Sie sollten doch nur tanzen

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Kapitel 2

All das spulte sich nun in Koblenz täglich aufs Neue vor seinem inneren Auge ab, wollte immer noch irgendwie verarbeitet werden. Die größte Chance seines Lebens hatte er vertan! Und damit wurde er einfach nicht fertig. Auch jetzt, an diesem frühen Morgen in der Augusta-Anlage, hatte er wieder mit dem folgenschweren Verlauf seines Versagens zu kämpfen.

„Ablenken, Alex!“, befahl er sich lautstark und ballte die Hände, spürte, wie seine Körperkraft in die Fäuste floss und seine Gedanken sich zurückzogen.

Er stand am Ufer. Der erste Blick auf den Rhein war in diesem Sommer täglich aufs Neue erschreckend. So wenig Wasser hatte das Flussbett seit ewigen Zeiten nicht getragen. Der Pegel zu niedrig für die Schifffahrt, das wenige Wasser zu warm für die Fische. Das hier war wirklich ein Grund, sich zu ängstigen, dagegen waren die Probleme eines einzigen kleinen Menschen doch völlig nichtig!

Kopfschüttelnd stemmte die Hände in die Seiten. Der breite Kiesstreifen am Rand des Flussbettes zu beiden Seiten wirkte auf ihn wie der Vorbote in einer Endzeitdokumentation, die ihn tief beeindruckt und nachhaltig belastet hatte. Wer hätte die extreme Trockenheit in diesem Frühjahr auch nur geahnt… Da war der Rhein noch gut gefüllt, die Schiffe fuhren ihre gewohnten Transportwege – all das hatte sich in kurzer Zeit rapide verändert. Wie sein eigenes Leben.

Er erinnerte sich an seinen Rheinaufenthalt in Lahnstein vor ein paar Monaten, kurz nach ihrer Trennung. Damals hatte er schon einmal seine Tochter besucht, die zu einem Praktikum bei der Polizeiinspektion Lahnstein vor Ort in einer günstigen Pension ein Zimmer bewohnte. Genau zwischen ihren Abiturprüfungen. Nur keine Zeit verlieren, lautete ihr Motto, wenn es darum ging, ihren Wissensdurst zu stillen. Und sie hatte geschafft, was sie erreichen wollte: Ihre guten Referenzen hatten ihr im Handumdrehen die Stelle in Koblenz gesichert.

„Du beneidest sie, was?“, hatte sein Freund und Chef Benno erkannt. „Im Grunde hat sie sich deinen Wunsch erfüllt. Bei der Polizei zu arbeiten, war dein Traum, gib's zu.“

„Ach was, die Büroarbeit wäre nie mein Ding gewesen“, fegte Alex das Thema beiseite. Natürlich hatte Benno das Kind beim Namen genannt: Er beneidete Charlotte in der Tat, für ihr Durchhaltevermögen und ihre Zielstrebigkeit. Die guten Gene von Marla. Womöglich war sein Scheitern Charlotte eine Herausforderung gewesen. Ansprechen würde er sie nie darauf, er hatte kein Bedürfnis, weitere Eingeständnisse in den Raum zu stellen.

Seltsamerweise war Charlotte mit den veränderten Familienverhältnissen gut umgegangen. Natürlich lebte sie bei ihrer Mutter, und natürlich hatten die beiden ihre Gespräche geführt, doch deren Inhalt würde Alex vermutlich nie erfahren. Frauen waren eigenartig verschworene Geschöpfe, und ein wenig fühlte er sich dadurch noch weiter an den Rand gedrängt. Trotzdem hatte ihm sein Mädchen aus eigenem Antrieb im Frühjahr schon einmal geraten: „Lass dich krankschreiben und komm mal für ein paar Tage runter nach Lahnstein, Papa. Bring das Nötigste mit, ich beschaffe dir hier ein Zimmer.“ Schon da schien sie besorgt um die Gesundheit und die Verfassung ihres Vaters gewesen zu sein, nicht ohne Grund.

Wenn er auch selten zuhause war, so war das Alleinleben ganz anders, als Alex es sich jemals hätte vorstellen können. Mit einem Mal kein System mehr, keine Ordnung, kein offenes Ohr, keine warmen Mahlzeiten, kein Gefühl von Geborgenheit, keine saubere Wäsche. Marla fehlte ihm unsagbar. Die kleinen Reibereien ebenso wie ihre Geschichten über die Patienten aus der psychiatrischen Praxis, in der sie arbeitete. Manch einen von ihnen glaubte er allein durch Marlas Berichte persönlich zu kennen, vertrauten sich ihr einige doch schon vor Beginn ihrer Therapiestunde an. Und mehr als einmal hatte sie einen Patienten für eine zusätzliche Bereicherung seines Befindens an ihren Mann ins Studio zur Entspannungsmassage verwiesen.

Heimliche gemeinsame Patienten – all das und viel Schönes mehr war jetzt vorbei. Und diesmal gab es keine Aussicht auf eine Versöhnung. Aus und futsch!

Mit dieser Erkenntnis hatten die zwei Aprilwochen Urlaub in Lahnstein und der tägliche Kontakt zu seinem Mädchen ihm in der Tat gut getan. Indes hatte seine Frau daheim die Gelegenheit genutzt, ihre restlichen privaten Dinge aus der gemeinsamen Wohnung zu holen. Die Möbel und Haushaltsgeräte hatte sie jedoch komplett zurückgelassen, was dafür sprach, dass sie in der neuen Unterkunft ausreichend versorgt war. Denn so, wie Marla seit der Geburt ihrer Tochter das Kindergeld Monat für Monat auf ein Sparbuch für Charlottes 18. Geburtstag überwiesen hatte, zahlte sie über all die Jahre genauso konsequent eine bestimmte regelmäßige, wenn auch geringe Summe auf ein eigenes privates Konto ein, das ihr jetzt mit Sicherheit gute Dienste tat. Ihren Sinn für Unabhängigkeit hatte sie sich von Anfang an bis zuletzt bewahrt.

„Komm nicht auf die Idee, mich in der Praxis zu besuchen“, hatte sie sich vorbehalten. „Du bist jetzt frei, kannst dich nach Lust und Laune austoben und deine Aufputschpillen schlucken. Ich hab nicht vor, mit anzusehen, wie du zugrunde gehst. Wer weiß, vielleicht hätte ich energischer sein müssen, strenger mit dir, aber du bist nicht mein Kind, Alex, du bist mein Ehemann. Und von dem darf man erwarten, dass er sich eigenverantwortlich verhält. Du bist nie richtig gereift, kommst mir immer noch vor wie der große Junge, der du damals warst. Wir beide haben uns auseinanderentwickelt. Unsere Ehe ist beschädigt, wir haben zusammen keine Chance mehr. Hol dir Hilfe, Alex.“ Das waren Marlas letzte Worte gewesen. Marla war Vergangenheit.

Dort in Lahnstein, während Charlottes Praktikum, hatte er auch mit seinen morgendlichen Spaziergängen begonnen. Der gemächlich dahinfließende Rhein trug jedes Mal zu seiner Beruhigung bei. An einen Morgen erinnerte er sich noch besonders gut. Er war durch den großen Park gelaufen, ohne nach rechts und links zu sehen. Bei der Anlegestelle hatte er Halt gemacht, hatte sich gezwungen, an Schönes zu denken und sich vorgestellt, wie früher der Erzählung nach hier die gute Lahnsteiner Nixe den Weg nach Stolzenfels genommen hatte. Nur noch die Gedenktafel erinnerte an das kleine Schiff und an seinen Kapitän, der für jeden Fahrgast ein nettes Wort gehabt hatte.

„Alles ist vergänglich“, hatte er gedacht. Und wie er so dastand, einsam und mit hängenden Schultern, hatte er zum allerersten Mal seit der Trennung von Marla seinen Tränen freien Lauf gelassen. Er hatte gar nicht mehr aufhören können zu weinen.

Aber nun zählte das Hier und Jetzt! Jetzt war er hier in Koblenz! Er musste diese ständig auflebenden Erinnerungen endlich begraben. Es gab doch auch, verdammt noch mal, die Gegenwart! Und sobald es ihm besser ging, wollte er wieder in seine eigene Wohnung und an seinen Arbeitsplatz, rauf in den Westerwald zu 'Masters of pleasure'. Zu Benno und den Fitnesspatienten.

Alex schleuderte seine Arme aus, als wolle er die Vergangenheit abschütteln, konzentrierte sich stattdessen lieber auf das Niedrigwasser und das freigelegte rissige Flussbett des Rheins gleich vor ihm. Nach einer Weile wandte er den Blick ab und hielt sich in der Rheinau auf, die direkt am Ufer entlangführte, rechter Hand Richtung Rheinlache. Dort vorn stand seine Bank, seit er hier in Koblenz war, sein angestammter Sitzplatz. Zu dieser frühen Stunde beanspruchte niemand eine taufeuchte Holzbank. Den Weg nach links, entlang des Ufers bis zum Deutschen Eck, wollte er sich aufheben für vitalere Tage. Und fit würde er wieder werden, ganz bestimmt!

„Tu dir Gutes, Papa, und gib Acht auf dich. Du brauchst dich zur Zeit einfach nur um dich selbst zu kümmern, kannst dich den ganzen Tag pflegen, wenn ich auf der Arbeit bin.“ Alex musste schmunzeln, während er sich über seine Bartstoppeln strich. Ein rasiertes Gesicht war für Charlotte der vorrangige Beweis, dass ein Mann sich pflegte.

„Ein geordnetes Inneres beginnt mit der Hygiene“, fand sie, die seines Wissens nach noch keine Beziehung gehabt hatte und somit kaum wissen konnte, wie sich ein unrasiertes Kinn anfühlte.

Er lachte hämisch auf: Hatte er soeben einer Frau von zwanzig Jahren unterstellt, sie habe noch nie geküsst, nur, weil er davon nichts mitbekommen hatte? Die Wahrheit war doch, dass er sich das einfach nicht vorstellen wollte. Seine Kleine sollte seine Kleine bleiben. Was wusste er im Grunde schon über sein Mädchen, über die Frauen überhaupt? Er hatte es in all den Jahren ja nicht einmal verstanden, mit seiner eigenen Frau umzugehen, sonst wäre sie ihm nicht gleich zwei Mal entwischt.

Abermals musste er auflachen. Entwischt war ein gutes Wort, ein Euphemismus, der augenblicklich die Sachlage entschärfte. Etwas Entwischtes ließ sich oft wieder einfangen … Aber nicht Marla, die war für ihn verloren, und zwar für immer.

Aufhören!, befahl er sich, lenk dich ab! Acht mal zwölf macht sechsundneunzig geteilt durch vierzehn macht ... sechs Komma acht und ein bisschen ...

Während er Kurs nahm auf seine Bank, begann sein Magen zu knurren. Gleich darauf stieg der Geruch von frisch gebackenen Brötchen in seine Nase. Da in der Nähe seines Wissens jedoch keine Bäckerei war, musste dieser Duft seinem Wunschdenken entsprungen sein. Das passierte ihm in letzter Zeit nicht selten. Urplötzlich hing ihm dann ein Bratenduft in der Nase, obwohl er sich im Badezimmer befand und in der Küche der Herd kalt war.

„Das sind Halluzinationen durch den Entzug“, diagnostizierte Charlotte.

Seit er hier in Koblenz war, hatte er nichts mehr genommen. Genauso witterte er Zigarettenrauch, wenn er auf seinem Schlafsofa im frisch gelüfteten Wohnzimmer vorm Fernseher lag und sich urplötzlich nach Tabak sehnte, seinem Laster, das er schon vor Jahren abgelegt hatte, zugunsten seiner Fitness, und das ihn hier ganz überraschend wieder eingeholt hatte.

 

Ein einziges Mal hatte Charlotte ihn erwischt, als er im Fenster hing und heimlich den Qualm nach draußen blies. Seine Tochter hatte ihn zurechtgewiesen wie einen ungehorsamen kleinen Jungen. Er hatte sich gerechtfertigt, hatte nicht gerade freundlich erwidert, dass solche konsequenten Veränderungen gar nicht gut seien für den Körper und ein totales Rauchstopp seine Lust auf Naschereien fördere, die wiederum seinen Insulinwerten in die Quere kämen und das ganze Programm obendrein seine Laune verschlechtere. Doch Charlotte hatte ihm nur entgegengehalten: „Entweder jetzt oder nie, Papa. Dir läuft die Zeit so schon davon, außerdem kann jemand gar nicht schlechter gelaunt sein, als du es ständig bist.“

Bei dieser Erinnerung musste Alex belustigt seufzen. In dieser Hinsicht brauchte er sich keine Hoffnung auf Mitgefühl zu machen. Der kleine Feldwebel blieb rigoros und beharrte eisern auf Konsequenz in allen Bereichen, nicht nur in Bezug auf ihn, sondern auch sich selbst gegenüber.

Fünf Uhr fünfzig. Der Duft des frühmorgendlichen Taues auf den Pflanzen der Rheinanlage stieg ihm in die Nase. Die ersten Enten tauchten auf, watschelten übers Kiesbett Richtung Wasser. Er griff in seine Westentasche und zog die gepflogene Tüte mit Brotkanten hervor, nagte an einer der harten Krusten.

„Jetzt fress ich den Enten schon ihr Futter weg“, murmelte er vor sich hin. Verärgert kickte er gegen eine Getränkedose, die scheppernd im Gras landete.

Von Weitem schon sah er seine Bank. Aus der Ferne kam es ihm vor, als sei sie rot gestrichen worden. Aber über Nacht? Er war doch gestern Abend spät noch einmal hier unten gewesen, mit einer Handvoll Bonbons und nur zwei Glimmstängeln, und da war seine Bank noch grün gewesen …

Mit der Hand schirmte er die Augen ab und schärfte den Blick. Seltsam, nur der untere Bereich leuchtete rot. Vielleicht waren da Schmierkinder am Werk gewesen, die es darauf angelegt hatten, dass Spaziergänger nach dem Rasten mit rotem Hosenboden weitergingen?

Wie auch immer, er freute sich auf seine ruhige Morgenstunde, zumal ihm diese Stelle am Rheinufer zuversichtliche Gedanken einpflanzte und ihn auf den Rückweg entließ wie frisch gedüngt.

Für heute hatte er sich vorgenommen, als Ablenkung Charlottes Ratschlag zu folgen, indem er den gerade erlernten Verlauf des Rheins durchging, begonnen in den Schweizer Alpen bis zu den Ausläufern in die Nordsee. Besonders gut tat es ihm, wenn ihn währenddessen die Enten umzingelten. Auch über diese Spezies wollte er sich demnächst ausführlicher informieren. Lernen und aufsaugen, was nur eben in seinen maroden Schädel hineinpasste, damit die Altlasten sich zurückzogen!

Er stockte. Von hier aus sah es nicht mehr aus, als hätte jemand an seiner Bank herumgepinselt, sondern etwas dahinter deponiert. Einen alten Teppich entsorgt? Den Menschen kamen doch die unmöglichsten Ideen!

Mit ein paar langen Schritten war er vor Ort. Nein, es war kein Teppich. Es handelte sich um eine feuerrote Wolldecke, in die sich jemand verkrochen hatte. Dass es kein Mann war, ging ihm sogleich auf, denn dieser freche, ebenfalls rote Pferdeschwanz aus feinem Haar, der am oberen Ende der wollenen Rolle herauslugte, wies eindeutig auf ein weibliches Wesen hin. Eine Pennerin oder Streunerin, vielleicht auch eine wagemutige Wanderin, schlafend im Schutz der Bank und des hohen Baumes, dessen dicht belaubte Äste so tief hingen, dass sie seinen Scheitel streiften.

Er verzichtete ungern auf seinen Sitzplatz, doch es gab zwei Gründe, die ihn auffordern wollten, sich geräuschlos zurückzuziehen. Zum einen waren es die erträglichen Außentemperaturen, die um diese Uhrzeit für ein Schläfchen im Freien sprachen. Des Weiteren war es die gute Luft hier unten in der Anlage, viel angenehmer, als an den anderen Orten, an denen sich für gewöhnlich die Penner einfanden.

Es gab aber auch zwei Gründe, sich das verpackte Bündel Mensch näher anzusehen: die kompakt eingerollte Haltung der Schlafenden, die darauf schließen ließ, dass sie sich nicht selbst zugedeckt hatte, ebenso das obere Ende der Decke, das nicht einmal die Augenpartie freigab.

Alex räusperte sich, raschelte mit seiner Brottüte, klopfte gegen die Bank, stieß dann mit dem Fuß sacht die Decke an. Als er keine Regung wahrnahm, beugte er sich nach vorn und tippte mit den Fingern gegen die Stelle, durch die sich ein Schulterknochen abzeichnete.

Ihm wurde heiß. Hier hatte er es entweder mit jemandem zu tun, der ohnmächtig dalag, oder mit einer Toten! Doch er durfte seine erste Hilfe nicht verweigern, selbst wenn er sich in wenigen Sekunden einen Aufschrei oder eine Ohrfeige einhandelte.

„He, hallo, ist Ihnen nicht gut?“, fragte er. Noch einmal fasste er an die eingepackte Schulter, rüttelte sie, erst sanft, dann etwas energischer. Die Bewegung reichte aus, damit die Decke zur Seite rutschte.

Zuerst sah er nur eine überdimensionale grellgrüne Sonnenbrille, deren Bügel auf einer Seite unter einer ebenfalls grünen Haarsträhne verschwand.

Noch einmal sprach er die Frau an, jetzt heiser und atemlos, rief erneut Hallo und Hey, doch hier gab es kein Lebenszeichen, hier gab es überhaupt keine Hoffnung auf Leben mehr.

Durfte er hier überhaupt etwas anfassen? Verursachte er hier vielleicht Spuren, die ihn später in Erklärungsnot brachten?

Sollte er nicht zuerst Hilfe holen oder die Polizei verständigen?

Diese unterbewussten Überlegungen wichen seiner Neugierde. Sein schneller Blick nach rechts und links sagte ihm, dass er unbeobachtet war.

Mechanisch hob er die Sonnenbrille der Toten an, nahm sie langsam von ihrem Gesicht und blickte in zwei weit aufgerissene Augen in schwarzblauen Höhlen.

Nichts anfassen!, hämmerte es in seinen Gedanken. Als er dennoch mit zitternden Fingern die Decke weiter anhob, wusste er sofort, was hier geschehen war. Die Würgemale an dem langen, schmalen Hals waren nicht zu übersehen. Diese Frau war getötet und dilettantisch geschminkt worden, zu üppig die rote Farbe auf den Wangen, der Lippenstift über den Rand des leicht geöffneten Mundes hinaus aufgetragen, die Umgebung der Augen großflächig mit Farbe beschmiert und die Augenbrauen überbetont nachgezogen. Der Gesamtanblick erinnerte ihn für den Moment an ein angepinseltes Clowngesicht, gleich darauf an das weiße Porzellangesicht einer Puppe, an der sich ein Kind mit seinem Farbkasten ausgelassen hatte.

Alex wich zurück. Ihm war speiübel. Jetzt nahm er doch noch seinen Platz auf der grünen Bank ein. Neben ihm am Boden pickten die Enten ungerührt die Brotkanten direkt aus der Tüte. Sein Kiefer schmerzte, er musste die Zähne äußerst fest zusammengebissen haben. Wieder drehte er seinen Kopf abwechselnd in beide Richtungen.

Durchatmen. Dreihundertzwölf geteilt durch siebzehn macht … achtzehn Komma …

Er sprang auf, beugte sich noch einmal vorsichtig über die Frau und fragte sich, ob sie hier in der Anlage ermordet oder bereits in diesem Zustand hier abgelegt worden war. Darauf fand er als Nichtfachmann der Leichenbeschauung keine Antwort. Was er hingegen beantworten konnte: Sein Handy lag in der Wohnung seiner Tochter auf dem Küchentisch. Zum ersten Mal gereichte ihm die menschenleere Allee zum Nachteil.

Kapitel 3

Alex spürte eine Hand an der Schulter und starrte in zwei weit aufgerissene Augen.

Er fuhr zusammen, wusste aber sofort, dass er den Blick mit etwas Falschem assoziierte, denn diese Augen waren lebendig, schienen regelrecht zu vibrieren innerhalb der blauen Einfassung der großen runden Gläser.

„Papa!“

Stöhnend rieb er sich die Bartstoppeln, schüttelte dann den Kopf, den er auf ein dickes Kissen gebettet hatte. Das Wohnzimmer um ihn herum war durch die zugezogenen Vorhänge in orangefarbenes Licht getaucht. Er hatte sich nur auf dem Sofa ausstrecken wollen und musste eingeschlafen sein.

Jetzt legte sich auch die andere Hand seiner Tochter auf seine Schulter. „Papa, bist du wieder kollabiert?“ Charlottes Stimme klang angstbelegt, ihr Atem ging heftig.

„Was? Nein, nein, ich habe geschlafen. Wie spät ist es?“ Es konnte unmöglich sein, dass er seit seiner Rückkehr vom Rheinufer bis zu Charlottes Dienstschluss am späten Nachmittag durchgeschlafen hatte, das leistete sein angekratztes Nervensystem schon lange nicht mehr ohne Schlafmittel.

„Ein Uhr. Warum hast du dich nicht gemeldet? Da kommst du heute Morgen nicht vom Spaziergang zurück, und ich musste los, ohne dass ich wusste, wie es dir geht.“

„Ich soll dich doch nicht auf der Arbeit anrufen“, war Alex erst einmal froh, argumentieren zu können.

„Aber drangehen darfst du, wenn es klingelt. Mensch, Papa, wo ist dein Handy?“

Er wich ihrem Blick aus, denn dass sie versucht hatte, ihn zu erreichen, war ihm nach der Sache vom frühen Morgen nicht in den Sinn gekommen.

„Der Akku ist leer. Und das Ladekabel hab ich nicht gefunden.“

Charlotte boxte ihm sanft auf die Brust. „Dann geht man neben meinem Schreibtisch in die Hocke und sieht, dass das Kabel in der Dose steckt, in der du es immer stecken lässt. Was du eigentlich nicht sollst.“

Er wollte ihr entgegenkommen und stützte sich auf die Ellbogen. „Sorry, Kleines. Du willst mir aber jetzt nicht sagen, dass du die ganze Strecke vom Präsidium mal schnell in deiner Mittagspause mit dem Fahrrad gekommen bist, um mich zu besuchen?“

„Nein, ich bin gekommen, um nach dir zu sehen!“

Alex wusste, dass sein Tonfall aufgesetzt klang: „Dann wird es aber Zeit, dass du mich endlich flügge werden lässt.“ In seinem rechten Bein entwickelte sich ein Krampf, sein Herz polterte unregelmäßig. Die Geschehnisse des frühen Morgens steckten ihm in den Gliedern, belagerten jeden Winkel seines Körpers. Er ahnte, dass die Zeit seiner Tochter knapp bemessen war, das verrieten ihre unruhigen Bewegungen. Und doch drängte es ihn, etwas zu erfahren.

„Sag, ist es im Präsidium schon zu dir durchgedrungen, dass eine Tote an der Rheinlache gefunden wurde?“

Charlotte warf ihren braunen Zopf über die Schulter nach hinten. „Oh, dann waren die im Radio wohl schneller als unsere stille Post im Haus“, lachte sie. In ihre Wangen war wieder Farbe eingekehrt. Sie war sichtbar erleichtert, dass sie sich um ihren Vater keine Sorgen machen musste. Dennoch hatte sie aufgehorcht. „Eine Tote unten am Rhein?“, wiederholte sie, um gleichzeitig auf ihre Armbanduhr zu schauen. „Das erfahr ich dann wohl gleich auf der Arbeit. Ich berichte nachher. Jetzt muss ich los, Papa, füttere du die Fische und häng dein Handy an die Strippe. Luca wartet unten im Auto, er hat mich rasch gefahren.“

Alex verzog das Gesicht, konnte es im Innenohr förmlich hören, wie sie ihrem Kollegen, dessen Name Alex längst ein Begriff war, aufgeregt erzählt hatte, dass ihr Depri-Vater kein Lebenszeichen von sich gab und sie dringend kurz nach Hause musste.

Was Alex auf jeden Fall verhindern wollte, war die Möglichkeit, dass Charlotte im Polizeipräsidium durch irgendwelche Zufälle auf seinen Namen als Zeugen stieß, bevor er ihr nicht wenigstens angedeutet hatte, was er am frühen Morgen erlebt hatte und warum er so lange fortgeblieben war. Er ging auf sie zu, die den Türgriff bereits in der Hand hielt, und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

„Charlie, ich muss dir was sagen, bevor du gehst ...“

Sie schob ihn von sich weg. „Ja, ich weiß, wie dankbar du bist, dass du in meiner Bude wohnen kannst“, ergänzte sie auf ihre Weise. Unten im Hausflur musste die Tür offenstehen, weil ein dreimaliges Hupen durchs Treppenhaus hallte.

„Das gilt mir, Papa, die Arbeit ruft. - Jetzt denk an meine Fische. Und an dein Handy.“ Fort war sie, hüpfte wie ein Gummiball die Treppenstufen hinunter. Und Alex musste trotz der entgangenen Möglichkeit lächeln, als er sich bewusst machte, dass seine Kleine trotz der familiären Turbulenzen ihr Leben im Griff hatte.

Dass Charlotte finanziell auf eigenen Beinen stand, war zum einen Marlas Sparbuch mit den gesamten Kindergeldeinzahlungen zu verdanken, zum anderen aber Charlotte selbst. Sie hatte zwar den Führerschein gemacht, das angedachte Auto jedoch nie gekauft. Seine Tochter fuhr mit dem Fahrrad. Zur Arbeit, zum Einkaufen und zu allen innerstädtischen Terminen und Verabredungen. Charlotte war sparsam, lebte sparsam, betrieb ausgiebigen Preisvergleich und deckte die Mietkosten mit ihrem Lehrstellengehalt ab. Zwei kleine Zimmer, Küche, Bad, die sie erst vor ein paar Wochen bezogen hatte – ihr genügte das vollkommen. Ihren Vater als Mitbewohner hatte sie niemals einkalkuliert. Und trotzdem ohne zu zögern bei sich aufgenommen. Nicht, weil der chronisch pleite war – wenngleich daran schon ein bisschen Wahrheit sein mochte – , sondern weil sie ihn in ihrer Nähe haben wollte, seit es ihm nicht gut ging. Unter Kontrolle.

 

Kaum war seine Tochter gegangen, schaltete er sein Handy ein. Es piepte ohne Unterlass. Neunzehn Anrufe in Abwesenheit – wie würde Charlotte geflucht haben!

Im Badezimmer gurgelte er, bereitete sich dann einen Aufguss zum Inhalieren. Er musste diesen penetrant süßlichen Geruch loswerden, der aus der roten Wolldecke geströmt war, selbst wenn er sich diesen nur einbilden mochte.

Über zwei Stunden hatte er sich am Tatort aufgehalten, hatte sich aus einem undefinierbaren Grund nicht von dort lösen können. Wiederum hatte er keine zehn Minuten alleine mit der Leiche dort verbringen müssen. Ein früher Jogger war zur Hilfe geeilt, hatte die Polizei verständigt und mit ihm gewartet, bis nach und nach das komplette Aufgebot an Wagen und Fachpersonal eingetroffen war. Von der Mainzer Straße über die Mozartstraße war gut zum Tatort zu gelangen.

Die Polizei hatte ihm sachliche Fragen gestellt, natürlich. Warum also hatte er dabei immerzu das Gefühl gehabt, er sei persönlich mit dem Fundort, vielmehr mit dem gezielten Ablageort der Leiche gemeint? Weil es seine Bank war?

Da Alex bezeugen konnte, dass die Tote am Abend zuvor noch nicht hinter dieser Bank gelegen hatte, stand für die Spezialisten schnell fest, dass die Frau schon tot gewesen war, als jemand sie dorthin gebracht hatte. Das verriet ihnen auch der Zustand der Leiche.

In der Leichenhalle des Hauptfriedhofes Koblenz, Beatusstraße, lag am Ende eines langen Ganges rechts der Sektionsraum. Rechteckige weiße Fliesen am Boden und an den Wänden bis zur Decke. Ein fensterloser, kalter Raum. Die Luft im Raum roch leicht süßlich, vielleicht auch etwas 'verdorben'.

In der Mitte stand der Seziertisch, fest verankert, mit einem Wasserablauf, der darunter in den Boden mündete. Oberhalb des Tisches, im Rechteck angebracht, mehrere Neonröhren, sodass der Tisch vollkommen ausgeleuchtet war. An einer Wand befanden sich drei Waschbecken, an einer anderen standen mehrere Stühle, auf denen der Rechtsmediziner und sein Mitarbeiter ihre Koffer mit dem eigenen Leichenbesteck abgestellt hatten.

Die auffällig geschminkte weibliche Leiche befand sich in Rückenlage auf dem Seziertisch.

Soeben erklärte Kommissar Albertus dem Rechtsmediziner die Auffindesituation der Toten und berichtete ihm vom bisherigen Ermittlungsergebnis.

Gleich im Anschluss erfolgte die äußere Besichtigung der Leiche. Die Bekleidung wurde beschrieben und auf Defekte untersucht. Separat wurden die einzelnen Kleidungsstücke gesichert und verpackt. Während die Leiche vermessen wurde, schnitt der Kollege der Spurensicherung die Fingernägel des Opfers ab. Sie würden später beim Landeskriminalamt auf Antragungen wie Hautpartikel oder Fasern untersucht werden.

Der Rechtsmediziner hatte bereits alle Körpergelenke wie auch den Kopf auf abnorme Beweglichkeit untersucht. Diesbezüglich war jedoch kein Resultat anormal. Ebenso waren keinerlei Defekte am Schädeldach zu ertasten.

Die Haarlänge wurde festgehalten und die Haarfärbung angesprochen.

Der Sektionsgehilfe durchtrennte nun die Kopfhaut am Hinterkopf oberhalb der Ohren und löste sie zum Gesicht hin bis zu den Augenhöhlen vom knöchernen Schädeldach. Auch hier keine Auffälligkeiten.

Mit einer Handsäge wurde anschließend das Schädeldach abgetrennt. Vorsichtig löste der Gehilfe nun auch die Hirnhaut aus der Schale. So konnte das komplette Gehirn entnommen werden und, in dünne Scheiben geschnitten, untersucht werden. Dies ergab, dass weder Veränderungen am Gehirn noch Tumore oder Blutungen vorlagen.

Dann wandte man sich den blutunterlaufenen Stellen am Hals zu, die Hautschicht für Hautschicht präpariert wurden. Die Einblutungen waren tiefgehend. Der Täter musste mit großer körperlicher Gewalt auf den Halsbereich eingewirkt haben. Bei weiteren Untersuchungen dieser Halsregion wurde erkennbar, dass beide Kehlkopfhörnchen gebrochen waren, das Opfer also aufgrund erheblicher Gewalteinwirkung gegen den Hals verstorben war.

Es folgte die Öffnung des Torsos. An den Schultern beginnend, wurde die Haut zum Brustbein hin eröffnet und dann nach unten zum Nabel hin fortgesetzt. Die Haut und das darunter gelegene Fettgewebe wurden von den Brustknochen gelöst, die Brustknochen selbst durchtrennt, bis das komplette Brustbein herausgenommen werden konnte. Nun lagen die inneren Organe frei. Die Lunge wurde entnommen und untersucht – ohne Befund, also keine relevanten Veränderungen erkennbar.

Die Leber, die Milz, die Nieren und der gesamte Darm wurden freiliegend untersucht. Keine Veränderungen. Auch das Herz wurde untersucht. Ebenfalls keine krankheitsbedingten Anzeichen.

Der Rechtsmediziner kommentierte die Resultate: „ ... gesunde innere Organe einer jungen Frau ...“

Die Fortführung der Untersuchungen zeigte weder Verletzungen an den Organen der Gynäkologie noch des äußeren Genitalbereichs.

Im Anschluss wurden die einzelnen Organe gewogen und die Ergebnisse im Obduktionsbericht festgehalten. Für eventuelle später notwendige toxikologische oder feingewebliche Untersuchungen wurden Proben der inneren Organe in Formalin gesichert.

Die Zusammenfassung des Mediziners lautete:

„Als vorläufiges Obduktionsergebnis ist festzuhalten: Tod durch erhebliche körperliche Gewalteinwirkung auf die Halsregion bis hin zum Bruch der Kehlkopfhörnchen und somit Verschluss der Atmungsorgane.“

In der Hohenzollernstraße befiel Alex unterdessen der Gedanke, dass er die ermordete Frau nicht nur schon einmal gesehen, sondern sie sogar persönlich gekannt hatte.

Was hatte das zu bedeuten? Immer wieder holte er sich den Moment vor Augen, als er in das verunstaltete Gesicht geblickt hatte. Dieser Anblick hatte ihm etwas mitgeteilt, das er selbst noch nicht greifen konnte. Nur wollte er sich nicht darauf verlassen, dass eine Erkenntnis, welcher Art sie auch sein mochte, ihn später noch ereilte. Wenn, dann sollte er jetzt dranbleiben und sich durch nichts ablenken lassen.

„Carpe diem“, sagte er entschlossen. Jawohl, nutze den Tag! Und vor allem die ruhige Stunde, denn mit Charlottes obercleveren Kommentaren im Hintergrund würde sich da nichts mehr ausrichten lassen.

Sein Handy dudelte – da war schon die erste Unterbrechung. Seine Tochter mit einer Nachricht. 'Halt dich nachher daheim, wir müssen reden!!!!!'

Ah ja, man hatte es ihr zugetragen. Ein Alexander Wallmich als Zeuge. Wer hieß denn schon Wallmich? Da hatte man zügig die Verbindung zu der Neuen im Haus hergestellt und sie sogleich konfrontiert.

Ihm blieb zu hoffen, dass man bei der Polizei nicht noch auf dumme Gedanken kam und Schlüsse ziehen wollte aufgrund des Finders der Ermordeten und der Tochter im Polizeipräsidium, die jetzt eifrig bestrebt war, ihren suspekten Vater zu decken, der schon vor Tagesanbruch neben einer Toten gesessen hatte …

Nein, auf dieses Gespräch nachher mit Charlotte brauchte er sich wirklich nicht zu freuen. Die Arme, seit Kurzem erst saß sie an ihrem Schreibtisch, ohne Unterlass bemüht, sich ein gutes Image zu basteln, und dann gleich so was!

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