50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Vierzehn

Ich habe vorhin erzählt, daß ich den Freund unter das im Regen aufzischende, milchig getrübte Wasser getaucht habe, damit er das Bewußtsein ganz verliere und uns das Rettungswerk ermögliche. Aber ich selbst verliere jetzt das Bewußtsein. Unwiderstehlich regt sich etwas im geheimsten Innern meines Lebens. Ich kann nichts tun, als alles über mich herabströmen zu lassen. Mit Beklommenheit, mit immer schwereren, heißeren, süßeren Atemzügen gebe ich mich ihm hin. Wie kann ich es nennen? Es ist das erstemal und doch so vertraut, ich kann es nicht beschreiben. Man erlebt diesen Augenblick nicht ein zweites Mal. Ich kenne den Weg ganz genau, den unser Wagen jetzt nimmt. Ich habe oft hier kutschiert. Kein Baum ist mir fremd. Ich erkenne jeden unter dem Wasserfall des herabstürzenden Wolkenbruchs. Jede Krümmung des Weges ist mir bewußt, ja überklar, trotz der Blendung des immer tosender herabgehenden Gewitters, dessen Blitze sich gelichtet haben und ganz zartblau, dabei aber unerträglich hell geworden sind. Ich messe, indem ich mein neues Glück zugleich mit meinem Atem anhalte, den Abstand bis zu unserem Schulhause, das sich in seinem tiefen, stumpfen Rot hoch über die wassertriefende italienische Allee erhebt. Klar kann ich dies alles sehen; was ich aber nicht beschreiben kann, ist die alles überwallende, alles bis in die tiefste, geheimste Herzkammer erfüllende Glückseligkeit. Worte geben es nicht, ich kann heute kaum nachempfinden, was ich damals gelebt habe. Solcher Tage sind nicht viele. Es war etwas, das mir noch nie beschieden war.

Äußerlich ein sonderbarer, vielleicht für einen Fremden wenig erfreulicher Anblick. Ein magerer, scheinbar knochenloser Jüngling in grünweißem Trikot, mit sonderbar gescheckten, sehr reichen Haaren, die nackte Haut an Gesicht und Händen buttercremefarben und voll von Sommersprossen, die langen sehnigen Arme um den Hals seines Freundes geschlungen; seine Hände nehmen das Pochen der Pulse dort wahr und zählen es, als wären es Lebensjahre, die ich alle noch zu erleben hätte. Zwei Proben auf T. habe ich an diesem Tage bestanden.

So erscheine ich vielleicht, zitternd vor Erregung, den Mund stumm zusammengepreßt, einem Fremden, etwa dem Prinzen Piggy. Er ist von uns, Titurel und mir, auf den Vordersitz der Kutsche gedrängt. Er starrt uns beide unverschämt mit seinen marmeladefarbenen Augen an. Er ist vollständig angekleidet bis auf Turnschuhe und Mütze. Mich trifft von überallher der Regenguß, der heiße schwere Gewitterwind. Aber in mir geht etwas Betäubendes, etwas Überwältigendes unwiderruflich vor. Mein unbeschreibliches Glücksempfinden macht mich still, bedrückt mich tief.

So fahren wir wortlos gegen die Pappeln hin, die sich im Gewitterwinde beugen, durch die bekannte Lindenallee, deren Bäume sich ins Unabsehbare vermehrt zu haben scheinen. Der Regen, der von den honigfarben überblühten Zweigen herab mir in den Mund und ins Gesicht strömt, schmeckt nach Lindenblütenduft, nach kühlen, blumenhaften Essenzen.

Mein Freund ist ganz erwacht und erwärmt. Er richtet sich auf, blickt umher und schlingt des Meisters Mantel enger um sich.

Teil Zwei

Inhalt

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel Fünfzehn

In diesem Augenblick des unvergeßbaren Junitages, des 19. Juni 1913, ist der Höhepunkt meines überstarken Lebensgefühls überschritten, und es beginnt, was natürlich und doch so schwer zu ertragen ist, der Übergang in die Zeiten des T. Ich wehre mich dagegen. Ich kämpfe. Aber sagte ich es nicht schon bei der Bändigung des Cyrus, daß er kämpft, macht ihn wehrlos? Kann das sein? Doch ist es so.

Nun bin ich mit meinem Freunde Titurel nach Onderkuhle zurückgekehrt. Daß ich ihn gerettet habe, dankt mir niemand. Die offenbare Ungerechtigkeit stimmt mich aber mutig. Bloß gegen Güte, Milde und Weichheit bin ich wehrlos. Aber weder der Abbé noch der Direktor haben in dem Ganzen etwas anderes gesehen als Fahrlässigkeit. Daß sich Prinz Piggy über den kühlen Empfang freut, kann mich nicht wundern. Bloß einer hält zu mir, der Meister, der mir ein Zeichen mit seiner Hand gibt, die mit einem edlen grünen Ring geschmückt ist.

Aber was sind sie mir alle, der Abbé und Piggy, der Direktor und der Meister? Ich werde sie übersehen und mich stumm lächelnd von ihnen abwenden. Aber etwas anderes trifft mich schmerzlich. Ich kann es nicht übersehen, ich kann mich nicht stumm lächelnd davon abwenden, wenn Titurel einen kaum unterdrückten Widerstand gegen mich entfaltet. Er wird nichts Ungebührliches sagen, dazu hat er sich, dank seiner Erziehung, zu sehr in der Gewalt. Aber so sehr hat er sich doch nicht in der Gewalt, daß er mir Gerechtigkeit angedeihen lassen könnte. Aber ist es denn Gerechtigkeit, wonach ich mich sehne? Wahre Zuneigung fordert man nicht und gibt sie auch nicht gegen Lohn und gute Gründe. Lieben und Geliebtwerden ist entweder selbstverständlich oder unmöglich. Wozu Worte? Er sagt mir nicht den Grund, ich frage ihn nicht. Hat man mit einem Menschen, einem einzigen Freund, einem unersetzbaren, ich fühle es jetzt, Jahre um Jahre zusammen gelebt, dann versteht man einander ohne Worte, oder man versteht sich trotz aller Erklärungen gar nicht.

Was bleibt mir? Meine Zukunft? Neue Fragen, unlösbare. Meine Eltern, mein Vater, meine Mutter? Ich möchte mit ihnen sprechen, sie grüßen, sie mir nahe wissen, ihnen schreiben, aber es gelingt mir nicht. Ich schreibe Anrede auf Anrede, eine immer zärtlicher als die andere, keine aber empfinde ich. Selbst das einfache, schmucklose »geliebte Eltern« erscheint mir unwahr. Als ich von meinem Brief aufsehe, erblicke ich Titurel und freue mich, daß er lebt. Titurel fühlt das und gönnt mir auch diesen Augenblick nicht mehr. Er wendet sich ab, sieht mich aber schief von unten an und flüstert: »Wehe dir, wenn du mich noch einmal anfaßt!« – »Ich dich anfassen?« frage ich. »Wer hat dir erlaubt, mich unter Wasser zu drücken? Du willst dich zeigen. Bin ich ein dummes Pferd, an dem du deine Künste versuchen kannst?« Ich gehe ihm nach, fasse ihn zwischen meine Arme, ziehe ihn an den Schultern noch einmal über die Schwelle und sehe ihn an. Nie hatte ich daran gedacht, ihn zu demütigen. Über andere zu herrschen war mir gleichgültig. Der einzige Wunsch in mir war, das ewige Gefühl des T. zu besiegen und mich durch das Bestehen von Proben frei zu machen von der Angst vor dem T. Ich habe diesen jungen Menschen liebgehabt, nicht wie man eine Frau, nicht wie man seine Eltern liebt, sondern wie man sich selbst liebt und seine eigene Jugend. Ich hätte gern in seiner Nähe gewohnt, ihn bei mir gewußt. Nun werden wir uns nicht mehr kennen. Wenn er jetzt mit hängenden Schultern, mit abweisend vorgestrecktem Kinn das Zimmer verläßt, erinnert er nicht mehr an den einzigen Freund meiner Jugend, er ist mein Schulkamerad in der adligen Schule, nicht näher, nicht fremder als andere.

Obwohl ich vor dem Einschlafen begreife, daß dies ein endgültiger Abschied ist, erwache ich doch kaum eine Stunde später von einem leisen Geräusch an der Tür und rede mir ein, daß nur Titurel sich so bei mir anmelden könne, daß nur er so schnell zu mir zurückkehre. Dabei weiß ich, daß seine Weise zu klopfen eine andere ist, zwei kurze, scharfe Schläge. Auch müßte ich mir sagen, daß er, mein Freund von einst, auch ohne Klopfen durch die kleine Verbindungstür eintreten würde, die vom Schlafsaal der »Fünften« in mein Zimmer führt, und nicht durch den Korridor, wo um diese Zeit stets eine Ordonnanz schläft. Zum Glück beherrsche ich mich in meiner trügerischen Vorfreude wenigstens so weit, daß ich die im Dunkeln des Zimmers näher kommende Gestalt nicht mit Titurel anspreche. Es ist nicht Titurel und wird es niemals sein. Ich schweige. Auch der Meister schweigt. Dann setzt er sich auf den Rand meines Bettes und beginnt zu sprechen. Ich erfahre jetzt, wer erwartet wird, der Herzog von Ondermark, ein berühmter Forschungsreisender und ehemaliger Schüler unserer Anstalt. »Und wohin Sie?« fragt er unvermittelt. Ich schweige. »Als ich hierherkam, lieber Herr von Orlamünde, dachte ich nur an ein Jahr. Fragen Sie mich nicht, wie viele Jahre es geworden sind. Ich dachte daran, mir ein kleines Vermögen zu machen, gleichgültig wie. Einen Hausstand zu gründen, gleichgültig wo. Nichts davon ist zur rechten Zeit gelungen. Ich habe hier viele Menschen kennengelernt im Laufe der Jahre. Alle sechs Jahre erneuert sich alles. Neue Gesichter, neue Stimmen, alte Namen. Mein ist nichts. Ich bin grau geworden.« Da ich schweige, geht er zum Fenster. Draußen regnet es mit unverminderter Heftigkeit. Das Wasser rinnt wie in starken Säulen, die sich fast gar nicht in Tropfen auflösen, von dem niedrigen Himmel nieder, der sonderbarerweise heller gefärbt ist. Er wiederholt noch vom Fenster: »Wohin mit Ihnen?« – »Wohin sollte ich sonst?« sage ich. »Hier fühle ich mich wohl.« – »Wohl?« sagt er. »Lebt ein Orlamünde um seiner selbst willen? Sie werden hier viele Bekannte haben und keine Freunde, Sie werden hier Befehle erteilen und doch nicht kommandieren. Sie werden … « Plötzlich sagt er mit einer veränderten Stimme: »Sie, ein Orlamünde, wollen doch nicht werden wie ich?« Draußen hat sich der Himmel stärker erhellt, und ich kann seine auseinanderweichenden, scharfen, steingrauen Augen sehen mit einem Ausdruck der Selbstvernichtung, der stärker ist als seine Liebe zu mir. Er, sonst immer Herrscher, hat sich tief gebeugt. Jetzt streicht er mit seinen Händen die Haare ganz straff an die ausgebuchteten Schläfen, so daß sie im matten Licht grau und schwarz durcheinander aufleuchten, dazu noch das Blitzgefunkel seiner schönen Steine. Er neigt den Kopf noch einmal von einer Seite zur andern, als wollte er sagen: »Niemand werde wie ich«… Dann öffnet er den Mund, zeigt seine schmalen weißen Zähne, die in dem alten Munde erhalten geblieben sind. Er tut, als wollte er mich schnell unterbrechen, wenn ich begänne zu sprechen.

 

Auch ich könnte sprechen. Es gibt viel, was ich niemand gesagt habe und was man nur einem Vater sagen kann. Einem leiblichen oder einem angenommenen. Aber ich kann es nicht.

Ich habe am nächsten Morgen mit den andern in der Anstaltskapelle gebetet. Mein Platz ist nicht mehr unter den Schülern, zu den Lehrern darf ich mich auch nicht zählen, so zwänge ich mich zwischen beide Gruppen. Die Angestellten, die Professoren, der Rendant, der Arzt, die Präfekten und auch die Gutsbeamten, die wir sonst selten zu Gesicht bekommen, sind alle in der viel zu engen Kapelle versammelt, bloß einer fehlt, der sonst sein Auge überall hat, der Meister, der unserem Glauben nicht angehört. Bei der Predigt wiederholt der Abbé immer von neuem die Bezeichnungen Vater und Sohn. Mich trifft das Wort Vater, wie der Hufschlag eines Pferdes einen auf dem Boden Liegenden trifft. Erwartet, unabwendbar, dumpf und blind. Er, der feine, aber in seiner Art starrsinnige und kalte Priester, der oben auf seiner Kanzel, bis über die Hände in seine seidenen Meßgewänder gehüllt, diese Worte ausspricht, weiß nicht, wer zu seinen Füßen liegt. Es ist nicht der seit Wochen vergeblich erwartete Brief meines Vaters, der mir Tränen abnötigen könnte, wenn mir Tränen nicht unbekannt wären. Denn solange ich mich erinnern kann, habe ich noch nie geweint. Es ist nicht das Gefühl der Verlassenheit. Es ist etwas, das man nicht richtig zu Ende denken kann, geschweige denn aussprechen, man kann sich nicht sammeln, kann sich nicht besinnen auf sich selbst. Wohl redet man sich zu, den kurzen Augenblick zu nützen, in welchem die steingrauen Augen des Meisters anderswo sind, in dieser seltenen Stunde sich Trost zu holen, sich innerlich zu ermannen und endlich zu einem Entschluß zu kommen. Sollte es keine Waffe geben, den Kampf zwischen Leben und T. in mir zu beenden? Kann ich mir nirgendwo Rat holen? Wenn mein leiblicher Vater fern ist und stumm bleibt, wenn mein angenommener Vater nur an Erfolg und Tätigkeit, Streben und Ehrgeiz denkt – sollte es keinen geben, dem ich mich anvertrauen könnte? Dem himmlischen Vater? Aber was sagt mir das Wort »himmlischer Vater«? »Vater« alles – »himmlischer« nichts. Ist, was mich bedrückt, so selten? Hat es noch keinen anderen betroffen? Leichter vertraut man sich einem Bruder an, dem gleichalterigen, als einem alles wissenden, aber um so fremderen Vater. Aber kann der Vater mich kennen, kann ich ihn erkennen? Ich hatte einen gleichalterigen, einen alles verstehenden Freund. Jetzt ist Titurel mit dem Prinzen Piggy ein Herz und eine Seele. Selbst während des Gottesdienstes stecken sie ihre Köpfe zusammen, keiner von ihnen betet, und ich sehe, daß das Gebetbuch, in das sie eifrig hineinzusehen scheinen, einen anderen Druck hat als das unsere. Es wird ein verbotenes Buch sein, Casanovas Memoiren oder Dumas' Monte Christo, das sie jetzt mit den Augen verschlingen. Es ist bitter, sehen zu müssen, wie Titurel, früher mit dem Lesen einer Seite fertig als der Prinz, auf jenen wartet und sich dabei mit dem sprechenden Ausdruck seiner Augen, der mir so bekannt ist, an die wulstigen, blassen Lippen und die huschenden Blicke der marmeladefarbigen Augen des Prinzen heftet. So entwürdigen sie die Stunde Gottes. Aber bin ich besser? Wo sind meine Gedanken? Nicht beim Vater, nur bei mir.

Zwar habe ich am Abend des Sonntags endlich eine Stelle im Evangelium gefunden, die wenigstens mein Beten rechtfertigt und die es mir leichter machen müßte, mich Gott so anzuvertrauen, wie es einem gläubigen Katholiken geboten ist. Es ist die Fortsetzung der Bergpredigt im Evangelium Matthäus, sechstes Kapitel. Es beginnt gut und mit väterlicher Stimme (nicht himmlisch väterlich, sondern irdisch väterlich – wie ein Vater, der Onderkuhle kennt und mich): »Und wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird's dir vergelten öffentlich. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.« Darauf folgt das Vaterunser im Evangelium.

Ich bin nach dem Abendbrot, von allen allein gelassen, unter höflichem Grüßen in mein leeres, bläulichdunkles Zimmer zurückgekehrt. So liege ich auf den Knien wie ein hingeworfenes Bündel alter Kleider, in das sich die Katze oft verkriecht, wo sie sich anschmiegt und sich wohl fühlt. Aber ich habe nicht die Kraft, ein Ende zu machen. Ich schlafe in dieser unnatürlichen Stellung ein und erwache am Morgen in derselben und gehe an meine Arbeit, eine Schwimmlektion an Stelle des Kapitäns zu erteilen. Meine Lippen beten noch immer weiter, als hoffte ich, noch auf der Treppe, zwischen den Zöglingen in den Frühstückssaal hinabeilend, den Sinn dieses Gebetes zu erfassen. Ist es ein Gebet erst für Männer? Ist es eines für schwer arbeitende Menschen? Ist es für Dienende? Haben meine Vorfahren nicht gebetet? Das einzige, was ich verstehe, ist das Wort vom täglichen Brote. Nicht für mich muß ich das beten, sondern für meinen Vater. Es ist alles stumm um ihn, kein Brief von ihm liegt auf dem Frühstückstische.

Lebt er in Not? In Sorgen? Schuld hat er nicht, an keinem Menschen, eher haben sie schuld an ihm. Führe uns nicht in Versuchung! So tief bin ich versunken in meinen Entscheidungskampf zwischen T. und Leben, daß mich nichts in Versuchung führen kann. Einzig das Übel verstehe ich, einzig um die Befreiung davon müßte ich beten, wenn ich glauben könnte.

Reich, Kraft, Herrlichkeit, daran teilzunehmen, auch nur in Gedanken, welche Hoffnung! Aber ich kann nichts hoffen. Man kann Großes nicht leisten ohne Hoffnung, man kann nicht einmal im Mittelmäßigen bestehen, wenn man überall die Fingerabdrücke des T. sieht und sich ihnen nicht entziehen kann. Ewigkeit! Dem Kosmos gegenüber sich zu behaupten, dem Unendlichen sich als mutiger Aristokrat zu stellen, ich begreife, wie erlösend das wäre, befreiend, ein reines Glück. Aber gerade, daß ich es weiß und daß ich darum kämpfe, macht mich schwach statt stark. Ich habe Angst vor dem T. Ich gehe den falschen Gang wie Cyrus in der grünen Reitschule. Warum faßt mich niemand und führt mich, besser, als ich mich selbst führen könnte?

Kapitel Sechzehn

In den guten Tagen des Lebensübermutes ist es mir eine besondere Freude, vom höchsten Sprungbrett, das sich etwa sieben Meter über dem Wasserspiegel der Schwimmschule erhebt, herabzuspringen. Kerzengerade oder in einer geschmeidigen Kurve im Hechtsprung. Hauptsache ist, während der wenigen Sekunden des Falles das Gleichgewicht zu bewahren. Sich zu beherrschen, während man fällt. Die Höhe ist fast gleichgültig. Eine andere Kunst ist das Springen mit Schneeschuhen, das wir hier nicht üben können, da in Onderkuhle weder Schnee jemals genügend hoch liegt, noch ein genügend steiler Abhang existiert. Wenn es dem Skimeister von Norwegen gelingt, von einer haushohen Schneeschanze herabzuspringen, so kann ein guter Schwimmer oder Taucher auch seine zehn und selbst zwanzig Meter in aller Sicherheit hinabspringen und während dieser Sekunden alles Glück des Durchmessens leerer Räume erleben.

Nicht viel anders kann es sein, sich im T. in den leeren, bodenlosen, vor uns sich auftuenden Weltenraum hinabzustürzen oder sich in ihm zu erheben, denn dies ist das gleiche.

Fürchterlich aber ist es, wenn einer wie ich zu diesem Sprung in Angst ansetzt, wenn ihm die Beine den Dienst versagen, wenn er wie ein regennasses, nicht flügges Vögelchen trotz seines geringen Gewichtes schwer vom Zweig wie ein Stück Blei niedersinkt. Unten aber langt der feige Springer unter wütenden Schmerzen an und empfängt von der Wasserfläche eine gewaltige Tracht Prügel. Das darf nicht sein. Was der Mut nicht kann, kann der Wille. Ich beiße die Zähne aufeinander, nehme meine ganze Kraft zusammen und springe kerzengerade mit aussetzendem Herzen in die Tiefe zu meinen sich im Wasser tummelnden Kameraden. Sie werfen sich auf die Seite und auf den Rücken, weichen mir weit aus und umrauschen mich beim Auftauchen mit fröhlichem Lärm. Sie bewundern mich ehrfürchtig, nicht wissend, daß meine ganze Feigheit nötig war, um mir so viel Mut zu machen.

Ich weiß genau, die Proben, die in der Bändigung des Cyrus und in der Lebensrettung Titurels lagen, sind mir nicht gelungen, oder, wenn sie gelungen sind, waren sie nicht entscheidend. Aber diese kleine Überwindung im Sprung von sieben Meter Höhe hat mir wieder etwas Selbstbewußtsein gegeben.

Um wieviel ist der Meister mit seinen grauen Haaren dem Tode näher, und doch beherrscht er dies wie alles hier. Er ist es nicht, der am besten rechnen kann, und doch hat er den höchsten Ökonomieposten hier inne in unserm kleinen Reich. Ihm zur Seite steht der Rendant, ein ausgedienter, aber unverwüstlicher Beamter, der daheim sieben Kinder zu ernähren hat. Für diese lebt er. Er spart hier jede, auch die kleinste Summe zusammenbricht sogar die Zigaretten, die er raucht, in zwei Teile, bevor er sie zwischen seine Lippen steckt, die wie aus braunem Papier gebildet scheinen. Mir ist nicht klar, ob die Roulettuhr, die seit einigen Tagen im Schlafsaal der »Fünften« auf dem Bette eines Kameraden rotiert, durch ihn oder durch den Meister eingeschmuggelt ist. Ich traue es dem Meister zu, daß er die schlechten Instinkte der Zöglinge ausnützt, um Vorteile zu gewinnen, ebenso auch dem Rendanten, daß er sich kleine Nebengewinne, sei es mit oder ohne Duldung des Meisters, nicht entgehen lassen will. Mir ist Geld etwas Fremdes. Was soll es in Onderkuhle? Das, was ich ersehne, wonach ich hungere, wird man sich für Geld, sei es erspieltes oder durch Arbeit erworbenes, nicht kaufen können.

Seit ich Titurel nicht mehr als Freund betrachten kann, sieht man mich oft bei Cyrus. Mich ergreift die Nähe des großen, mausgrauen Pferdes, das mich erkennt und das mich mit seinen sonderbar gefärbten Augen, die sehr denen des Meisters ähnlich sehen, unverwandt anstarrt. Sonderbar ist sein Verhalten gegen mich. Er nähert sich mir mutig mit dem Oberkörper, zugleich aber versucht er mit der feig weggedrehten Kruppe mir zu entfliehen. Aber ich will nichts Böses. Ich weiß auch, daß ich von dem auf immer gebändigten Tier kaum Böses zu erwarten habe. Ich sattle das Tier selbst, schwinge mich vor der Stalltür in den leichten englischen Sattel aus erbsengelbem, feingekörntem Leder, fasse Zügel und Peitsche in die linke Hand. Ich beginne loszutraben und kann zu meiner großen Freude bald wahrnehmen, wie willig der Hengst mir folgt, wie aufmerksam er auf meine Hilfen eingeht und wie er sich, nicht anders als ein Zögling der ersten Klasse bei der ersten Lektion, anstrengt, mir alles recht auf Befehl zu machen. So versuche ich leichte Springübungen über einfache Hindernisse. Die Wiesen sind schon gemäht. Es wird Abend. Ich muß mich kurz fassen. Kleinere Hindernisse bis zu Heuschobern von Mannshöhe nimmt das Tier anstandslos. Ebenso springt es über ziemlich breite Gräben, die man aus Meliorationsgründen durch ein früher sumpfiges, jetzt festes und fruchtbares Grasterrain gezogen hat. Dann treibt es mich zu dem an einer Stelle tief eingeschnittenen Bahndamme, der von Onderkuhle nach der kleinen Industriestadt V. führt. Auch diese Stelle ist eine Art Graben, nicht besonders breit, aber gefährlich für das Pferd und, warum es verschweigen, für mich. Ich weiß es, und das Pferd weiß es, wenn überhaupt, nur durch mich. Faßt nämlich das Pferd nicht Fuß an der Böschung, dann sausen wir hinab auf die schmalen eisernen Geleise unten, und mein Rückgrat wird zwischen der Last des Pferdeleibes und den Schienen zermalmt. Richtig. Wer aber so denkt, der springt nicht. Wer sich so mit einem scharfen Winkel vom Bahndamme abwendet, ist feig. Es ist gesagt.

Wohin also? Vor allem zurück. Zurück über die niedrigen, ein betäubendes, süßes Parfüm ausströmenden Wiesen von schwefelgelben Lupinen auf dem Rücken des immer schneller dahinjagenden Pferdes, das jetzt vor einem unten in den Einschnitt einlaufenden Eisenbahnzuge erschrickt. Es wird zu einem rasenden Tempo angespornt, das ihm niemand zugetraut hätte. Warum sollte, ich es leugnen, daß auch ich stets vor Maschinen und Lokomotiven Angst gehabt habe? Kleinen Kindern ist diese Angst nicht fremd, aber mir, dem über sein Alter Frühreifen? Jetzt zwinge ich mich, stillzuhalten und mir und dem Pferde wenigstens den Anblick des fahrenden Eisenbahnzuges aufzuzwingen. Aus der altmodischen Maschine, die einem messingbeschlagenen Teekessel gleicht, dringt heißer, milchiger Dampf und wirbelt in einer bald verblassenden Wolke um die schmalen Fesseln des Pferdes auf das Wiesengelände hin. Es ist noch hell. Schmetterlinge von nie gesehenen Formen schwanken wie mit vier Flügeln Zitronenfarben in der Luft. Einer sieht aus wie aus gelbem Seidenpapier zackig geschnitten, fast durchsichtig in seinem langsam wehenden und drehenden Flug. Ihn trifft die scharfe Kante meiner Uniformmütze beim schnellen Reiten. Er sinkt in Spiralen nieder. Offenbar ist er schwer verletzt. Ich steige ab, in der Ohnmacht meiner eigenen Feigheit und Todbenommenheit mit allem Tod sympathisierend. Sobald ich mit meinen groben Reiterhandschuhen das sonderbare vierflüglige Gebilde anfasse, erkenne ich, daß es zwei Schmetterlinge sind. Sie sind aneinander mit den spitz zulaufenden Körpern gelötet. Halb zerfetzt sind sie und lassen doch nicht voneinander. Noch scheint eine Spur Lebens, unerfaßbaren, geheimnisvollen Daseinswillens, in ihnen zu wohnen. Aber mehr noch ist in ihnen Schmerz und sicherer Untergang. Man sieht die nach verschiedenen Seiten gerichteten, zart gegliederten Antennen vibrieren. Die Augen sind glasig, dabei gekörnt und ganz unbewegt. Am ergreifendsten ist ein zarter, ganz fremder Duft, der den vereinten Sterbenden im Tode entströmt.

 

Es tut mir wohl und sicherlich auch ihnen, wenn der Absatz meines Stiefels sie zermalmt. So begräbt er sie in ihrer Jugendblüte mitten in der gewaltig aufatmenden, dufterfüllten Wiese. So empfinde ich Mitleid, wie ich es bis jetzt nicht ahnte. Denn was braucht einer Mitleid zu fühlen, solange er mitten im Lebensrausche dasteht? Erst wenn das Leben zu Ende geht, wenn einer den Blick von der stärkeren Sonne abwenden muß, da begreift er Mitleid und wehrt sich dagegen nicht mehr.

Hoher Lebensmut in bösen Tagen – das ist herrlich. Herrlich ist es, sich wie die Feuerkatze mutig in die Gefahr zu stürzen und über den Tod zu triumphieren. Herrlich ist es, wenn einer keine Gefahr kennt, keine Bedenken. Wenn er atmet mit einer so vollkommenen Befriedigung aller Lebensgier, daß ihn die bloße Luft, der rieselnde Regen berauscht, wenn ihn das Jagen auf dem Pferderücken anspornt zum völligen Vergessen seiner selbst! Wie anders jetzt mein schüchternes Traben auf dem hohen Gaul durch den durchsichtigen, flimmernden, von zirpenden und sich paarenden Insekten erfüllten Abend, wo es mich fröstelt in der erhitzten Luft. Wo ich einsam, selbst mit mir zerfallen, meine Augen scheu von der sinkenden Sonne abwende, obwohl sie ihre höchste, gefährliche Flammenstärke lange schon verloren hat. Ich weiche ihr aus, ich lasse meinen gespenstischen, überlangen und schlanken Schatten vor mir durch den üppigen Grasteppich gleiten, als könnte ich dann vermeiden, einen Halm zu knicken. Ich lebe geräuschlos, feig und mit dem Augenblick vergehend, zitternd vor dem nächsten, weil ich den letzten ahne. Wo ist der andere Orlamünde?

Ich lenke mein Pferd zurück, das den Stall ersehnt und deshalb seine Muskeln zu einem freiwilligen, besonders schnellen Galopp mit toller Freude am Rennen strafft. Aber wo bin ich? In der weiten, fast metallisch grün blinkenden Wiese ist vor meinen Augen ein Stück Stadt erstanden. Ich sehe eine ziemlich hohe, aber mißfarbene und an manchen Stellen schon abbröckelnde zinnoberfarbene Fabrikwand. Sie ist von kleinen trüben Fenstern durchbrochen, die wie Luken aussehen, aber sonderbar angeordnet sind. Daneben eine Art Einfahrt, wo sich jetzt etwas bewegt, ein umgekehrtes, mit den Rädern nach oben gewendetes Lastautomobil, und hinter diesem, fast schon in die Wolken am Horizonte verfließend, ein viereckiger, steingrauer Fabrikschlot, dem als letztes Stück, das aber der Erde am nächsten ist, ein neuerer Teil mit helleren, roten Ziegeln angesetzt ist. Wie kommt dieses alles hierher, in die Schulgemarkung von Onderkuhle, in das Weidegelände südlich der Schule, wo nie eine Fabrik bestand? Ich möchte es mehr aus der Nähe sehen. Aber je näher ich reite, desto mehr verschwimmt die Luftspiegelung, und will ich zurück an die frühere Stelle, so sperrt sich mein Gaul, der ungeduldig mit den Zähnen an der Stange wetzt, mich schief von unten ansieht und die Ohren aufstellt. Was soll ich tun? Der merkwürdigen Naturerscheinung nachjagen und dabei die Früchte der Bändigung des Pferdes aufs Spiel setzen oder mich feige fügen? Füge ich mich?