Woche erweitert und steigert sich die Produktion; durch drei Jahrhunderte ist Brasiliens Vormacht- und Monopolstellung auf diesem Gebiet nicht mehr zu erschüttern; was für gigantische Ziffern der Export schließlich erreicht, zeigt das eine Beispiel, daß in manchen Jahren Brasilien Zucker im Verkaufswert von drei Millionen englischer Pfund exportiert, eine Summe, die höher war als der gleichzeitige Gesamtexport Englands. Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnen die Gewinne abzusinken, weil Brasilien sich durch Überproduktion den Kaufpreis seines weißen Goldes verdirbt. Wie alle anderen Kolonialprodukte, der Pfeffer, der Tee, der Gummi, wird, was zuerst durch Seltenheit eine Kostbarkeit gewesen, infolge der Überproduktion zur Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit. Die Einführung des Rübenzuckers gibt der großen Konjunktur dann den letzten Stoß, aber der »Zyklus« des Zuckers hat seine ökonomische Aufgabe in der Wirtschaftsgeschichte Brasiliens glänzend erfüllt und der Niedergang des Hauptprodukts kommt schon zu spät, um die bereits auf andere Produkte umgestellte Wirtschaft zu gefährden. An dem einen schwachen Rohr, das die ersten Schiffe von der alten Welt herüberbrachten, ist Brasilien aufrecht durch drei Jahrhunderte geschritten und genügend erstarkt, um ohne diese Stützung seinen Weg weiter zu gehen.

 

Ein zweites Exportprodukt schließt sich bald an, in gewissem Sinne ähnlich dem andern, weil gleichfalls einem neuen europäischen Laster dienend: der Tabak. Schon Columbus hatte die ersten Eingeborenen rauchend gefunden, und andere Seefahrer haben die sonderbare Gewohnheit mit nach der Heimat hinübergebracht. Den Europäern scheint dies Kauen und Schmauchen und Schnupfen eines braunen Krautes zunächst eine barbarische Sitte. Man verhöhnt und verachtet die Matrosen, wenn sie zwischen den Zähnen diese dicken Rollen schmatzen und den braunen schmutzigen Saft wegspucken. Man verlacht als Narren die wenigen Amateure, die mit ihren Tonpfeifen die Luft verqualmen, und in guter Gesellschaft, vor allem bei Hofe, herrscht strenges Verbot. Es geschieht darum nicht aus Lust oder modischer Nachäfferei, daß sich Europa plötzlich an den Tabak gewöhnt, sondern aus Angst. In den Schreckenstagen, da die großen Seuchen in rascher Folge die verschiedensten Städte Europas heimsuchen und entvölkern, glauben viele – da sie von Bazillen noch nichts ahnen – sich am besten vor Ansteckung zu schützen, indem sie fortwährend schmauchen und durch ein Gift das andere paralysieren. Aber wie dann die Seuche und mit ihr die Angst vorüber ist, haben sich die Menschen ähnlich wie beim Cognac, der vorher nur als Heilmittel dosiert wurde – an den Tabak durch das ständige Rauchen bereits gewöhnt und wollen ihn ebensowenig entbehren wie Essen und Trinken. Von Jahr zu Jahr begehrt Europa größere Massen, und auch für diesen Großbedarf etabliert sich Brasilien als Großlieferant, denn der Tabak wächst hier wild, und seinen Blättern wird die beste Qualität zuerkannt. Ebenso wie sein Bruder, der Zucker, erfordert der Tabak keine umständliche Pflege und Wartung. Man braucht nur die Blätter von dem ohne weitere Bemühungen aufwachsenden Strauch abzureißen, zu trocknen, zu rollen, und das hier fast Wertlose wandert als wertvolle Ware zum Schiff.

Zucker, Tabak und in geringerem Umfang noch Schokolade, das dritte begehrliche Objekt neumodischer europäischer Geschmacklüsternheit, bleiben die drei Hauptpfeiler, die Brasiliens Wirtschaft bis ins achtzehnte Jahrhundert stützen. Ihnen gesellt sich, sobald Europa gelernt hat, Baumwolle zu verspinnen, noch der Coton, der algodão, als vierter Bruder hinzu. Die Baumwolle ist von Anfang an in Brasilien heimisch, sie wächst wild in den Wäldern des Amazonas und in anderen Provinzen, aber im Gegensatz zu den höher kultivierten Azteken und Peruanern wußten die Eingeborenen noch nicht die Fäden zu verspinnen; einzig im Kriege verwerteten sie die Flocken auf ihren Pfeilen, um damit fremde Niederlassungen in Brand zu setzen, und im Gebiet des Maranhão diente die Baumwolle kurioserweise sogar als Zahlungsmittel. Noch weniger weiß Europa zunächst mit der Baumwolle zu beginnen; obwohl schon Columbus einige Flocken dieser weißen Wolle nach Spanien mitbringt, wird niemand ihrer zukünftigen Bedeutung als Textilstoff gewahr. In Brasilien dagegen wissen die Jesuiten, offenbar durch Berichte aus Mexiko belehrt, schon 1549 um seine Eignung und unterweisen die Eingeborenen, ihn in ihren aldeias zu verspinnen. Wirklicher Großhandelsartikel kann der Coton aber erst durch die Erfindung der Spinnmaschinen werden (1770–1773), mit denen die sogenannte »industrielle Revolution« einsetzt. Vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an benötigt insbesondere England, das über eine Million Textilarbeiter beschäftigt, für seine Weltproduktion immer größere Quantitäten und zahlt immer bessere Preise. So wird Baumwolle, die früher wild in den Wäldern wuchs, jetzt in Brasilien systematisch angepflanzt; schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert stellt der Export an algodão beinahe die Hälfte der brasilianischen Gesamtausfuhr dar und damit die Rettung des Handelsequilibriums; der scharfe Preisrückgang des Zuckers wird durch diese gigantische Ausfuhr in einer jener raschen und glücklichen Umstellungen ausgeglichen, die für die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens so typisch sind.

Alle diese Rohstoffe, Zucker, Tabak, Kakao und Baumwolle, werden nur roh geliefert und im Lande selbst nicht weiterverarbeitet; es wird noch langer Entwicklung bedürfen, ehe Brasilien genug frei und genug reif sein wird für eine organisierte und mechanisierte Veredlungsindustrie. Seine ganze Leistung beschränkt sich auf Pflanzung, Pflückung und Verschiffung der sogenannten »Kolonialwaren«, also auf die primitiven Prozesse, die zu ihrer Verrichtung nichts anderes benötigen als Hände. Allerdings viele und billige Hände. Menschen sind darum der dringlichste Rohstoff, den dies an allen Stoffen der Natur überreiche Land in immer größeren Quantitäten einführen muß; es ist vielleicht die merkwürdigste Eigenheit seiner Wirtschaftsgeschichte, daß es Brasilien zu jeder Zeit an der jeweils besten motorischen Kraft fehlen wird und es sie importieren muß – in den früheren Jahrhunderten den menschlichen Arm, im neunzehnten die Kohle und im zwanzigsten das Benzin. Daß es in jenen ersten Jahren von dieser motorischen Kraft die billigste sucht, ist selbstverständlich. Zuerst bemühen sich die Kolonisten, die Eingeborenen zu versklaven; da diese sich infolge ihrer zarteren Konstitution als leistungsschwach erweisen und überdies die Jesuiten immer wieder auf die königlichen Edikte zum Schutz der eingeborenen Bevölkerung hinweisen, setzt von 1549 an ein regelrechter Import von »schwarzem Elfenbein« aus Afrika ein. InTumbeiros – so genannt, weil auf diesen grauenhaften Schiffen immer die Hälfte der zusammengepferchten und geketteten Neger bei der Überfahrt zugrunde geht – werden Monat für Monat und bald Woche für Woche neue Ladungen dieses lebendigen Rohstoffs herübergebracht; in drei Jahrhunderten führt Brasilien mindestens drei Millionen Sklaven von den zehn Millionen ein, die der neue Weltteil aus dem geplünderten und entvölkerten Afrika bezieht; die genauen Zahlen (manche schätzen den Import sogar auf viereinhalb Millionen) werden nie mehr ganz zu rekonstruieren sein, da Rui Barbosa, um von der jungen Republik von 1890 diese Schmach der Vergangenheit zu tilgen, um einer edel-gemeinten Geste willen Auftrag gab, die Archivdokumente der Sklaveneinfuhr zu verbrennen.