Der Fisch

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From the series: Kommissar Berendtsen #5
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Gerhard Nattler

Der Fisch

Kommissar Berendtsen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Impressum neobooks

Kapitel 1.

Gerhard Nattler

KOMMISSAR BERENDTSEN

UND DER FISCH

Krimi

Impressum Texte: © Copyright by Gerhard Nattler

Umschlag: © shutterstock.com / Olga Polonska

Gestaltung: Katharina Erhardt

Verlag: Verm.-Ges. b. R.

Lessingstr. 1

45896 Gelsenkirchen

Druck: epubli, ein Service der

Neopubli GmbH, Berlin

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

­­Der Halliburton Trolley rollte, von feingliedriger Damen­hand sanft geführt, beinahe lautlos über den Marmor­boden auf die Rezeption des Hilton Düsseldorf zu. Zielsicher steuerte sie den abseits gelegenen Schalter für Honors Mitglieder an, der wie gewöhnlich nicht frequentiert war. Wortlos präsentierte sie dem Concierge ihre VIP-Karte aus dem Wallet des iPhones. Er begrüßte sie mit einem »Herzlich willkommen, Frau Strasser. Wir freuen uns über Ihre Diamond Mitgliedschaft.« Er sprach mit leicht britischem Akzent. »Sie haben bereits für eine Nacht reserviert, wie ich sehe. Hätten Sie eine Kreditkarte für uns?«

Sie hielt ihre iWatch an das Lesegerät.

Nach einem Blick auf ihre Buchung fragte er: »Hatten Sie einen angenehmen Flug?«. Eine Antwort blieb aus. Stattdessen taxierte sie die Empfangshalle. Behände huschten die Finger des jungen Herrn im dunklen Anzug über die Tastatur. Einen Moment später schob er die ausgefüllte Anmeldung vor und legte einen schwarzen Kugelschreiber parat.

„Wir bieten Ihnen ein kostenloses Upgrade mit Zugang zur Executive Lounge. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.«

Sie nickte unmerklich, während sie unterschrieb, ohne die feinen Lederhandschuhe abzustreifen.

Der Concierge erklärte mit wenigen Worten die Einrichtungen des Hotels, händigte die Zimmerkarte mit dem Hinweis »Zimmer achtzig einundzwanzig. Wenn Sie aus dem Fahrstuhl kommen, links den Gang entlang« aus und nickte gleichzeitig einem Boy für das Gepäck, den sie jedoch mit einem freundlichen Lächeln und einer minimalen Geste ablehnte.

»Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt, Frau Strasser.« Nebenbei ließ er ein üppig dimensioniertes Tip in seiner Billetttasche verschwinden.

»Vielen Dank, Herr Fuller«, erwiderte sie nach einem Blick auf sein goldenes Namensschild. Sie bewegte sich in Richtung Fahrstuhl. Der junge Concierge sah ihr nach. Sie trug blaue Nikes zur Levis und eine hellblaue Bluse. Eine schwarze Umhängetasche schaukelte über ihrer Hüfte. Das goldene Dreieck PRADA MILANO stach ihm ins Auge, als ihr roter Anorak, den sie wie einen Poncho über den Schultern hängen hatte, den Blick darauf einen Augenblick freigab. Die dunklen Haare reichten ihr in leichten Wellen bis auf die Schulter. Der linke Aufzug stand bereit. Der junge Mann hielt einen Blick in ihren Datenstamm für angebracht. Beatrice Strasser war Deutsche mit der Heimatadresse in Dorsten und sah von hinten deutlich jünger aus als die ausgewiesenen zweiundvierzig Jahre, fand er. »Von vorn ebenfalls«, gab er zu, als sie sich im Fahrstuhl drehte und ihm ein freundliches Lächeln schenkte.

Nach einer kurzen Dusche ließ sie sich in einem Badetuch auf dem Chaiselongue nieder und wählte eine Nummer aus den Kurznotizen ihres iPhones. Sie ließ einmal durchschellen, dann brach sie ab. Wenig später kam die anonyme Antwort. Nach zweimaligem Summen verstummt das iPhone. Sie löschte den Anruf und die Notiz.

Den Koffer hievte sie aufs Bett und stellte die Zahlenkombination ein, um die Reißverschlüsse aufziehen zu können. Sie entnahm die Garderobe, die sie anzuziehen gedachte, und legte sie auf dem Bett bereit. Von den darunterliegenden Bündeln mit Scheinen zu einhundert und zweihundert Euro entfernte sie die Banderolen. Diese verbarg sie in einem Seitenfach des Koffers. Die Banknoten verschwanden in der Handtasche. Im Koffer suchte sie nach einem kleinen Kosmetiktäschchen, prüfte mit einem Blick den Inhalt und brachte es ins Badezimmer. Ihre getragene Kleidung verstaute sie im Koffer und verschloss mit der PIN.

Vor dem Ankleiden lackierte sie einen Fingernagel neu, der ihr im Flugzeug abgesplittert war. Sie warf einen Blick auf die entfernten Flughafengebäude und beobachtete den kaum hörbaren Verkehr tief unten auf der rege befahrenen Straße, bis der Lack getrocknet war.

Eine Stunde später beobachtete der junge Concierge, wie sie frisch gestylt in einem blauen Kleid und eleganten Boots aus dem Aufzug trat. Ihre Handtasche unter dem Arm und mit dezentem, aber teurem Schmuck um Hals und Handgelenk schritt sie durch die Empfangshalle und verschwand durch die Drehtür. Der Portier winkte nach einem Taxi. Er öffnete für sie die hintere Wagentür und gab dem Fahrer Anweisung.

»Sie wollte auf die Kö«, erfuhr der Concierge.

Zurück auf dem Zimmer griff sie zu ihrem Handy und wählte einen vertrauten Mitarbeiter an, ihren Chauffeur. Er hatte bereits ihren Vater gefahren und kannte sie von Kindesbeinen an.

»Ja bitte?«

»Hier ist Beatrice. Ich habe versucht, meinen Bruder zu erreichen. Er meldet sich nicht. Weißt du, wo er ist?«

»Er hat sich mir gegenüber nicht geäußert.«

»Okay. Wie läuft’s?«

»Die Oxygene wird in Kürze anlegen. Sie ist bereits durch die Schleuse. Aber …«

 

»Was ›aber‹?«

»Hier erscheinen einige unbekannte Leute. Auffallend unaufgeregt. Es riecht nach Bullshit. Sollen wir abbrechen?«

»Auf keinen Fall. Sie werden nichts finden. Vertraue mir!«

»Sind Sie sicher?« Korrekt wie der Mann war, siezte er Beatrice seit ihrem achtzehnten Lebensjahr. Sie hatte ihn wiederholt gebeten, sie weiter zu duzen, aber er bestand auf dem ›Sie‹ und redete sie auch mit Chefin an. Die beiden mochten sich.

»Ganz sicher! Macht keine Dummheiten. Kein Widerstand. Wenn sie genug gesehen haben, melde dich.«

»Wissen Sie zufällig, um welchen Container es sich handelt?«

»Fünf, eins, Strich, dreifünfundsechzig. Werde nicht nervös. Lasst die Waffe am besten im Auto.«

»Sie sind zuhause im Tresor. Edwin hat keine ausgegeben. Sie sind sicher, Chefin …?«

»Beruhige dich. Ist Edwin vor Ort?«

»Edwin ist nicht hier. Er wird auch nicht mehr kommen, denke ich.«

»Dann sei zufrieden und beruhige dich. Wenn er nicht am Hafen ist, kommt auch keine Ware.«

»Stimmt … Okay, Beatrice. Ich vertraue Ihnen. Eine Frage noch: Haben Sie sich zurückgemeldet? Ich sollte Sie erinnern.«

»Ja, danke. Den Rückruf habe ich ebenfalls umgehend erhalten.«

Beatrice Strasser begab sich an einen Ecktisch hinten in der Hotelbar. Sie überflog die Karte und bestellte eine Currywurst mit Pommes frites und ein Alt. Sie hatte sich während des ganzen Fluges darauf gefreut. Sie genoss es. Zwischendurch sah sie mehrmals auf ihre Uhr. Als sie nach weiteren Wünschen gefragt wurde, bestellte sie ein Glas Merlot und ein gemischtes Eis, weil Tiramisu nicht im Angebot war. Die Auswahl der Aromen überließ sie dem Keeper. Die Uhr zeigte inzwischen zehn Uhr, als endlich die Bestätigung kam, dass die Fahndung nichts ergeben hatte.

»Es war eine Blamage sondergleichen, Chefin. Woher hatten Sie die Informationen? Inzwischen haben die ersten Wagen das Hafengelände verlassen. Der Zoll untersucht weiterhin die Container, aber unsere Kiste ist längst im Lagerhaus. Ich habe Bescheid gegeben, den Behälter abzuholen.«

»Richtig. Was sagt Mike?«

»Er war nicht dabei. War auch nicht nötig. Das Schiff war früh dran. Wir hatten ihn informiert, aber er konnte nicht abkommen. Er hatte einiges zu erledigen.«

»Weißt du, wo er war?«

»Ich glaube, er hat Entgelt für die Waren eingetrieben.«

»Wann holst du mich ab? Ich bin im Hilton.«

»Ich kann sofort los. Bin in einer Dreiviertelstunde am Eingang. Warten Sie in der Halle?«

»Ich habe bereits eingecheckt. Morgen nach dem Frühstück reicht mir. Halb elf?«

»Geht klar, Chefin. Bin zehn dreißig vor Ort.«

»Bis dann.«

Fuller bekam sie nur mehr aus den Augenwinkeln zu Gesicht. Er war beschäftigt. Sie hatte das Quick Check-out bevorzugt und die Zimmerkarte bei einem Kollegen zurückgegeben. Der Portier half ihr mit dem Koffer und den noblen Einkaufstaschen mehrerer bekannter Designerläden, denen sie offensichtlich gestern einen Besuch abgestattet hatte. Sie besprach sich mit dem Chauffeur. Als der Portier alles im Kofferraum des Siebener BMW verstaut hatte, ließ der Chauffeur die Dame hinter dem Beifahrersitz Platz nehmen. Er lehnte leise die Tür an, die sich mit einem kleinen Summton selbst zuzog. Beinahe unsichtbar steckte er dem Portier einen Schein zu als Aufmerksamkeit für die Hilfe.

Kapitel 2.

Es waren zwei Stunden nach Mitternacht, als Oliver Hallstein seinen Chef, Kommissar Berendtsen, aus dem Bett schellte. Das Handy lag auf dem Nachttisch. Es gab keine Ruhe. Berendtsen brauchte einige Sekunden, sich zu sortieren.

»Sag mal, weißt du, wie spät es ist? Bist du wahnsinnig?«, entfuhr es ihm. Die Frage tat ihm sogleich leid, denn Berendtsen wusste, dass Hallstein ihn nicht zum eigenen Vergnügen aus dem Schlaf riss.

»Das glaube ich nicht, Chef. Es gibt ein Problem. In Dorsten ist in einer Laube einer Schrebergartenanlage die Gasflasche explodiert. Die Feuerwehr wurde gerufen und stellte bald fest, dass es sich um einen Bombenanschlag gehandelt haben muss. Sie haben Spuren eines Zünders gefunden. Also ist es ein Fall für uns. Soll ich dich abholen?«

»Wie ich höre, bist du bereits vor Ort? Es hört sich nach viel Betrieb an.«

»So ist es, Albert. Ich bin seit einer Viertelstunde hier. Ich kann nichts unternehmen. Die Roten haben alles in Beschlag. Der Brand ist immer noch nicht vollständig gelöscht. Ein Nachbar hat die Feuerwehr und den Notarzt informiert.«

»Du brauchst mich nicht abzuholen. Ich kenne die Lauben. Es ist von hier aus nicht weit.« Er sah aus dem Küchenfenster den erhellten Himmel, nicht unähnlich dem über der EON-Flamme in Gelsenkirchen-Hassel, die er von Zeit zu Zeit aus seinem Garten beobachten konnte. Er benötigte samt Dusche und einem Schluck Kaffee, den seine Frau Irmgard ihm schnell in der Espressomaschine zubereitet hatte, fünfzehn Minuten bis auf die Brücke, von der aus er schon die Flamme erkennen konnte. Zwei Polizeiwagen waren ebenfalls vor Ort. In der Einfahrt zum Parkplatz der Anlage schaltete er sein Blaulicht ein, das in diesem Wagen bereits hinter dem Kühlergrill und neben den Scheinwerfern installiert war. So wussten die Herumstehenden gleich Bescheid und leiteten den Wagen durch das Gewimmel von Zuschauern zu der Hütte oder dem, was davon übrig war. Nicht eine Wand stand mehr. Den Bewohner hatten sie bereits geborgen. Er hatte drei Meter außerhalb der Hütte gelegen. Die Roten, wie die Polizei die Feuerwehrleute nannte, waren dank zweier Hydranten alsbald in der Lage, die letzten Glutreste zu ersticken. Eine Plastikfußmatte und das Linoleum qualmten fürchterlich.

»Irgendwelche Infos?«, sprach Berendtsen den erstbesten Mann an. Dieser verwies ihn an den Einsatzleiter. Die beiden kannten sich.

Der Mann öffnete sein Visier. »Guten Abend, Herr Berendtsen. Man kann schon besser einen guten Morgen wünschen. Also … die Sache ist die: Die Propangasflasche ist explodiert. Das steht fest. Aber es steht auch fest, dass sie nicht selbständig explodiert ist. Sie wurde ferngezündet. Wir haben das hier gefunden.«

Berendtsen besah sich eine wenige Zentimeter große Platine, an der eine kleine Antenne festgebacken war.

»Durch die Hitze?«, fragte er den Einsatzleiter

»Auf jeden Fall. Wir haben die restlichen Bruchstücke ebenfalls sichergestellt. Auch größere. Es war offensichtlich eine Fernzündung über ein Funkgerät, sehr klein, aber es hat gereicht.«

»Als Kind hatte ich auch so eins. Es waren zwei Kugelschreiber, mit denen mein Freund und ich miteinander sprechen konnten. Ich habe es zu Weihnachten bekommen. War zu der Zeit, als die ersten Spionagefilme im Kino auftauchten. Sie waren teurer als heute die Mobiltelefone. Sie reichten gerade von einem Zimmer zum anderen.«

»Es gab einen Toten. Der liegt dort drüben auf der Trage unter der Plane. Ein Nachbar hat ihn gefunden. Er war anscheinend nicht in seiner Laube, als es geknallt hat, aber auch nicht weit genug davon entfernt. Es hat ihn erwischt. Der Nachbar glaubt, er habe noch etwas sagen wollen.«

»Wo finde ich den Mann?«

»Er ist nebenan in seinem Garten. Er wartet auf Sie. Soll ich Sie hinbringen?«

»Den finde ich auch so.«

Berendtsen suchte und fand Hallstein. Sie gingen zusammen. Er suchte seine Taschen ab, aber er musste feststellen, dass er die Tüte mit den Gummibärchen zuhause hatte liegenlassen. Hallstein wusste, was fehlte. Er zog eine Minitüte Bärchen aus der Tasche.

»Bitte sehr.«

»Seit wann bist du Selbstversorger?«

»Ich war in der vorigen Woche mit den Kindern zur Vorsorge und zum Impfen. Weil sie so brav gewesen sind, durften sie sich eine Tüte nehmen. Allerdings musste ich sie vor dem Essen einstecken. Hinterher haben sie es vergessen. Heute Nacht habe ich sie in der Jackentasche wiedergefunden.«

Sie teilten brüderlich.

»Sind deine Kinder geweckt worden? Wer hat dich angerufen?«

»Feil hat mich kontaktiert. Er und Frank waren nach dem Notruf hierher beordert worden. Es war sehr schnell klar, dass es kein Unfall war. Da hat er mich – Gott sei Dank, der Mann hat mitgedacht – auf dem Handy angerufen. So sind nur meine Frau und ich geweckt worden. Ich war im Tiefschlaf. Musste mich erst einmal sortieren, bis ich gemerkt hatte, dass mein Handy klingelte.«

Der Nachbar, Walter Niesser, saß auf einem Hocker in der Tür. Mit einer Flasche Doppelkorn aus Raesfeld in der einen und einem Fuhrmannspinnchen in der anderen Hand. Seine Frau Renate hinter ihm nahm gerade den letzten Schluck aus ihrem kleineren Glas. Sie hatten Jacken über ihre Schlafanzüge geworfen. Er bevorzugte Karos, sie Streifen. Die Füße steckten in Filzpantoffeln.

»Sie haben die Feuerwehr benachrichtigt?«

»Und den Notarzt.« Er leerte sein Glas. »Ich habe den Knall gehört. Nicht nur ich. Die anderen kamen auch zusammen. Es war eine fürchterliche Hitze. Wegen der qualmenden Dachpappe konnte ich kaum etwas erkennen. Das Spalier und manche Bretter sind bis auf meine Scholle und an die Gartentür geflogen. Das Fenster an der Seite ist zersplittert. Wenn Sie sich das einmal ansehen wollen.«

»Dafür ist später noch Zeit«, wandte Berendtsen ein, aber der Mann war bereits unterwegs. Das Licht, das aus den beiden Vorderfenstern drang, war eben ausreichend, die schmalen Natursteinplatten zu erleuchten, die für den Weg zur Abfalltonne angelegt waren.

Hallstein schoss zwei Fotos zu seiner Beruhigung. Berendtsen sah sich um. Zwanzig Meter trotz Hecke.

»Dann hörte ich durch das Brandgetöse jemanden jammern und stöhnen. Ich fand ihn zwei Meter von der Tür entfernt in der Nähe von Willis Hecke, der Nachbar auf der anderen Seite. Als ich mich über ihn beugte, versuchte er, mir etwas zu sagen. Es klang wie: ›Baumarkt‹. Er zog mich am Arm und stöhnte zweimal ›Baumarkt‹. Dann klammerte er sich an mich, röchelte kurz und … das war’s. Diesen letzten Blick werde ich nie vergessen, Herr …« Er goss sich und seiner Frau nach.

Berendtsen wies sich aus und stellte sich vor.

»Hauptkommissar Berendtsen, Kriminalpolizei Recklinghausen. Mein Kollege Kommissar Hallstein.« Er steckte seine Karte wieder ein. »›Baumarkt‹ hat er gesagt?«

»So hat es geklungen. Sicher bin ich nicht. Ich konnte ihn schlecht verstehen. Das Getöse durch die Flammen war enorm. Er konnte nur mit Mühe sehr leise sprechen. Manni und ich haben ihn vom Brandherd weggezogen. Dann hat es noch einmal fürchterlich geknallt. Als wäre ein Benzinkanister explodiert. Die Flammen loderten nochmals mächtig auf. Als die Feuerwehr die Löscharbeiten im Griff hatte, hat der Sani nur noch seinen Tod feststellen können.«

Er goss sich und seiner Frau, die ihm ihr Glas hinhielt, nach.

»Auch einen?«

Mit einem freundlichen »Im Dienst« lehnten sie ab.

»Sie haben ihn vom Brandherd weggezogen. Wo hat er gelegen, als sie gekommen sind?«

»Er war zwei Meter von der Tür entfernt. Wir haben ihn bis an die Stellte gezogen, wo die Feuerwehr die Markierung aufgestellt hat. Wir haben befürchtet, dass er sonst völlig verbrennt. Beim zweiten Knall ist allerdings eine Spanplatte auf ihn geflogen. Ich glaube, es ist von ihm nicht viel übrig.«

»Kennen Sie den Toten?«, setzte Hallstein das Gespräch fort.

»Natürlich. Mike heißt er. Nachnamen weiß ich nicht. Er hat ihn mir genannt, als er einzog, aber wir sprechen uns hier alle mit Vornamen an.«

»Wo ist Manni jetzt?«

»Er kommt gerade durch das Tor.«

Niesser übernahm das Gespräch und stellte die Herren vor.

»Die Hauptkommissare Berendtsen und Hallstein … Herr Maranowski. Sie möchten wissen, wie Mike mit Hausnamen hieß.«

»Manfred Maranowski, angenehm. Ich weiß auch nur, dass er Mike heißt.«

»Haben Sie eventuell verstanden, was der Tote hat mitteilen wollen?«, fragte Berendtsen

»Ich kann dazu nichts sagen. Walter hat sich über ihn gebeugt. Ich habe nichts gehört. Ich habe wohl gesehen, dass er die Lippen bewegte. Angst hat er gehabt und Piene.«

»Haben Sie in den letzten Tagen oder Stunden irgendetwas beobachtet, was uns in diesem Fall weiterhelfen könnte?

»Nein. Nichts.« Beide schüttelten den Kopf.

Frau Niesser hatte ein zweites Fuhrmannspinnchen aufgetrieben. Manni nahm dankend an, nickte in die Runde, trank aus und zeigte das leere Glas vor. Dabei stellte er fest, dass die Kommissare nicht tranken.

Sie goss allen nochmals ein.

 

»Unbekannte Spaziergänger? Fahrradfahrer? Vielleicht jemand, der von dort oben an der Straße Fotos geschossen hat?«, präzisierte Hallstein.

Beide hatten nichts bemerkt. Freunde, die ihn besucht hatten, kannten sie auch keine.

Berendtsen bedankte sich für die Hilfe und bat die beiden, sich zur Verfügung zu halten. Hallstein notierte sich ihre Daten.

Berendtsen rieb sich die Arme. »Kalt ohne Feuer.« Dann fragte er: »Sag mal, Oliver, hast du etwas über den Toten erfahren?«

»Nein, aber der Platzwart ist unterwegs. Er hat mit Sicherheit ein Verzeichnis.«

»Kann mal jemand die Gaffer zurückdrängen?«, schrie einer der Feuerwehrleute. Die beiden Streifenpolizisten Joachim Frank und Robert Feil, die dabei waren, die Personalien der Zuschauer aufzunehmen, fühlten sich sofort angesprochen und drängten die Menge ohne Probleme zurück. Anschließend fuhren sie mit ihrer Tätigkeit fort. Eine Person wies sich als Reporter der Ruhrzeitung aus. Berendtsen kannte Herrn Leying aus früheren Begegnungen und gab Anweisung, ihn durchzulassen. Dieser bedankte sich und grüßte von Franz Roloff, dem Inhaber der Zeitung und Berendtsens Nachbar in der Puccinistraße in Dorsten.

»Hat man Sie hinzugezogen, Herr Berendtsen? Vermutet man Fremdeinwirkung?«

»Sie wissen, Herr Leying, ich kann und darf zu diesem Zeitpunkt keine Auskunft geben. Sie könnten allerdings für mich einige zusätzliche Fotos von den Zuschauern ringsum schießen. Um diese Leute kümmert sich die Spurensicherung nicht. Nicht für die Ausgabe! Ich verlasse mich auf Sie!«

»Gerne, Herr Hauptkommissar. Sie werden es nicht bereuen.«

»Geben Sie ihr Bestes! Ihr Allerbestes!«, empfahl Berendtsen. Er kannte den Mann, der stets seine Zusagen eingehalten hatte.

Alsbald kamen die Ameisen, wie er die Spurensicherung nannte. Heute in der Nacht hatte Willi Schmidt lediglich vier junge Leute mitgebracht. Die Feuerwehrleute brauchten einige Minuten, um ihr Gerät abzuziehen. Daraufhin bahnten sie sich den Weg rückwärts durch die abziehende Menge und hielten erst, als sie vor dem Gartentor standen. Sie waren mit dem kleinen Wagen da.

»Hallo Willi«, grüßte Berendtsen seinen Freund Willi Schmidt, den Chef der Spurensicherung. »Schon so früh auf den Beinen?«, ulkte er.

Die Mitarbeiter waren ausgeschwärmt und steckten kleine Tafeln mit Zahlen an markanten Punkten in die Erde. Die Eins steckte neben der Markierung der Feuerwehr.

Willi schoss einige Fotos mit einer Kamera, an der ein mächtiges Blitzlicht montiert war. Dann standen die Scheinwerfer. Willi gab die Kamera an den Fotografen der Spurensicherung.

»Was sollen wir machen, Albert? Haben wir eine Wahl? Hast du schon Interviews geführt? Weißt du schon, was passiert ist? Genau passiert ist, meine ich?«

»Viele Fragen auf einmal. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt. Wir warten auf den Platzwart.«

Willi schickte einen der vier Leute, die er mitgebracht hatte, vor. Er sollte sich überzeugen, dass keine Glut mehr auszumachen und Zutritt möglich war. Der Mann setzte eine ABC-Maske auf und machte sich mit einem Analysegerät an die Arbeit.

»Einsturzgefährdung besteht offensichtlich nicht«, witzelte Willi Schmidt.

»Keine giftigen Gase auszumachen.« Der Mann nahm die Gasmaske ab. »War nicht unbedingt zu erwarten. Es ist offensichtlich eine Menge Dachpappe, Styropor und Farbe verbrannt. Der leichte Wind hat alles vertrieben. Bloß gut, dass nicht so ein Sturm geht wie vorgestern. Der hätte das Feuer vorangetrieben. Dann Adieu Waldfrieden.« Er winkte seinen Kollegen zu. »Wir können rein!«

Die Kofferraumklappe hob sich und die Leute packten ihre Utensilien aus. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Drei Leute sahen sich im Garten um, der vierte beschäftigte sich mit der Leiche. Willi und Albert standen zusammen und besahen sich das Schlachtfeld.

»Wer kommt auf die Idee, einen Bombenanschlag in einem Schrebergarten zu verüben? Nichts anderes war es.« Willi rieb sich mit dem Ärmel über die Stirn. Ein Rest der Hitze war noch immer zu spüren.

»Sieh mal in seinen Hosentaschen nach!«, rief er dem Kollegen an der Leiche zu.

»Bereits geschehen. Nichts.«

Berendtsen lieh sich von einem Feuerwehrmann die Taschenlampe und suchte das Areal um den Toten ab. Er fand ein Smartphone. Er stülpte eine Plastiktüre darüber, packte es ein und gab es Willi.

»Gut, Albert. Danke.«

»Guten Morgen, die Herren.«

Berendtsen sah auf die Uhr. Halb vier.

»Ich bin der Platzwart. Heinz Drache. Ich habe sein Datenblatt mitgebracht.« Er hielt dem Kommissar die Mappe hin.

Berendtsen stutzte. Besah sich den Mann.

»Sie heißen nicht nur wie der bekannte Schauspieler, sie haben auch die gleiche Bürstenfrisur.«

»Nicht wahr?«, lachte der Platzwart.

»Wunderbar!« Berendtsen hatte die Seite überflogen. »Michael Hartmann, gemeldet in Bottrop. Vierunddreißig Jahre. Was macht ein solch junger Kerl hier mit einem Schrebergarten? Sie haben doch andere Interessen in dem Alter.« Er zeigte Willi den Eintrag.

Die Antwort wusste Hallstein. »Er wohnte hier ständig, sagt Niesser. »Eingezogen ist er am 1. Oktober. Auch im Januar und Februar, als es so kalt war.«

»Was macht er dann mit einer Adresse in Bottrop. Hat er sich mal darüber ausgelassen, ob es eine Wohnung, ein Apartment oder gar ein Haus ist?«, fragte Berendtsen den Platzwart.

»Nein.«

»Ruf mal im Präsidium an, Oliver. Vielleicht bekommt die Nachtschicht etwas über den Mann heraus.«

Die Spusi sammelte reichlich Material, aber Willi bezweifelte, dass etwas davon zu gebrauchen war. Alles war mehr oder minder verkohlt. Er präsentierte Albert seine magere Ausbeute: Ladegeräte, die ursprünglich weiß waren, bis auf das Metall abgebrannte Kopfhörer und eine Lampe mit Qi Ladestation. In der Wanne der Mitarbeiter sah es nicht anders aus.

Berendtsen sah, dass bei Niesser noch Licht brannte. Er ging hinüber und klopfte an.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Niesser. Ich habe noch eine Frage: Ist Herr Hartmann, so lautet der Nachname Ihres Nachbarn, regelmäßig einer Beschäftigung nachgegangen?«

»Er hat gearbeitet, aber nicht zu so regelmäßigen Schichten, wie wir Alten es kennen. Manchmal war er schon früh unterwegs, manchmal spät, manche Tage war er gar nicht weg. Dann wiederum bekam man ihn mehrere Tage nicht zu Gesicht. Er hat dann erzählt, dass er für die Firma zwei oder drei Tage unterwegs sein müsste und bat uns, auf sein Anwesen ein Auge zu werfen. Hinterher gab es immer eine Flasche Korn zum Dank. Es gab niemals etwas Ungewöhnliches. Computer und Internetanschluss hat er sich angeschafft. Er hat viel geschrieben.«

»Danke. Und entschuldigen Sie die abermalige Störung.«

»Macht gar nichts, Herr Kommissar. Wir beide können sowieso nicht schlafen. Wir sitzen am Tisch und reagieren uns ab.« Er prostete Berendtsen symbolisch zu und führte die Hand zum Mund.

»Kommt dort der Leichenwagen?«

Berendtsen nickte.

»Ich werde ihm die Durchfahrt freimachen«, beschloss er und bewegte sich auf die Einfahrt zu.