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Indiana

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Während der drei Monate, welche zwischen dem Abgange dieses Briefes und seiner Ankunft auf der Insel Bourbon verstrichen, hatte sich ein Zwischenfall ereignet, der Indianas Tage nahezu unerträglich machte. Sie führte ein Tagebuch, und die Empfindungen und Gedanken, die sie darin niederlegte, richtete sie an Raymon, obgleich sie nicht die Absicht hatte, es ihm zu schicken. Diese Papiere fielen in Delmares Hände, das heißt, er erbrach die Kassette, worin Indiana das Tagebuch und Raymons frühere Briefe verwahrte, und las sie mit wütender Eifersucht. In der ersten Aufregung seines Zornes verlor er alle Selbstbeherrschung und ging seiner Frau mit geballten Fäusten entgegen, als sie von ihrem Spaziergange zurückkam. Ohne ein Wort zu sprechen, ergriff er sie bei den Haaren, warf sie nieder und versetzte ihr mit dem Absatz seines Stiefels einen Stoß in die Stirn.

Kaum hatte er dem schwachen Wesen dieses blutige Zeichen seiner Rohheit aufgedrückt, als er sich selbst verabscheute. Entsetzt über seine Tat, schloß er sich in sein Zimmer ein, wo er seine Pistolen lud, um sich zu erschießen; aber in dem Augenblick, wo er diese Absicht ausführen wollte, sah er, wie Indiana unter der Varanga sich wieder erhob und ruhig das über ihr Gesicht herabrinnende Blut abtrocknete. Im ersten Augenblicke freute er sich hierüber, da er bereits gefürchtet hatte, er habe sie getötet; dann aber entbrannte sein Zorn von neuem.

»Es ist also nur eine Schmarre,« rief er, »und du verdienst den Tod tausendfach! Nein, ich töte mich nicht, denn du würdest nur in den Armen deines Geliebten darüber triumphieren! Ich will leben, euch zur Qual, ich will mich daran werden, wie du vor Sehnsucht und Schmerz hinwelkest, ich will den Schändlichen, der sein Spiel mit mir treibt, der öffentlichen Verachtung preisgeben.«

Noch kämpfte er mit den Qualen seiner Wut, als Ralph durch die andere Tür der Varanga eintrat.

»Indiana,« rief er entsetzt, als er sie mit blutbedecktem Antlitz und aufgelöstem Haar vor sich sah, »wer hat dich so zugerichtet?«

»Du kannst noch fragen?« antwortete sie mit einem bitteren Lächeln. »Wer anders, als dein Freund hat das Recht und auch den Willen dazu?«

Mit zwei Sätzen war Ralph an der Tür, mit einem Faustschlage stieß er sie auf … Aber auf dem Boden des Zimmers sah er Delmare liegen, das Gesicht blau, den Hals geschwollen und von heftigen Krämpfen eines Blutandranges fast erstickt. Ralph las die zerstreut umherliegenden Papiere zusammen. Als er Raymons Handschrift erkannte und die zerbrochene Kassette sah, begriff er, was vorgegangen sei. Er legte die zusammengerafften Papiere in Indianas Hände und riet ihr, sie sogleich zu verbrennen, denn wahrscheinlich hatte sich Delmare nicht die Zeit genommen, alles zu lesen.

Er bat sie darauf, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, während er die Sklaven herbeirufen wollte, um dem Oberst beizustehen; aber sie wollte weder die Papiere verbrennen, noch ihre Wunde verbergen.

»Nein,« sagte sie stolz, »ich will, daß jedermann dieses Mal sehe, womit dieser Mann seine eigene Schande auf mein Antlitz gedrückt hat.«

Sobald der Oberst sich wieder erholt hatte, überhäufte ihn Ralph mit den heftigsten Vorwürfen. Delmare, der im Grunde kein bösartiger Mann war, beweinte seinen Fehler wie ein Kind und wollte seine Frau rufen, um sie um Verzeihung zu bitten; aber Ralph suchte ihm begreiflich zu machen, daß er sich durch einen kindischen Versöhnungsversuch in Indianas Augen nur noch mehr herabsetzen werde, ohne das ihr zugefügte Unrecht wieder gutzumachen.

Von diesem Tage an wurde Delmare seiner Gattin völlig verhaßt. Alles, was er tat, um sie versöhnlich zu stimmen, raubte ihm vollends den letzten Rest von Achtung, die sie ihm bis dahin vielleicht noch bewahrt hatte. Übrigens handelte der Oberst nicht ohne selbstsüchtige Beweggründe: er fühlte die zunehmenden Beschwerden seines Alters, die Pflege seiner Frau wurde ihm unentbehrlich und seine Furcht vor der Einsamkeit wuchs mit jedem Tage. – Seit der erlittenen Mißhandlung hatte Indiana sich mit dem Gedanken getragen, zu entfliehen, nur war die Insel nicht groß genug, um sich den Nachforschungen zu entziehen. Schon war der Entschluß in ihr gewiß, zwischen sich und ihren Tyrannen das Meer zu legen, als Raymons Brief ankam. Da verschwand alles andere wie ein Hauch. Indiana fühlte oder glaubte zu fühlen, daß sie ihn mehr als je vorher liebe. Raymons Schilderung seiner Tage entzündete in ihrem Herzen jene Regung der Großmut, die tief begründet in ihrer Natur lag. Als sie ihn allein und unglücklich wußte, machte sie sich eine Pflicht daraus, die Vergangenheit zu vergessen. Ihre Begeisterung war so groß, daß sie für ihn noch zu wenig zu tun glaubte, wenn sie einem jähzornigen Gatten mit Gefahr ihres Lebens entfloh und die Mühsal einer viermonatlichen Reise auf sich nahm.

Jetzt kam es also nur darauf an, abzureisen. Es war sehr schwer, Delmares Mißtrauen und Ralphs Umsicht zu täuschen, doch das war nicht das Haupthindernis. Niemand konnte die Insel Bourbon verlassen, ohne daß es vorher in den öffentlichen Zeitungen bekanntgemacht wurde. So wollte es das Gesetz.

Unter den wenigen Fahrzeugen, die auf der gefährlichen Rhede von Bourbon vor Anker lagen, war das Schiff »Eugène« im Begriff, nach Europa zu gehen. Indiana suchte lange Zeit eine Gelegenheit, unbeobachtet mit dem Kapitän zu sprechen; aber so oft sie den Wunsch äußerte, einen Gang nach dem Hafen zu machen, mußte Ralph auf ausdrückliches Verlangen ihres Gatten sie begleiten. Endlich erfuhr sie, daß der Kapitän des »Eugène« oft eine im Innern des Landes wohnende Verwandte besuchte und abends auf sein Schiff zurückkehre. Von ihrem Felsen aus beobachtete sie nun regelmäßig den Gebirgsweg, auf dem der Kapitän Random, um zum Hafen zu gelangen, kommen mußte. Zwei Tage vor der Abfahrt des Schiffes war ihr endlich der Zufall günstig. Sie sah den Kapitän auf dem Fußsteige herannahen und eilte auf ihn zu.

»Mein Herr,« redete sie ihn an, all ihren Mut Zusammennehmend, »ich komme, meine Ehre und mein Leben in Ihre Hände zu geben. Ich will die Kolonie heimlich verlassen und nach Frankreich zurückkehren, wenn Sie das Geheimnis, das ich Ihnen anvertraue, verraten, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich ins Meer zu stürzen. Ich bin sehr unglücklich; wenn Sie wüßten, wie entsetzlich mein Dasein in diesen: Lande ist, würden Sie Mitleid mit mir haben.«

Der edle, rührende Ausdruck Indianas imponierte dem Kapitän. Er ahnte sogleich, wen er vor sich habe, denn jener Vorfall zwischen Delmare und seiner jungen Frau war in der ganzen Kolonie bekannt geworden. Als sein Blick auf diesem schönen, schwachen Wesen ruhte, fiel ihm die Unschuld und Reinheit desselben auf, besonders wurde er lebhaft bewegt, als er auf ihrer Stirn eine rote Schramme wahrnahm. Er hatte mit Delmare in Handelsverbindungen gestanden und gegen diesen in den Geschäften so strengen und eisernen Mann einen Groll gefaßt.

»Zum Teufel,« rief er, »Delmare ist ein Korsar, dem ich sehr gern diesen Streich spiele; aber bedenken Sie, daß mein guter Ruf hier auf dem Spiele steht. Sie müssen ohne Aufsehen beim Niedergang des Mondes entschlüpfen.«

»Ich weiß, mein Herr,« antwortete Indiana, »daß Sie mir diesen wichtigen Dienst nur durch Übertretung der Gesetze leisten, Sie laufen vielleicht Gefahr, eine Strafe bezahlen zu müssen, deshalb biete ich Ihnen diesen Schmuck an, dessen Wert wenigstens dem doppelten Preise der Überfahrt gleichkommt.« Sie übergab ihm ein Kästchen mit Juwelen, die ihr einst Frau von Carvajal geschenkt hatte. Es war Indianas ganzes Vermögen.

Der Kapitän nahm lächelnd den Schmuck und sagte:

»Jetzt ist nicht Zeit, unsere Rechnung abzumachen, ich will sehr gern Ihr kleines Vermögen in Verwahrung nehmen. Unter solchen Umständen haben Sie wahrscheinlich kein großes Gepäck. Begeben Sie sich daher in der Nacht der Abfahrt zu dem Felsen der kleinen Latanenbucht, dorthin wird ein mit zwei Matrosen bemanntes Boot kommen und Sie zwischen ein und zwei Uhr des Morgens an Bord bringen.«

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Tag vor der Abreise verstrich. Indiana schloß sich in ihr Zimmer ein, um die wenigen Sachen zurechtzulegen, die sie mitnehmen wollte; dann trug sie dieselben, unter ihren Kleidern verborgen, Stück für Stück unter die Felsen in der Palmenbucht und legte sie in einen Bastkorb, den sie in den Sand vergrub. Das Meer ging hohl und der Wind wuchs von Stunde zu Stunde. Aus Vorsicht hatte das Schiff »Eugène« den Hafen verlassen und kreuzte hin und her, und Indiana erblickte in der Ferne seine weißen, vom Winde geschwellten Segel.

Gegen Abend ließ der Wind nach. Der »Eugène« näherte sich der Küste und bei Sonnenuntergang hörte Indiana einen Kanonenschuß in den Echos der Insel widerhallen. Es war das Signal der Abfahrt für den folgenden Tag.

Nach dem Abendessen fühlte sich Delmare unwohl. Er brauchte die Hilfe der Gattin, die sich nun plötzlich Vorwürfe machte bei dem Gedanken, wer sich dieses Greises erbarmen würde, wenn sie ihn verlassen hätte. Gegen zehn Uhr fühlte er sich jedoch bedeutend besser, er bat Indiana, sich niederzulegen und sich nicht weiter um ihn zu sorgen. Ralph versicherte, daß alle Krankheitssymptome verschwunden wären und ein ruhiger Schlaf jetzt das beste Heilmittel sei. Als die elfte Stunde schlug, war im Hause alles still. Indiana warf sich unter bitteren Tränen auf ihre Knie und betete, denn sie stand in Begriff, sich mit einer großen Schuld zu beladen, und von Gott allein konnte sie Verzeihung erwarten. Leise trat sie in das Zimmer ihres Gatten. Er lag in tiefem Schlafe, sein Gesicht war ruhig, seine Atemzüge gleichmäßig. In dem Augenblicke erst, wo sie sich entfernen wollte, bemerkte sie Ralphs Gegenwart, der in einer Ecke des Zimmers in einem Lehnstuhl schlummerte, um gleich bei der Hand zu sein, falls der Kranke seiner bedürfen sollte.

 

»Armer Ralph,« dachte Indiana, »welch' schmerzlicher Vorwurf für mich!«

Sie war nahe daran, ihn aufzuwecken und ihm alles zu gestehen, aber der Gedanke an Raymon war stärker als ihre Reue. Sie löste von ihrem Halse eine goldene Kette, ein Erbstück von ihrer Mutter, legte sie sanft um Ralphs Hals, als das letzte Pfand schwesterlicher Freundschaft, und hielt ihre Lampe noch einmal über das Antlitz ihres greisen Gatten, um sich zu überzeugen, daß er nicht mehr krank sei. Er träumte in diesem Augenblicke und sagte im Schlafe mit trauriger, schwacher Stimme: »Hüte dich vor diesem Manne, er stürzt dich ins Verderben! …« Indiana zitterte vom Kopf bis zu den Füßen und entfloh in ihr Zimmer. Sie rang die Hände in verzweifelter Ungewißheit; bald aber beschwichtigte sie der Gedanke, daß es sich ja um Raymons Glück handle, nicht um das ihrige.

Nachdem sie ihren Korb ausgegraben hatte, setzte sie sich schweigend und zitternd auf die Erde – lauschte dem pfeifenden Wind und dem Brausen der zu ihren Füßen sich brechenden Wogen; aber diese Stimmen wurden von dem Klopfen ihres Herzens übertäubt, das in ihren Ohren wie der Ton einer Totenglocke widerhallte.

Sie wartete lange. Die festgesetzte Stunde mußte bereits vorüber sein. Das Meer war so stürmisch und das Anlegen an den Küsten der Insel zu jeder Zeit so schwierig, daß sie an dem guten Willen der Matrosen, die sie holen sollten, zu zweifeln begann. Endlich bemerkte sie auf den glänzenden Wogen den schwarzen Schatten eines Bootes, das sich zu nähern suchte. Aber die Brandung war so stark, das Meer ging so hohl, daß das schwache Fahrzeug jeden Augenblick zwischen den Wogen verschwand. Zuweilen vernahm sie Rufe, die von dem Boote herübertönten; sie beantwortete dieselben, aber der heulende Wind verwehete ihre schwache Stimme. Als die Matrosen endlich nahe genug waren, um sie zu hören, ruderten sie mit großer Mühe heran und warteten, bis eine Woge sie an das Ufer führen würde. Sobald sie fühlten, daß das Boot erhoben wurde, verdoppelten sie ihre Anstrengungen und die Woge warf sie mit dem Boote an den Strand.

Das Boot entführte Indiana mitten durch die wild aufschäumenden Wellen unter dem Heulen des Sturmes und den Flüchen der beiden Ruderer, welche laut die Gefahr verwünschten, der sie sich Indianas wegen aussetzten. Der eine wünschte den Kapitän zu allen Teufeln, daß er nicht schon vor zwei Stunden den Befehl gegeben habe, die Anker zu lichten; aber nur dieses Frauenzimmers wegen habe er so lange gewartet. Der andere warnte seinen Kameraden, in Gegenwart dieser Zuhörerin auf den Kapitän zu schimpfen.

»Ei was!« entgegnete der erste, »in dieser Nacht haben wir nur mit den Haifischen unsere Rechnung zu machen, wenn wir je den Kapitän Random wiedersehen, so denke ich, wird er nicht schlimmer sein als sie.«

»Ja, die Haifische!« sagte der andere, »ich weiß nicht, ob es einer ist, der uns von da unten schon anglotzt, aber ich sehe in den Wogen ein Gesicht, das kein christliches zu sein scheint.«

»Dummkopf! siehst du einen Hund für einen Meerwolf an! Holla, vierfüßiger Passagier, man hat dich an der Küste vergessen, aber der Teufel hole mich, wenn du Schiffszwieback zu essen kriegst. Unsere Ordre lautet nur auf eine Frau, von Hunden ist keine Rede.«

Zu gleicher Zeit erhob er sein Ruder, um einen Schlag gegen den Kopf des Tieres zu führen. In diesem erkannte Indiana die treue Ophelia, die ihre Spur in den Felsen der Insel aufgefunden hatte und ihr schwimmend folgte. Im Augenblick, wo der Matrose nach ihr schlagen wollte, warf die Woge, gegen die sie mühsam ankämpfte, sie weit vom Boot hinweg, und ihre Herrin hörte ihr schmerzliches Geheul. Sie bat die Ruderer, Ophelia in das Boot aufzunehmen, aber in dem Augenblick, wo das treue Tier sich näherte, zerschmetterten sie ihm unter höhnischem Gelächter den Kopf und Indiana sah den toten Körper Ophelias, die sie so sehr geliebt hatte, verschwinden. Je mehr die Küste zurückwich, desto ruhiger wurde das Meer und bald eilte das Boot schnell und gefahrlos dem Schiffe zu. Jetzt kam den beiden Ruderern die gute Laune und mit ihr die Überlegung wieder. Sie bemühten sich, ihre Grobheit gegen Indiana wieder gutzumachen, aber ihre Schmeicheleien waren beleidigender als ihr Zorn. An der Rohheit ihrer Führer rächte sich Indiana, als sie auf dem Schiffe angekommen war, durch eine reiche Belohnung ihrer Mühsal, dann zog sie sich in die Kajüte zurück und wartete mit Angst auf die Stunde der Abfahrt.

Endlich brach der Tag an und auf dem Meere zeigten sich zahlreiche Boote, welche Passagiere an Bord brachten. Hinter einer Stückpforte verborgen, spähete Indiana angstvoll aus, ob sich ihr Gatte unter diesen Ankömmlingen befände, um sie zurückzuholen. Endlich verhallte der Kanonenschuß, welcher die Abfahrt verkündigte, in den Echos der Insel. Das Fahrzeug begann Berge von Schaum vor sich aufzuhäufen, und die aufsteigende Sonne warf ihr heiteres, rosiges Licht auf die weißen Gebirgsgipfel, die bald am Horizont verschwanden.

Als man sich einige Stunden auf dem Meere befand, führte Kapitän Random eine Art Komödie auf, um jede Verantwortlichkeit für die ungesetzliche Mitnahme seiner Passagierin von sich abzuwälzen. Er tat, als wenn er jetzt erst Frau Delmare auf seinem Schiffe entdecke, spielte den Überraschten, befragte seine Matrosen, erzürnte sich zum Schein, beruhigte sich dann und setzte endlich ein Protokoll auf, daß sich an Bord des »Eugène« ein Findelkind eingestellt habe, wie der technische Ausdruck für solche Fälle lautet.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Drei Tage nach dem Abgange des Briefes nach der Insel Bourbon hatte Raymon den Brief und die Absicht, in welcher er ihr geschrieben, völlig vergessen. Er fühlte sich wohler und hatte einen Besuch in seiner Nachbarschaft gewagt. Das Landgut Lagny, welches Herr Delmare seinen Gläubigern an Zahlungs Statt überlassen hatte, war in Besitz eines reichen Fabrikanten, namens Hubert, übergegangen. Raymon fand den neuen Eigentümer bereits in diesem Hause eingerichtet, das ihn an so manches erinnerte. Anfangs überließ er sich seinen Empfindungen, indem er den Garten durchstreifte, der die Spur von Nouns leichten Schritten noch im seinen Sande zu bewahren schien, und indem er die Gemächer durchschritt, in denen er noch den Ton von Indianas sanfter Stimme zu hören glaubte; aber eine neue Bewohnerin dieser ihm so vertraulichen Räume gab seinen Gedanken eine andere Richtung.

In dem großen Salon, an der Stelle, wo Frau Delmare gewöhnlich zu arbeiten pflegte, saß ein junges, großes und schlankes Mädchen, in deren Zügen sich ebenso viel Liebenswürdigkeit als Bosheit ausdrückte.

Sie richtete auf Raymon einen halb spöttischen, halb schmeichelnden Blick, der ihn zu gleicher Zeit anzog und zurückstieß. Die junge Dame wußte das Gespräch bald auf Frau Delmare zu lenken.

»Sie waren mit den früheren Bewohnern dieses Hauses sehr genau bekannt,« sagte sie, »und es ist sehr freundlich von Ihnen, hier neue Gesichter aufzusuchen. Frau Delmare«, fügte sie hinzu, einen durchdringenden Blick auf Raymon werfend, »soll eine ausgezeichnete Frau gewesen sein und muß für Sie hier Erinnerungen zurückgelassen haben, die uns in den Schatten stellen.«

»Sie war eine treffliche Frau,« antwortete Raymon gleichgültig, »und ihr Gatte ein würdiger Mann.«

»Aber,« nahm das kecke, junge Mädchen wieder das Wort, »ich glaube, sie war noch mehr als eine treffliche Frau. Wenn ich mich recht entsinne, so lag in ihrer Person ein Reiz, der ein wärmeres, poetischeres Beiwort verdiente. Ich sah sie vor zwei Jahren auf einem Ball beim spanischen Gesandten. An diesem Tage war sie entzückend. Erinnern Sie sich nicht?«

Raymon erbebte, indem er jenes Abends gedachte, wo er zum erstenmal mit Indiana gesprochen hatte. Er erinnerte sich zu gleicher Zeit, daß er auf diesem Ball auch der vornehmen Erscheinung dieses jungen Mädchens begegnet war; aber er hatte sich damals nicht erkundigt, wer sie sei. Erst heute, als er sich verabschiedete und Herrn Hubert zu der Anmut seiner Tochter Glück wünschte, erfuhr er ihren Namen.

»Ich habe nicht das Glück, ihr Vater zu sein,« antwortete der Fabrikherr, »sondern ich habe Fräulein von Nangy adoptiert. Verwitwet und ohne Kinder, sah ich mich vor zehn Jahren im Besitz von ziemlich bedeutenden Kapitalien, den Früchten meiner Arbeit, die ich sicher anzulegen suchte. In Bourgogne war das Landgut und Schloß Nangy zu verkaufen, das zu den Nationalgütern gehörte und mir sehr bequem lag. Ich war seit einiger Zeit sein Eigentümer, als ich erfuhr, daß der ehemalige Besitzer mit seiner siebenjährigen Tochter in einem kleinen Häuschen daselbst ein kümmerliches Dasein friste. Dieser Greis hatte zwar Entschädigungen empfangen, sie aber zur gewissenhaften Bezahlung der während der Emigration gemachten Schulden verwendet. Ich wollte sein Los mildern, aber er hatte in seinem Unglück allen Stolz seines Ranges gewahrt. Kurze Zeit nach meiner Ankunft starb er, ohne von mir irgend eine Dienstleistung angenommen zu haben. Darauf nahm ich sein Kind auf. Die Kleine gewöhnte sich bald, mich wie ihren Vater anzusehen, und ich habe sie wie meine eigene Tochter erzogen. Sie hat mir reich vergolten durch das Glück, das sie über meine alten Tage verbreitet. Um mir dieses Glück zu sichern, habe ich Fräulein von Nangy adoptiert und wünsche jetzt nichts, als einen ihrer würdigen Gatten zu finden, der das Vermögen, welches ich ihr einst hinterlassen werde, wohl zu verwalten versteht.«

Raymon fühlte, daß er der zu dieser angenehmen Aufgabe berufene Mann sein könne, und dankte dem erfinderischen Glück, welches allen seinen Hoffnungen entgegenkam und ihm jetzt eine Gattin seines Standes mit einem hübschen bürgerlichen Vermögen darbot. Das war eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen durfte. Er suchte sich die Besorgnisse auszureden, mit denen ihn zuweilen sein nach der Insel Bourbon gesandter Brief erfüllte, und gab sich der Hoffnung hin, daß die arme Indiana seinen eigentlichen Zweck nicht fassen, oder nicht den Mut haben würde, ihm zu entsprechen; kurz, es gelang ihm, sich selbst zu täuschen und sich für schuldlos zu halten; denn um keinen Preis der Welt hätte er sich als einen Egoisten betrachten mögen.

Er kam also oft nach Lagny und seine Besuche waren Herrn Hubert sehr angenehm, denn Raymon verstand ja bekanntlich die Kunst, sich beliebt zu machen, und bald kannte der reiche Fabrikbesitzer nur noch den Wunsch, Herrn von Ramière seinen Schwiegersohn zu nennen. Aber seine Adoptivtochter sollte selbst wählen und er ließ beiden vollkommene Freiheit, sich kennen und beurteilen zu lernen.

Laura von Nangy hielt ihn zwischen Furcht und Hoffnung. Berechnend und einschmeichelnd, hochmütig und liebenswürdig, war sie ganz die Frau, Raymon zu beherrschen, denn sie war ihm an Gewandtheit ebenso überlegen, als er es Indiana gegenüber gewesen war. Sie hatte bald erkannt, daß ihr Vermögen eine ebenso starke Anziehungskraft auf ihren Bewunderer ausübe, als ihre Persönlichkeit; sie besaß zu viel Verstand und kannte die Welt zu sehr, um von Liebe zu träumen bei einem Vermögen von zwei Millionen. Sie nahm dies Herrn von Ramière durchaus nicht übel; sie verurteilte ihn nicht, weil er das Positive erstrebte, sie liebte ihn nicht, weil sie ihn zu genau kannte.

Für dieses junge Mädchen gab es weder Jugend noch süße Träume, noch eine trügerische Zukunft. Ihr war das Leben eine kalte Berechnung und das Glück eine kindische Täuschung, gegen die man sich wie gegen eine alberne Schwäche wappnen müsse.

Während Raymon an der Verwirklichung seines Glückes arbeitete, näherte sich Indiana den Küsten Frankreichs. Wie groß war ihr Erstaunen und ihr Schrecken, als sie, im Hafen angelangt, die dreifarbige Fahne auf den Mauern von Bordeaux wehen sah. Eine gewaltige Aufregung herrschte in der Stadt, der Präfekt wäre fast am Tage vorher ermordet worden; das Volk erhob sich von allen Seiten, die Garnison schien sich auf einen verzweifelten Angriff vorzubereiten und man kannte den Ausgang der Revolution in Paris noch nicht. »Ich komme zu spät!« war der erste Gedanke, der Indiana wie ein Blitzstrahl durchzuckte. In ihrem Entsetzen ließ sie das wenige Geld und die Sachen, die sie besaß, auf dem Schiffe zurück und begann in einer Art Geistesverwirrung die Stadt zu durchirren. Sie suchte einen Eilwagen nach Paris, aber die Postwagen waren mit fliehenden Reisenden überfüllt. Erst gegen abend fand sie einen Platz. Im Augenblick, wo sie in den wagen steigen wollte, erschien eine Patrouille der schnell improvisierten Nationalgarde und verlangte die Papiere der Reisenden. Indiana hatte keine. Während sie darüber unterhandelte, hörte sie in ihrer Nähe sagen, der König sei abgesetzt und entflohen und die Minister mit allen ihren Anhängern ermordet. Diese mit lautem Freudengeschrei aufgenommenen Gerüchte versetzten Indiana einen tödlichen Schlag. In dieser ganzen Revolution interessierte sie persönlich nur die Person und das Schicksal eines einzigen Menschen. Sie sank ohnmächtig auf das Pflaster und kam erst in einem Krankenhause nach mehreren Tagen wieder zum Bewußtsein.

 

Ohne Geld, ohne Wäsche, ohne Kleider, wurde sie zwei Monate nachher, schwach und erschöpft durch eine Gehirnentzündung, wieder entlassen. Als sie sich in dieser großen Stadt allein auf der Straße fand, ohne Geld und von der ausgestandenen Krankheit noch erschöpft, ergriff sie ein unbeschreibliches Gefühl von Schrecken und Verzweiflung bei dem Gedanken, daß Raymons Schicksal schon längst entschieden sei und daß ihr niemand zur Seite stehe, der sie von dieser entsetzlichen Ungewißheit befreien könnte. Das Entsetzen des Alleinstehens lastete mit seiner ganzen Macht auf ihrem gebrochenen Herzen. In dieser geistigen Erstarrung wurde sie von der anbrechenden Nacht überrascht, die sie unter den Trümmern eines abgerissenen Hauses verbrachte. Endlich kam der Tag und der Hunger machte sich geltend. Erst jetzt erinnerte sich Indiana wieder, daß sie ihre Sachen und ihr Geld auf dem Schiffe zurückgelassen habe. Sie schleppte sich nach dem Hafen, fragte nach der Brigg »Eugène« und erfuhr, daß dieses Fahrzeug noch immer auf der Rhede vor Bordeaux läge. Sie ließ sich hinführen und fand den Kapitän Random eben beim Frühstück.

»Nun,« rief er, »schöne Reisende, schon wieder zurück von Paris? Sie kommen zur gelegenen Zeit, denn ich segle morgen wieder ab. Soll ich Sie nach Bourbon zurückbringen?«

Wie er erzählte, hatte er sie überall suchen lassen, um ihr ihr Eigentum zuzustellen. Aber Indiana hatte in dem Augenblick, wo man sie ins Hospital brachte, kein Papier bei sich, aus dem man ihren Namen hätte erfahren können. Sie war als Unbekannte in die Register eingetragen worden, und der Kapitän hatte nichts über sie erfahren können. Ungeachtet ihrer Schwäche reiste Indiana am folgenden Tage nach Paris ab.

Noch denselben Abend, wo sie dort eintraf, eilte sie nach Raymons Wohnung und erfuhr vom Portier, daß der Herr sich wohl befinde und in Lagny weile.

»In Lagny?« frug Indiana ungläubig. »Sie wollen sagen, in Cercy.«

»Nein, in Lagny, es ist jetzt sein Besitztum.«

»Guter Raymon!« dachte Indiana, »er hat dieses Landgut gekauft, um mir einen Zufluchtsort zu bieten, wo die Bosheit mich nicht erreichen kann. Er wußte wohl, daß ich kommen würde.«

Trunken von Glück und neubelebt, begab sie sich in ein Hotel garni und überließ sich die Nacht und einen Teil des folgenden Tages der Ruhe. Es war so lange, daß die Unglückliche keinen friedlichen Schlummer genossen hatte! Nach ihrem Erwachen kleidete sie sich sorgfältig an, sie wußte, daß Raymon auf die Reize der Toilette viel hielt, und daher hatte sie schon am vorigen Abend ein hübsches neues Kleid gekauft. Aber als sie ihr Haar ordnen wollte, suchte sie vergeblich ihre langen, schönen Flechten; sie waren während ihrer Krankheit unter der Schere der Krankenwärterin gefallen. Jetzt bemerkte sie es zum erstenmal, so sehr hatte der Gedanke an Raymon sie von allem anderen abgelenkt.

Doch als sie ihre kurzen schwarzen Haare auf ihrer weißen Stirn hatte locken lassen, als sie ihren hübschen Kopf mit einem kleinen Hute von englischer Form bedeckt und in ihren Gürtel ein Bukett der Blumen gesteckt hatte, deren Duft Raymon besonders liebte, hoffte sie, ihm immer noch zu gefallen.

Sie nahm am Nachmittag einen Wagen und kam gegen neun Uhr abends in ein Dorf am Saum des Waldes von Fontainebleau. Hier verließ sie den Wagen und schlug zu Fuß einen Waldweg ein, auf dem sie in einer Viertelstunde an den Park von Lagny gelangte. Da sie die kleine Pforte verschlossen fand, Raymon aber überraschen wollte, so ging sie an der alten morschen Mauer des Parkes hin und fand auch bald eine in Verfall geratene Stelle, die sie ohne zu große Mühe überstieg.

Als sie ihren Fuß auf einen Boden setzte, der Raymon gehörte und jetzt ihr Asyl, ihr Heiligtum werden sollte, fühlte sie ihr Herz vor Freude hüpfen. Sie eilte mit leichten Schritten durch die Alleen, die sie so gut kannte, und erreichte den englischen Garten. Nichts hatte sich verändert; aber die Brücke, deren schmerzlichen Anblick sie fürchtete, war verschwunden, der Lauf des Flusses sogar verändert, alle die Orte, welche an Nouns Tod erinnern konnten, waren nicht wiederzuerkennen.

»Er hat mir diese traurigen Erinnerungen ersparen wollen,« dachte Indiana.

Auf den Brettern, welche die Stelle der Brücke ersetzten, überschritt sie den Fluß und gelangte in den Garten. Sie mußte stillstehen, denn ihr Herz schlug so heftig, als wollte es springen. Sie erhob die Augen nach dem Fenster ihres ehemaligen Zimmers. O, Glück! hinter den blauen Vorhängen strahlte Licht, Raymon war da! Konnte er denn ein anderes Zimmer bewohnen? Die Tür der heimlichen Treppe war offen.

»Er erwartet mich zu jeder Stunde,« dachte sie, »er wird glücklich sein, aber kaum überrascht.«

Oben auf der Treppe blieb sie noch einmal stehen, um Atem zu schöpfen; sie beugte sich nieder und blickte durch das Schlüsselloch. Raymon war allein und las. Da saß er, ruhig und schön, die Stirn auf seine weiße Hand gestützt, die sich in seinen schwarzen Haaren verlor.

Indiana stieß heftig die Tür auf.

»Du hast mich erwartet!« rief sie, auf ihre Knie sinkend, »du hast die Monate, die Tage gezählt! du hast mich gerufen, und da bin ich! Da bin ich! ich sterbe!«

Ihre Gedanken verwirrten sich; unfähig, zu sprechen, schloß sie die Augen, um sie dann zu Raymon zu erheben.

Er war bleich, stumm, unbeweglich, wie vom Blitze getroffen.

»Erkenne mich doch,« rief sie, »ich bin es, deine Indiana, die du aus der Verbannung gerufen hast und die dreitausend Stunden weit herkommt, um dich zu lieben, dir zu dienen. Bist du mit mir zufrieden?

Sprich! Ich erwarte ein Wort, einen Kuß, und ich bin hundertfach belohnt.«

Aber Raymon antwortete nicht; seine bewundernswürdige Geistesgegenwart hatte ihn verlassen. Er war wie zu Boden geschmettert, als er dieses Weib zu seinen Füßen sah; er verbarg seinen Kopf in seine Hände und wünschte sich den Tod.

»Mein Gott, du sprichst nicht! Du umarmst mich nicht!« rief Indiana, Raymons Knie gegen ihre Brust drückend. »Ja, ich weiß, das Glück schmerzt, es tötet, ich weiß es wohl! Ach, ich habe dich zu sehr überrascht. Sag' mir ein Wort, ein einziges Wort, Raymon.«

»Ich möchte weinen,« begann Raymon mit erstickter Stimme.

»Und auch ich,« sagte sie, »seine Hände mit Küssen bedeckend. Weine, weine denn an meinem Busen, ich werde deine Tränen mit Küssen trocknen, ich will dir alles sein, was du von mir begehrst, Gefährtin, Dienerin, Geliebte. Verfüge über mich, über mein Blut, mein Leben; ich bin dein mit Leib und Seele. Ich habe dreitausend Wegstunden gemacht, um dir zu gehören, nimm mich, ich bin dein, du bist mein Herr!«

Durch Raymons Kopf zuckte plötzlich ein höllischer Gedanke. Er erhob sein Gesicht von seinen gefalteten Händen und blickte Indiana mit einer teuflischen Ruhe an; dann irrte ein furchtbares Lächeln über seine Lippen und seine Augen funkelten: denn Indiana war noch schön.

»Vor allen Dingen mußt du dich verbergen,« sagte er aufstehend.

»Warum hier mich verbergen?« fragte sie; »bist du nicht der Herr, der mich aufnehmen und beschützen kann, mich, die niemand als dich auf der Erde hat und die ohne dich betteln müßte? Geh', selbst die Welt kann dir kein Verbrechen mehr daraus machen, mich zu lieben, ich habe alles auf mich allein genommen … Aber wo willst du hin?« rief sie, als sie ihn nach der Tür gehen sah.