Das Buch von Ela

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Das Buch von Ela
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GERD SCHUSTER

Das Buch von Ela

Eine Katzenbiografie

mit 90 Fotos von

Elke und Gerd Schuster

FinEboox

Gerd Schuster

»Das Buch von Ela«

Eine Katzenbiografie

Copyright © 2013: Gerd Schuster

g.schuster@fineboox.de

Layout/Cover: Elke Schuster

www.boehmdesign.net

Beratung/Koordination: Michael Schneider

Version: 1.0

Umfang: 516 Seiten auf Basis der Normseite

mit 30 Zeilen zu 60 Anschlägen;

590.291 Zeichen inkl. Leerzeichen

www.fineboox.de

Published by

epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-5655-0

Der Autor:

Gerd Schuster wurde im Juni 1946 in Limburg an der Lahn geboren, wo er schon als Gymnasiast Artikel für Zeitungen – u.a. die FAZ – schrieb. Nach dem Studium an den Universitäten Frankfurt und Mainz und dem Erwerb des akademischen Grades eines Diplomübersetzers zog Schuster 1972 nach London. Dort arbeitete er als Lexikograph bei George G. Harrap und ab 1974 als Redakteur für den deutschen Dienst der Washington Post und der Los Angeles Times. Nach zwei Jahren als Leiter des Dienstes ging er 1978 nach Bonn zur Nachrichtenagentur Reuters, wo er sehr erfolgreich unter eigenem Namen Wissenschafts-Features schrieb. Bei Reuter wurde Schuster slot man, Schichtleiter.

1983 wechselte er aus Überzeugung zum neugegründeten Umweltmagazin »natur« nach München, wo er bis zum Ausscheiden von Gründer und Chefredakteur Horst Stern blieb. Er schrieb weiter für die FAZ, unter anderem eine Reportage über den Flug mit einem Wetterflugzeug der NOAA-»Hurricane Hunters« durch das Auge des Mega-Hurrikans »Gilbert« (1985), mit dem er in die Endausscheidung des Kisch-Preises kam.

Ende 1988 verließ Schuster das zahnlos gewordene Öko-Blatt und ging am 1. Februar 1989 als Leiter eines neugegründeten Ressorts »Ökologie, Wissenschaft und Forschung« zum Magazin Stern nach Hamburg. Nach einem Jahr Verwaltungsarbeit wurde Schuster Reporter, was ihm mehr lag. Als produktiver Schreiber und »Edelfeder« zeichnete sich Schuster durch akribische Recherche und Wagemut aus. Neben riskanten Themen wie dem Krieg in Kuwait, dem amerikanischen Atomwaffentestgebiet Nevada Test Site, der Pestepidemie in Indien oder der Greenpeace-Aktion gegen die Atominsel Moruroa sowie lebensmittelchemischen Enthüllungsartikeln widmete sich Schuster immer mehr anspruchsvollen Tiergeschichten. Bis zu seinem Ausscheiden beim Stern Ende März 2006 verfasste Schuster rund siebzig solcher Reportagen, in denen er häufig Tierquälerei aufdeckte. Immer wieder kam es nach Veröffentlichung zu Gesetzesänderungen zugunsten der Tiere.

Für seine Arbeit wurde Schuster mehrfach ausgezeichnet, unter anderem vom Deutschen Tierschutzbund (2005). 2006 belegte er beim IUCN-Reuters-Wettbewerb für Umweltberichterstattung den zweiten Preis in der Kategorie Europa, 2007 wurde ihm der José-Lutzenberger-Preis für investigativen Journalismus verliehen.

Schuster ist Autor oder Ko-Autor von vier Büchern, darunter »Die Denker des Dschungels« (2007, Text von Schuster), das zum Bestseller wurde und bisher in drei Sprachen übersetzt worden ist. Außerdem hat Schuster Beiträge in rund fünfzig Büchern veröffentlicht.


Das Buch:

Sieben Jahre mit einer Katze – ja und? Warum ein derart detailliertes Portrait, ein voluminöses Tagebuch, so viel Aufhebens wie um einen VIP? Millionen Deutsche leben ebenso lange und länger mit Stubentigern zusammen, ohne eine Zeile über diese zu schreiben. Was ist an der kleinen, pummeligen Katze Ela, ein »Karthäuser-Mix« aus Athen, so interessant, dass ein bekannter Journalist sie so ausführlich »interviewt« hat?

Zu Beginn seiner Tätigkeit als Katzen-Reporter hätte der Autor diese Frage selber nicht beantworten können; denn das Portrait von Ela war zunächst eine Geschenk-Idee. Es sollte nur zwei Jahre umfassen und war für die Besitzerin von Ela gedacht. Es war Gerd Schuster zwar schon damals bewusst, dass Ela eine außergewöhnlich kluge und sprachgewandte Katze war, die immer wieder durch Streiche, Eskapaden und rationelles Handeln auffiel; sonst hätte er nie ein Portrait geplant. Aber er war auf zahlreiche Wesenszüge und Talente Elas nicht vorbereitet. Er erkannte während der Recherche, dass Ela eine viel-schichtige Persönlichkeit mit erstaunlichem Tiefgang war und weitaus intelligenter in die Welt blickte, als er – für akribische Recherche bekannter Wissenschaftsjournalist eines großen Hamburger Wochenmagazin – für möglich gehalten hätte.

Ela, wurde ihm klar, wusste sich – wenn auch auf andere Art und Weise - ebenso gut auszudrücken wie viele seiner menschlichen Interviewpartner und wollte wie diese als gleichberechtigt anerkannt und behandelt werden. Sie verstand Bitten und Ermahnungen auf frappierende Weise, erinnerte sich über Tage an Versprechen von ihm und forderte deren Erfüllung. Im Auto, in dem sie gern chauffiert wurde, kannte sie den Weg zu seiner Wohnung genau, und wenn sie »Ja!« sagte (mit einwandfreier Aussprache!) hatte das immer Sinn.

Resultat der Beobachtungen von Ela sind über 350 liebevolle kleine Geschichten über Possen, Selbstbehauptung, Zärtlichkeit, Katzenstarrsinn, Genießertum, Welterkundung, Lebenslust und katzentypisches Unabhängigkeitsstreben. Sie werden ergänzt durch acht Kapitel, die Ela als Schmusekatze, Gourmet, Bettgenosse, Raubtier, Reisende, Intelligenz-Bestie, Sprachwunder, Prinzessin auf der Erbse, Spiel-Mieze und Kratzbürste schildern. Der Leser begleitet Ela durch sieben Jahre mit ihren sommerlichen Balkonfreuden und Entdeckungen, lernt ihre Lieblingsleckereien (u.a. geriebener Parmesan und rohen Teig!) und ihre Vorliebe für Zwiebeln und Knoblauch kennen, wird Zeuge ihrer Sprachbegabung (der Autor hat 39 »Wörter« Elas dokumentiert), wird mit ihr krank und freut sich über die Genesung.

Ela, die nachts am Bauch von »Frauchen« schlief und das Bett des Autors ungeachtet seiner schreiberischen Bemühungen tunlichst mied, begrüßte den Autor am Telefon in mehr als einem Gespräch um die halbe Welt mit »Gerd!«. Sie wurde neunzehneinhalb Jahre alt.

Der Autor hat durch Ela die später bei Beobachtung vieler anderer Tiere vom Orangutan bis zum Schwertwal weiter untermauerte Einsicht gewonnen, dass die intellektuellen Fähigkeiten der Tiere weitaus größer sein müssen, als das der heutigen Zoologie lieb ist. Die ungewöhnliche und trotz aller Zuneigung niemals verkitschte Geschichte von Ela zeigt auf unaufdringliche und oftmals sehr lustige Art und Weise, dass Tiere keine Wesen zweiter Klasse sind, sondern Mitgeschöpfe.

Die Mehrzahl der im Buch geschilderten Begebenheiten – etwa Elas Weg durch die geschlossene Jalousie, die den Weg zu den Brekkies versperrte – sind von »Frauchen« Elke Schuster (einer ausgebildeten Fotografin) auf vielen Fotos dokumentiert worden.




1. Januar 2000

Mit viel Getöse, buntem Feuerwerk und Schwefelqualm ist eben das dritte Jahrtausend eingeböllert worden. Die von zahlreichen Spökenkiekern für den Beginn des neuen Millenniums prognostizierte globale Technik–Katastrophe dürfte ausgeblieben sein; denn etwas mehr als zwei Stunden nach Mitternacht fehlen entsprechende Nachrichten immer noch, obwohl alle Medien auf Pannen gelauert haben dürften wie Schießhunde.

Dass die Computer– und Sicherheitsexperten mit ihren Orakeln unrecht hatten, ältere Rechner, die das Datum 1. 1. 2000 nicht »verdauen« könnten, würden abstürzen und Kraftwerke, Fernzüge und Kühlhäuser lahmlegen, hat mich wenig überrascht. Schließlich hatten die Ingenieure der betroffenen Branchen monatelang Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Horrorszenarien gab es ja genügend.

Überrascht hat mich dagegen unsere Katze Ela. Das kleine dralle Grauchen hat ihr fünftes Silvester bei uns erstmals nicht angstzitternd im Schlafzimmerschrank oder unter dem Bett verbracht, sondern tapfer auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Ledersofa ausgeharrt. Sie lag ruhig da, dicht neben Frauchen Elke. Zwar rotierten während der Knallerei ihre Ohren und zuckten bei allzu schrillen Heulern auch einmal, und sie schrak ein paar Mal zusammen, wenn es gar zu doll und nah blitzte oder krachte. Aber sie rannte nicht weg.

Als wir nach dem Anstoßen um Mitternacht kurz auf den Balkon traten, um das Feuerwerk der Anderen anzuschauen, wurde Ela wegen des Lärmschwalls beim Öffnen der Tür kurzzeitig nervös; aber sie blieb dennoch auf ihrer indischen Decke liegen. Auch, als wenig später zwei Züge der Feuerwehr mit Sirenengejaule und Martinshorntröten durch den Schrammsweg preschten.

War es Erfahrung, Routine, die Weisheit des Alters – unsere Süße wird im Mai immerhin schon dreizehn – oder war es wirklich, wie ich glaube, die Konsequenz meiner »Unterredung« mit ihr ein paar Stunden zuvor?

Ich hatte mich neben Ela auf den Teppich gelegt und ihr ruhig erklärt, was Silvester ist und warum die Menschen solch einen schrecklichen Krach machen. Dass es keine Katzentreibjagd ist und kein Krieg, sondern eine besondere Form der rituellen Fröhlichkeit, Geldverschwendung und Umweltverschmutzung, wenn nicht gar der Brandstiftung und Selbstverstümmelung.

 

Ich habe ihr hoch und heilig versprochen, dass ihr nichts passieren werde. War ihr, fragte ich, trotz des katzenohrenzerfetzenden Radaus bei den Silvesternächten zuvor etwas geschehen? Nein! Und dieses Mal würde ich persönlich für ihre Sicherheit garantieren.

Wer mitleidig lächelt, wenn er das liest, kennt Ela nicht, hält Tiere generell für tumb oder hat noch nie mit einem Stubentiger zusammengelebt.

Dass die Katze versteht, was man ihr sagen will, halte ich bei allem Engagement für unbedingte faktische Korrektheit, der Essenz meines Jobs als Wissenschaftsjournalist, für erwiesen. In diesem Tagebuch gibt es eine Fülle von Beispielen oder Belegen dafür – etwa (ich habe dies später eingefügt) die Sache mit der Lipom–Operation und dem Verband von Ende März 2002.

Weil mich Elas Vertrauen, ihre Lernfähigkeit, ihre Vernunft und Intelligenz so tief beeindruckt haben und man zu Beginn eines neuen Jahrtausends gute Vorsätze fassen sollte, habe ich beschlossen, mit diesem Katzen–Tagebuch anzufangen. Ohne schriftliche Dokumentation würden all die vielen wundersamen kleinen und großen Ereignisse, in deren Genuss Ela uns kommen lässt, rasch in Vergessenheit geraten – so wie neunundneunzig Prozent all jener, die sich seit Sommer 1995 abgespielt haben und die ich nicht notiert habe.

In jenem denkwürdigen Heumond (ist das nicht ein schönes, unverdienterweise fast vergessenes Wort?) trafen Ela und Elke bei deren Freundin W. zum ersten Mal aufeinander. »Scheidungskind« Ela, zu ihrem Verdruss die meiste Zeit alleine in der Wohnung, sprang auf Elkes Schoß und verließ diesen nicht mehr. Sie »adoptierte« Elke gleichsam.

W. und ihr Mann hatten als Lehrer in Athen gearbeitet. Kurz nach der Rückkehr nach Hamburg war ihre Ehe in die Brüche gegangen. Weil W. sich daraufhin in die Arbeit stürzte und nicht nur tagsüber, sondern auch abends Termine – Fortbildung, Elternabende und was es sonst an Schulen noch alles gibt – wahrnahm, war Ela sehr einsam, und sie litt schlimm.

Zunächst kam das Grauchen während W. s Urlaub zu Elke – und schlüpfte schon in der allerersten Nacht in deren Bett! Als Elke das nächste Mal (überglücklich, denn sie hatte ihre beiden Kätzchen nach dem Tod ihres letzten Mannes und dem Verlust des Rahlstedter Hauses abgegeben!) Pflegemutter spielte, holte W. ihr Kleinraubtier monatelang nicht ab. Schließlich kamen die Damen überein, die Katze bei Elke zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt waren das neue Frauchen und ihre neue Katze schon längst ein Herz und eine Seele.

Ab und zu habe ich mir ganz besondere Eskapaden Elas in Stichworten auf Zetteln notiert. Aber wenn ich dann aus Indien, Nepal, Afrika, den USA oder Australien zurückkam, hatte ich vergessen, an was mich das Gekritzel erinnern sollte.

Für das Tagebuch spricht noch mehr: Weil ich beim »Stern« dermaßen eingespannt bin beziehungsweise mich wider jede Vernunft so stark engagiere, dass mir kaum Zeit für Privates bleibt (daran sind natürlich auch die ständigen Reisen schuld: 1999 müssen es hundert oder mehr Flüge gewesen sein) bastle ich als Konsequenz Geschenke für Elke nicht, sondern kaufe sie immer nur. Ich suche etwas aus und bezahle es. Das geht Ruck-Zuck, während Elke an Präsenten für mich oft wochen– oder gar monatelang arbeitet.

Dieses Missverhältnis hat mich immer gestört. Mit einem Ela–Buch kann ich mich endlich einmal quasi in »gleicher Münze« bedanken für die Gemälde, die Fotoalben, die bemalten Ostereier und Weihnachtskugeln.

Außerdem ist es unverzeihlich, dass ich zwar Zehntausende Zeilen für meinen Arbeitgeber geschrieben habe, Hunderte oder Tausende davon – in der Regel ohne meine Schuld – für den Papierkorb, die im Endeffekt weitaus lohnendere Aufzeichnung der Taten Elas aber unterlassen habe. Na, das ändert sich jetzt! Wie sagt man in England so schön? Better late than never!

Ela wird uns, so ist zu hoffen, noch einige Zeit erhalten bleiben. Viereinhalb Jahre lang habe ich meine Chronistenpflicht sträflich vernachlässigt; aber jetzt werde ich mich bemühen, alle Streiche, Intelligenzbelege, Possen, Abenteuer und Frechheiten festzuhalten, die Ela uns, ihre zweibeinigen Dosenöffner, miterleben lässt. Damit ich den Beweis antreten kann, und sei es nur mir und Elke gegenüber, welch wundersames Tier unser Kätzchen ist.

Was habe ich nicht alles von ihr gelernt: die egomane, aber dennoch zuwendungsbereite und –bedürftige Wesensart der Samtpfoten, ihr Balanceakt zwischen Kuschelkatze und selbstverantwortlichem Raubtier, zwischen verwöhntem Schnurrewesen und erbarmungsloser Vogel– und Mäuseschlächterin, ihre Zärtlichkeit, listige Berechnung und Klugheit. Und erfahren habe ich, wie sehr man ein derartiges Wesen lieben kann. Ich hätte es vorher nicht geglaubt.

Zunächst einmal unternehme ich den Versuch einer Personenbeschreibung. Es ist das Portrait eines Prinzesschens – manchmal eines auf der sprichwörtlichen Erbse.

Ela ist wunderschön. Sie trägt einen eleganten, distinguiert grauen, nur ganz dezent getigerten Nerz – wenn Nerz ihrem samtigen und seidigen Fell im Weichheitsvergleich überhaupt gerecht wird.

Unser Stubenraubtier hat flaschengrüne Augen, die nachts wie fluoreszierende Tropenmeere leuchten können und exquisit zu ihrer schiefergrauen Fellfarbe passen – wie ein großer Smaragd zu einem schlicht–aparten Modellkleid.

Sie hat ein hübsches Gesicht mit weiß umrandetem rosa Schnäuzchen und weißem Kinn, ein blütenweißes Lätzchen mit Krawatte (oder, je nach Betrachtungsweise, Halstuch) und ein festes weißes Ränzlein mit grauer Bauchbinde. Die Pfötchen, Wonne–Intensitätsanzeiger beim Streicheln, Fortbewegungsmittel und Mordwerkzeug in einem, stecken in vier adretten weißen Söckchen.

Es ist verhältnismäßig schwer, Ela wirklich detailgetreu zu schildern, obwohl sie sich problemlos ins Gesicht schauen lässt – und dabei (ganz nach Menschenart!) zurückstarrt, wie das Katzentiere von ihrem genetischen Verhaltenskodex her eigentlich gar nicht dürften. Naturgemäß präsentiert sie dem Betrachter aber immer nur einen Teil oder eine Seite ihres Leibes und keine 360–Grad–Ansicht.

Außerdem gibt es so viel an ihr zu entdecken, und – wenn sie in Reichweite ist – zu streicheln, dass man darüber den Rest allzu leicht vergisst.

Nicht weniger schwierig ist es, ihr Verhalten zu umreißen; denn es ist ja katzentypisch, einerseits Rituale zu zelebrieren, als seien sie ehern und unumstößlich, andererseits aber unberechenbares und irrlichterndes Verhalten an den Tag und die Nacht zu legen.

Sollte man also in menschlicher Manier mit dem liebgewonnenen, in oft nerviger Weise seinen Gewohnheiten frönenden Ritualtier rechnen, wird man immer wieder überraschend mit dem katzenfreien Felidenwesen konfrontiert, dem autonomen, seit–jeher–schon–ungebundenen, unabhängigen und unberechenbaren, rücksichtslos seiner Lust und seinen Launen lebenden Raubtier.

Manchmal geht es einem auch umgekehrt. Man erwartet das Raubtier, findet aber ein Stofftier vor.

Ela trägt, wie gesagt, ein helles bis mittleres, so gut wie überhaupt nicht getigertes schiefergrau, das auf dem Rücken am dunkelsten ist. Meist ist sie also uni grau. Bei bestimmten Lichtverhältnissen aber geschieht ein kleines Farbenwunder: Auf ihrem Rücken erscheint aus dem Nichts eine Anzahl dezenter, etwa fingerbreiter Querstreifen in etwas dunklerem Anthrazit, dazu sieben bis neun gleichermaßen dunkle Leopardenflecken, ungleichmäßig über den Hinterleib verteilt.

Wie es kommt, wissen wir nicht, aber wir haben dieses »latente« Katzenfellmuster erst ein paar Mal zu Gesicht bekommen – und waren jedes Mal erstaunt.

Unser Grauchen ist relativ kurz und rundlich, eine mollige Athener Gassenkatze eben, die im kühlen Hamburger Norden zur Prinzessin geadelt worden ist, und hat ein dementsprechend gemütlich–rundes Köpfchen. Ihrem gesellschaftlichen Rang kommt ihr Edelpelz zugute, den sie vermutlich einem geilen Kartäuserkater oder einer ebenso hormonberauschten Kätzin dieser Edelrasse unter ihren unmittelbaren Vorfahren verdankt. Und vielleicht einem griechischen Katzen–Gen. Denn einzig auf der Insel Santorin fanden wir Samtpfoten, deren Fell so seidig wie das von Ela war.

Ihr Gesicht ist herzig – obwohl der schnurrige Ausdruck der runden Bäckchen und der schläfrig geschlitzten Augen urplötzlich einem wachen kleinpupilligen und steilohrigen Raubtierlauern weichen kann oder einem mürrischen Griesgramblick. Und sich die zarten Pfötchen mit ihren kleinen Rosenquarzballen in Millisekunden zu gewebezerreißenden Mordwaffen verwandeln können.

Ihre Ohren sind, wie bei jeder Katze, unabhängig voneinander bewegliche Schallantennen, außen grau und innen hautbeige und voll weißlichen Langhaarflaums. Die dreieckigen »Fellschatten« der Ohren auf der Katzenstirn, die bis zu den Augen herunterreichen, sind ganz oben ein wenig schütter – wohl nicht nur durch das Alter, sondern auch, weil Ela dort wütend–kannibalisch und in schonungslosem Pfotenwirbel kratzt.

Die Stirn ziert ein vertikales Muster, das an eine Holzmaserung erinnert. Vier helle, fast beige Fellstreifen stehen dort in einem besonders dunkel gezeichneten Fellstück aufrecht wie Stirnfalten. Sie sind akkurat und spiegelgleich angeordnet: Zwei links der Mitte, zwei rechts von ihr. Die jeweils äußeren Streifen verschmelzen mit den hellen Augenrändern der Katze; die beiden inneren sind höher angesetzt und reichen weiter hinauf. In unmittelbarer Nähe der beiden hellen Fell–»Kommas« direkt über den Pupillen entspringen die elegant gebogenen Überaugen–Antennenhaare in losen Büscheln.

Die Mitte zwischen den Augen markiert der oberste Scheitelpunkt des weißen Dreiecks um Elas Schnäuzchenpartie. Wie eine Pfeilspitze zeigt er in wunderbarer Symmetrie aus seiner Position zwischen den Katzenaugen und auf halber Pupillenhöhe derselben nach oben, genau auf die Mitte des »Passes« zwischen den Ohren–»Gipfeln«.

Elas Schnäuzchen ist rundlich, wohlgeformt und schweinchenrosa. Es hat zwei hübsche kleine Nasenlöcher und wird an beiden Seiten flankiert von den Schnurrhaaren, die bei näherer Betrachtung in Reih und Glied sprießen wie Getreidehalme in vier »Ackerfurchen« mit deutlich erkennbaren Pflanzlöchern.

Die sensiblen Tasthaare, wissenschaftlich »vibrissae« genannt, sind ein wichtiges Element zur Gestaltung des Gesichtsausdrucks der Katze, denn wenn Ela einem Schüsselchen mit Futter oder Milch entgegenfiebert, sind sie nach vorn gereckt wie gierige kleine Greifarme. Manchmal hängen sie bei allem Vorwärtsdrang auch trauerweidenmäßig nach unten wie ein nasser Gaucho–Schnurrbart. Oder sie sind zurückgeklappt und weggefaltet.

Von den hellen Augenrändern führt eine schwungvolle dunkelfarbige Verlängerung im Wangenfell in weitem, am Ende absteigendem, fast gemalt aussehendem Bogen bis zu den dicken geplusterten Wangen. Im Grau unter ihm zeichnet sich ein helles »Negativ«– Spiegelbild von ihr ab, das ihren Verlauf nachzieht –auf den Kopf gestellt und in der Umkehrfarbe.

Das weiße Dreieck erweitert sich von seiner Spitze abwärts nach unten. Seine Schenkel verlaufen knapp außerhalb der Schnurrhaarzone. Unterhalb der runden Bäckchen, deren Indianerzeichnung ich bereits beschrieben habe, weitet es sich über die ganze Breite der Backen– und Kinnpartie aus.

Die Kehle ist blütenweiß. An beiden Seiten entspringt ihr eine vier– bis fünffingerbreite weiße »Binde«, die wie ein Stehkragen, der viel zu hoch um den Hals angelegt wurde, bis weit in den Nacken reicht – rechts bis in Höhe des Ohres, links etwa anderthalb Zentimeter darüber hinaus.

Dass Ela einen »Schlips« trägt, sieht man am besten, wenn sie aufgeräumt mit adrett zusammengestellten Vorderpfötchen dasitzt und einen anschaut – was sie gern und oft macht. Das feline Fell–Textil ist kein normaler Binder, sondern eine echte Katzenkrawatte: Sie sitzt nicht am oder unter dem Kehlkopf und teilt die schneeweiße Brust, sondern sie hängt bei Ela etwas tiefer und ermöglicht trotz Krawatte ein ungestörtes Brustfell! Dezent schimmert das Accessoire als vertikaler grauer Strich im weißen Dekolleté zwischen den Oberschenkeln. Man könnte glauben, sie habe den Knoten gelockert und den Kragenknopf geöffnet.

Die Wirkung des »Binders« (Frauchen Elke sieht in ihm eher ein Katzenhalstuch) wird verstärkt durch eine Art Katzenrüschenhemd: Das Brustfell bauscht sich, wenn Ela so püppchenhaft dasitzt, in zwei »Pelzohren« nach rechts und links über Elas Oberschenkel. Die symmetrischen weißen Fellhalbinseln reichen von der Brust bis etwa zur Mitte des Katzenschenkels und nach unten bis zu den Katzenknien, sodass sie manchmal wie »Reithosen« aussehen.

 

Elas Bauch ist schneeweiß wie die Brustpartie und noch weicher als das Rückenfell. Fast genau über die Mitte zieht sich ein breiter hellgrauer Querstreifen, der etwa ein Drittel des Bauches bedeckt.

Ela liebt es über alles, am Bauch gestreichelt zu werden. Es ist eine Geste grenzenlosen Vertrauens, wenn ein Tier seine »weichste« Stelle einem Menschen so präsentiert. Deshalb meint das Grauchen immer wieder, trotz unverminderter Streichellust ihre »Schwäche« nicht zeigen zu dürfen und wehrt – quasi aus Prinzip – meine krabbelnde Hand ab.

Als Mensch bedankt man sich für das Vertrauen am besten dadurch, dass man ein oder zwei Zitzchen findet und sie so lange – vorsichtig! – umkreist und liebkost, bis sie dick werden. Tut man das mit dem richtigen Fingerspitzengefühl, hält sogar Elas Schwanz still, der sonst oft unruhig oder einfach voller Eigenleben umherwedelt und –wuselt oder schlägt und peitscht. Das ist ein Zeichen für wahre Andacht.

Ein Risiko exzessiven und perfekten Streichelns besteht allerdings darin, dass Ela – man mag es von einer so alten Dame (Ela ist in Menschenjahre umgerechnet über 90!) gar nicht glauben – erregt wird. Das merkt man daran, dass ihr Schwanz, der vorher schlaff und zärtlichkeitsbenebelt herunterhing, auf einmal zum steifen flaggenmastähnlichen Hindernis wird und beim Streicheln irgendwie permanent im Weg ist.

Aber das ist nicht alles: Elas Hinterteil ruckt mit steigender Katzenhitzigkeit immer höher. Millimeterweise hebt es sich, wie von einer unsichtbaren Hydraulik bewegt, bis das Achterquartier der Katze vor dem Gesicht des streichelnden Menschen aufragt wie das Matterhorn und von dem gelifteten rückwärtigen Ende ein steiler Abhang zum Katzenkopf hinab führt. Den Flöhen an der Schwanzwurzel muss schwindlig werden.

Meist dauert es dann nicht mehr lange, bis Ela aufsteht und von meiner Brust springt. Staunende Bemerkungen der beiden Halter, von der Katze als kritisch missverstanden (Herrchen macht sich, unerhört ist das!, lustig über die »geile« Katze!, dabei ist es an allem schuld!) beschleunigen die felide Flucht.

Der Schwanz ist ebenfalls grau, zeigt aber eine dezente quergestreifte Tiger–Maserung. Er besitzt einen karottendicken knöchernen und muskulösen »Kern«. Im Vergleich zu Elas solidem Schweif fühlen sich die dünnen und schütterhaarigen Schwänzchen asiatischer Hunger–Katzen wie Spaghetti an.

Tigerstreifen finden sich auch, gleichermaßen vornehm und dezent an Elas Flanken. Hier entdeckt man acht oder neun vertikale dunkle Linien, zurückhaltend gefärbt und meist wenig auffällig, sublime Ausweise wildkätzischer Vergangenheit.

Elas vier weiße Söckchen sind etwa gleich lang und gehen ein wenig über den »Daumen« hinaus, haben aber eine unterschiedliche Passform: Der Rand der beiden vorderen hängt etwas durch, als sei das Gummi erschlafft, links deutlich mehr als rechts. Die linke hintere Socke sitzt perfekt; bei ihrem Gegenstück verläuft der Rand indessen im Zick–Zack – zweimal hoch, zweimal herunter, mit jeweils einer deutlichen Spitze auf jeder Pfotenhälfte.

Unser Kätzchen ist mit ihren zwölfeinhalb Jahren nicht mehr jung, glücklicherweise aber noch gesund. Ich sage »Kätzchen«, weil sich das Zimmer–Raubtier trotz seines Alters oft wie ein Baby benimmt. Es ist so liebebedürftig und anschmiegsam, dass es einem lästig fallen kann, wenn man dringende Arbeit zu erledigen hat – was Ela so wenig versteht wie eine Rauchschwalbe die Probleme eines Regenwurms und als mangelnde Zuwendungsbereitschaft und Liebe auslegt.

Bei Elke steigt Ela häufig über die Computertastatur (sie beherrscht bereits das Scrollen, das Öffnen von Fenstern und das Mausklicken!) auf den Schoß und lässt sich dort nieder, den Kopf auf das linke Handgelenk gestützt, den »Hexenzahn« zwecks Verankerung in die Haut gebohrt. Dass ihr Kopf beim Tippen ständig bewegt wird wie ein Autorad bei der Fahrt über einen Acker – der Alptraum einer »wilden« Gartenkatze! –, stört sie nicht. Oder gefällt ihr sogar.

Kürzlich hat sie sich sogar in der schmalen Lücke zwischen Tastatur und Bildschirm niedergelassen. Dabei hat sie mit ihrem Haarkleid sämtliche Funktions– und Zifferntasten verdeckt. Elke hat die Aktion fotografiert: Ela sieht hochzufrieden aus – wahrscheinlich, weil es ihr gelungen ist, so nahe am Geschehen und so dicht bei Frauchen zu liegen.

Auch das Vertrauen, das Ela uns schenkt, hat in seiner Absolutheit kindhafte Züge. Ela lässt sich hochheben, umsetzen, spazieren tragen, aus dem Schlaf reißen, in den Käfig ordern, aus ihm hervorlocken, auf Balkone schicken, von ihnen herunterbeten, auf dem Bürostuhl im Kreis drehen, bis ihr schwindlig wird, beim Kuscheln in Rückenlage im Arm halten, wie ein Baby wiegen und schaukeln, in Decken einwickeln, beim Bürsten und Streicheln umwenden wie einen Pfannkuchen – und das alles, (meist) ohne sich zu wehren.

Elke, an deren Bauch sie oft und gerne schläft, kann sich mit ihr quasi im »Huckepack«–Verfahren umdrehen – Katze greifen, an sich pressen, rollen, Katze loslassen, fertig. Nur manchmal rutschen Ela die Krallen aus, wenn sie verschlafen ist oder einen Panikanfall bekommt. Oder wenn sie meint, beweisen zu müssen, dass sie doch kein lebendes Kuscheltier ist.

Ungewöhnlich ist auch, wie sie »Befehle« befolgt. Das tut sie zwar nur in »schwachen« Stunden, wenn der Zärtlichkeitshunger über das Katzenhaft–Wilde gesiegt hat oder sie ganz glücklich ist, aber es passiert.

Ein Beispiel: Elke will mir zeigen, wie die Katze den Kratzbaum nutzt, den ich vor einiger Zeit in Elkes Wohnung geschleppt habe. Sie nimmt die Katze und stellt sie in aufrechter Kratzhaltung an den hanfseilumwundenen Holzpfahl.

Und was macht Ela? Sie rast nicht wütend weg oder schmollt, erbost über die Bevormundung und Vergewaltigung, die entwürdigende Zumutung, wie ein Hund Befehle zu befolgen. Nein, sie steht auf ihren Hinterbeinen und kratzt, was das Zeug hält, reißt ihre Krallen durch den Hanf, dass es fetzt! Es ist, als hätte sie verstanden, dass sie Herrchen zeigen soll, wie gut ihr das neue Spielzeug gefällt!

Panik packt sie leicht auf dem Balkon, wenn man, sie auf dem Arm, durch die Tür ins Freie tritt. Es ist beinahe, als fürchte sie, in die Tiefe geworfen zu werden. (Ob ihr das einmal passiert ist?) Trotz ihrer Angst lässt sie es meist geschehen, maunzt nur kläglich und verankert ein krallenbewehrtes Pfötchen zwecks Absicherung an Schulter oder Hemdkragen. Aber je mehr sie uns vertraut (und je häufiger sie bei gutem Wetter auf dem Balkon liegt und die Umgebung beobachtet), desto mehr nimmt dieses Angstverhalten ab.

Aber sie wäre keine Katze, wenn sie nicht auch ihre raubtierhaften Wesenszüge ausleben würde. Die äußern sich vor allem des Nachts in ihren »Rappeln«, Anfällen von bestialischer Hyperaktivität, die begleitet werden von animalischem Einsamkeits–, Herausforderungs–, Langeweile– oder Übermutsgesang.

Ela prescht dann, trappelnd wie ein veritables Islandpony, in gestrecktem Galopp durch die Wohnung, so schnell, dass man sie kaum noch sehen kann, ab und zu etwas umreißend oder niederwerfend, wegen überhöhter Geschwindigkeit oder einfach nur aus Rowdytum an Türrahmen oder Schränke bollernd, dabei schrille Arien jaulend und kreischend.

Dieses wilde Geschöpf hat nichts mehr mit dem dicken, gemütlich schnurrenden Samt– (und Katzengrieben–) bündel gemein, das einem schwer und immer ein paar Adern unterbindend im Arm liegt wie ein großer zärtlichkeitssüchtiger Engerling im Pelzmantel.

In Elkes Wohnung spielen sich ganze Dramen ab, Ur–Kämpfe im Konflikt zwischen Mensch und Tier: Ela fordert Aufmerksamkeit und Beschäftigung, findet aber kein Gehör. Sie bekommt einen Anfall, tobt durch die Zimmer, scheitert aber erneut an Elkes Arbeitswillen oder ihrer erzieherischer Determination.

Oft wird sie dann zwecks »Ausnüchterung« auf den Balkon gesetzt, was den »Rappel« meist prompt stoppt. Demütig und wieder zur Hauskatze mutiert, kommt sie dann zu Frauchen und kuschelt sich auf ihren Schoß.