Philosophie der Wissenschaft

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‚Hinter‘ dieser Beobachtung steckt allerdings nach Humes Denken nichts mehr. Natürlich können wir dieses Phänomen weiter untersuchen und es mit anderen Erscheinungen und mit dem physikalischen Wissen unserer Zeit verbinden und dann anders darüber reden. Etwa können wir das Phänomen der Gravitation in der Atomphysik zum Thema machen und sein Auftreten mit bestimmten Strukturen im Aufbau von Atomen in Zusammenhang bringen. Wir können sogar Gravitationswellen entdecken und empirisch nachweisen. Aber auch dann haben wir nicht ein ‚etwas‘ wie eine Kraft entdeckt, sondern die eine Beobachtung mit anderen Beobachtungen verbunden, und zwar so, dass wir zu ‚Erklärungen‘ kommen, die Physikern besser erscheinen als andere, weil sie sich besser in den Zusammenhang des physikalischen Wissens einer Zeit fügen als andere Beobachtungszusammenhänge. Wie kompliziert solche Zusammenhänge werden können, weiß jeder, der nur einmal versucht hat, ein wenig in die neuere Atomphysik einzudringen. Das ändert aber nichts am Grundprinzip, wie es David Hume ausgearbeitet hat: die Physik hat es mit Beobachtungen zu tun, auch wenn sie in noch so komplizierte Strukturen des Erklärens führen.

Dem entspricht das newtonsche Gravitationsgesetz sehr gut. Es sagt uns überhaupt nichts über etwas, das ‚hinter‘ der Beobachtung, dass sich Massen aneinander annähern, stehen würde oder könnte. Es beschreibt lediglich einen bestimmten Zusammenhang, den wir in Beobachtungen auffinden und bestätigen können: Massenpunkte zeigen eine Tendenz, sich aneinander anzunähern, und die Stärke dieser Tendenz lässt sich ziemlich genau angeben, wenn man das Produkt der beiden Massen bildet, wenn man außerdem den Abstand zwischen den beiden Massen kennt, und wenn man schließlich noch die Gravitationskonstante in die Rechnung einstellt. Diese Tendenz kann man als ‚Gravitationskraft‘ bezeichnen, wenn man das Missverständnis einer substantialistischen Auffassung vermeidet, aber man muss das nicht tun – die ‚Kraft‘ ist eben jene Tendenz, und nicht etwas, was ‚hinter‘ dieser Tendenz stehen würde oder sie gar ‚verursachen‘ würde. Das Gesetz beschreibt nur das, was unserer Erfahrung zugänglich ist, aber in ihm ist kein Bezug auf etwas ‚hinter‘ der Erfahrung enthalten. Deshalb ‚erklärt‘ es auch nicht die Erdgravitation, wie man bisweilen lesen kann – also die Tatsache, dass wir auf der Erde stehen können und nicht im Weltall herumfliegen. Es gibt einfach die Stärke der Tendenz an, dass sich Massen einander annähern. Weiter sagt es nichts.

2.3Sprache und Beobachtung: der Logische Empirismus

2.3.1Der Logische Empirismus

Der Logische Empirismus, auch als Logischer Positivismus bezeichnet, war sicherlich die einflussreichste und wichtigste Philosophie der Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er schloss durch die Grundannahme, dass Erkenntnis nur möglich ist durch ihre Begründung in der Erfahrung (Empirie), direkt an den älteren Empirismus von David Hume und John Locke an. Damit werden alle synthetisch-apriorischen Urteile aus dem Bereich dessen ausgeschlossen, was als Wissen oder Erkenntnis bezeichnet werden kann. Vor und unabhängig von der Erfahrung (apriorisch) können wir also keine Urteile fällen, die unsere Erkenntnis erweitern, d. h. synthetisch sind. Es gibt empirische – synthetisch-aposteriorische – Urteile, also solche, die nach bzw. auf der Grundlage der Erfahrung unsere Erkenntnis erweitern, und es gibt analytische Urteile, wie sie in der Logik und darauf aufbauend in der Mathematik zu finden sind. Anders als im älteren Empirismus kam der Logische Empirismus deshalb zu einer weiteren Grundannahme. Nur empirische und analytische Urteile können wahr oder falsch sein. Anderen Urteilen kann kein ‚Wahrheitswert‘ zukommen, weil die Frage nach der Wahrheit bei ihnen grundsätzlich ausgeschlossen ist, denn sie können weder an der Erfahrung geprüft noch logisch ausgewiesen werden. Deshalb sind solche Sätze prinzipiell sinnlos; es handelt sich um ‚Scheinsätze‘, die nur grammatisch in der Form sinnvoller Sätze gebildet werden.

Die beiden Grundprinzipien des Logischen Empirismus können also so beschrieben werden: alles Wissen ist Erfahrungswissen, und sinnvolle Sätze sind solche, die sich prinzipiell als wahr oder falsch erweisen können. Daraus wurde der Schluss gezogen, die traditionelle Philosophie stelle ein Gebilde sinnloser Sätze dar, das keine Erkenntnis enthält, sondern wohlwollend als Ausdruck von Gefühlen bezeichnet werden kann, obwohl es sich nicht um einen solchen Ausdruck handeln kann, der wahr oder falsch sein könnte, weshalb er nur den Status einer rein privaten Selbstdarstellung gewinnen kann. Sätze wie ‚Im Englischen Garten in München gibt es Einhörner‘ oder ‚Anti-biotika sind bei Viruskrankheiten angezeigt‘ sind sinnvoll (obwohl falsch), aber Sätze wie ‚Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung‘ oder ‚Kausalität ist ein reiner Verstandesbegriff‘ sind nur ‚Scheinsätze‘. Man könnte am Rande darauf hinweisen, dass damit auch ein Satz wie ‚Nur Sätze mit einem Wahrheitswert sind sinnvoll‘ in den Bereich der sinnlosen Sätze gehören würde. Aber unabhängig davon wurde der Logische Empirismus auf dieser Grundlage zu einer Philosophie gegen alle Philosophie.

Der Bereich des Wissens sollte nun vollständig durch eine ‚Einheitswissenschaft‘ abgedeckt werden, die nur aus synthetisch-aposteriorischen und analytischen (logischen, mathematischen) Sätzen besteht. Empirische Sätze können wahr oder falsch sein, weil sie einen Bezug zu dem enthalten, was unmittelbar erfahren und in einem Grundvokabular ausgedrückt werden kann, das selbst als unproblematisch geltend angenommen wird. Ein solcher Ausdruck des unmittelbar Gegebenen wurde teilweise als konstruktivistisch möglich angesehen (zeitweise bei Carnap), er wurde aber auch physikalistisch verstanden, d. h. er sollte nur raum-zeitlich bestimmbare Eigenschaften umfassen (Neurath). Das soll allerdings nicht bedeuten, dass von allen Denkern des Logischen Empirismus die Physik selbst als Verwirklichung der Einheitswissenschaft aufgefasst wurde. ‚Einheitswissenschaft‘ war das Ideal einer Wissenschaft, die rein empirisch begründet wurde, und die in ihrer Sprache alle sinnlosen Sätze ausschließen konnte.

Wir werden im Kapitel über ‚Wörter und ihre Bedeutung‘ noch genauer sehen, dass der kritische Punkt des Logischen Empirismus als Philosophie der Wissenschaft dort zu finden ist, wo die geforderte Bindung an die Erfahrung und an etwas unmittelbar Gegebenem mit der Notwendigkeit zusammenstößt, Wissenschaft als ein System von sprachlichen Einheiten in der Form von feststellenden Sätzen auffassen zu müssen. Dem ‚Wiener Kreis‘ von Denkern, in dem der Logische Empirismus intensiv diskutiert wurde, war dies auch vollkommen deutlich. Wo die Lösung gesucht wurde, gibt eine weitere Bezeichnung für diese Philosophie an, nämlich ‚Philosophie der idealen Sprache‘. Wir werden uns noch ausführlich mit Wittgensteins Philosophie als einem der wichtigsten Ausgangspunkte der neueren Philosophie der Wissenschaft beschäftigen. Wittgenstein hatte zunächst eine solche Konzeption einer idealen Sprache vertreten und versucht, die Strukturen einer solchen Sprache auszuarbeiten, die die Welt abbilden könnte. Von ihm stammt das Buch, das oft als zentrales Werk der ‚Philosophie der idealen Sprache‘ aufgefasst wird, nämlich der ‚Tractatus logico-philosophicus‘. Aber diese ideale Struktur erwies sich als unvereinbar mit der Wirklichkeit der Sprache. Wittgenstein entwickelte sein eigenes Denken deshalb in dem Werk ‚Philosophische Untersuchungen‘ auf radikale Weise weiter. Diese neue Konzeption wurde auch als ‚Philosophie der normalen Sprache‘ bezeichnet und überwand den Gedankenzusammenhang des Logischen Empirismus auf grundlegende Weise durch eine neue Konzeption, wie Bedeutung in der Sprache entsteht und funktioniert.

Im Zentrum der Debatten des Logischen Empirismus stand aber die Frage, wie man über solche Sätze denken müsse, die jene Bindung an die Erfahrung und an etwas unmittelbar Gegebenes in die sprachlichen Feststellungen der Wissenschaft ‚übersetzen‘ können, ohne dass die Prinzipien der Erfahrungsgebundenheit und der Sinnzuschreibung ausschließlich an Sätze mit Wahrheitswert aufgegeben werden. Rudolf Carnap forderte, die Erfahrungsbindung mithilfe sog. ‚Protokollsätze‘ vorzunehmen. Grundlage der Wissenschaft sollte eine ‚Protokollsprache‘ sein, deren einfachste Einheiten Protokollsätze darstellen. Gemeint waren Sätze, die selbst nicht mehr bewährt werden müssen, weshalb sie die Grundlage für empirisch-wissenschaftliche Sätze abgeben können. In solchen Sätzen sollen die etwa in einem Laboratiums- oder Experimentprotokoll verwendeten Feststellungen auf Beschreibungen dessen zurückgeführt werden, was der Wissenschaftler wahrgenommen und erlebt hat. ‚Unmittelbar‘ sind solche Sätze, weil sie sich nur auf ‚das Gegebene‘ beziehen, in Carnaps Worten: „sie beschreiben die unmittelbaren Erlebnisinhalte oder Phänomene, also die einfachsten erkennbaren Sachverhalte.“7 Carnap nennt die Protokollsprache deshalb an der gleichen Stelle auch ‚Erlebnissprache‘ und ‚phänomenale Sprache‘.

Carnap bestand darauf, dass diese phänomenale Protokollsprache in die physikalistische Sprache übersetzbar sei. Damit behauptete er auch die Möglichkeit, aus der Sprache des unmittelbar Gegebenen zu einer intersubjektiven und mit allgemeinen Feststellungen umgehenden Sprache gelangen zu können, d. h. Protokollsprache und physikalistische Sprache sollen den gleichen Gehalt haben können. Gehaltgleichheit bedeutete bei Carnap nichts anderes als gegenseitige Ableitbarkeit von Sätzen, d. h.: „sind aus zwei Sätzen dieselben anderen ableitbar, so haben die beiden Sätze denselben Gehalt, unabhängig davon, was für Vorstellungen wir mit ihnen zu verknüpfen pflegen.“8 Carnap geriet mit seiner Konzeption bald in die Schwierigkeit, angeben zu müssen, was an Protokollsätzen so ausgezeichnet ist, dass man nicht mehr ‚dahinter zurück‘ gehen kann. Dies endete mit dem Eingeständnis, dass im logischen Positivismus der Absolutismus der Erkenntnistheorien „die verfeinerte Form eines Absolutismus der Ursätze“ annehme – und mit ‚Ursätzen‘ sind gemeint ‚Elementarsätze‘ bzw. ‚Atomsätze‘.9 Diese Überlegung wurde dann bei Popper weitergeführt, der die Auszeichnung von Protokollsätzen als eine Sache des ‚Entschlusses‘ ansah. Carnap sah ganz richtig, „jeder konkrete Satz der physikalistischen Systemsprache“ könnte dann als Protokollsatz dienen, weshalb es in diesem Fall „keine absoluten Anfangssätze für den Aufbau der Wissenschaft“ geben könnte.10 In diesem Fall – wenn beliebige Sätze Protokollsätze sein können – ist offenbar der Empirismus verlassen.

 

Bei Moritz Schlick wird die empiristische Grundlage der Wissenschaft noch stärker in Sätzen gesehen, in denen er einen unmittelbaren ‚Kontakt‘ des Wissens mit der Welt sieht. Er spricht statt von Protokollsätzen von ‚Fundamentalsätzen‘ oder ‚Beobachtungssätzen‘ und dann vor allem von ‚Konstatierungen‘. Der entscheidende Punkt darin ist, dass wir mit ihnen „irgendwie auf die Wirklichkeit hindeuten“.11 Schlick sah darin den „letzten Ursprung alles Wissens“.12 An der gleichen Stelle gab er auch einige Beispiele für solche ‚Konstatierungen‘, die alle der Form ‚Hier jetzt x und y‘ folgen, wie etwa ‚Hier jetzt grün neben gelb‘ oder ‚Hier jetzt Zusammenfallen zweier schwarzer Punkte‘. Er sah darin aber keine ‚Protokollsätze‘ im Sinne von Carnap, sondern nur den ‚Anlass‘ zu deren Bildung. Der Grund dafür ist, dass sie sprachlich nicht zu fixieren sind, sie sind vielmehr orts- und zeitgebundene Aussagen über etwas gegenwärtig Wahrgenommenes. Dennoch erschienen sie für Schlick als Anfang und Ende der Wissenschaft: „Die Konstatierungen sind endgültig.“13 Sie sind die „Berührungspunkte von Erkenntnis und Wirklichkeit“.14

Man könnte behaupten, dass Moritz Schlick das Grundproblem des Logischen Empirismus dadurch verdeutlicht hat, dass er es radikaler zu lösen versuchte. Ihm zufolge sollen nicht Protokollsätze die Grundlage der Wissenschaft sein, die bereits in einer allgemeinen und intersubjektiven Sprache formuliert sind, sondern sprachliche Gebilde, in denen sich ‚unmittelbar‘ und aus sich selbst Wahrnehmungen darstellen können, weshalb sie als solche nicht festgehalten werden können, obwohl sie zunächst doch sprachlich sind. Man könnte auch sagen, dass Schlick das zentrale Problem in Carnaps Protokollsätzen sehr genau erkannte und in einer paradoxen Konzeption aufzulösen versuchte. Carnap wollte den Zusammenhang seiner phänomenalen Sätze mit den physikalistischen Sätzen um jeden Preis aufrechterhalten und konzipierte die ersteren deshalb so, dass sie eine ‚Gehaltgleichheit‘ mit den letzteren aufweisen konnten. Schlick erkannte sehr genau, dass damit der ‚Kontakt‘ mit der Wirklichkeit verloren geht und versuchte mit seiner Konzeption, eine unmittelbare Basis des Wissens in Konstatierungen zu finden, die einerseits sprachlich verfasst sein sollten, die andererseits aber gerade nicht sprachlich fixierbar sein durften, weil sonst ihr Charakter als an eine bestimmte Raum-Zeit-Stelle gebundener Äußerungen dementiert wäre.

Da Konstatierungen von einem Deuten abhängig sind, können sie offenbar keine allgemeine und mitteilbare Bedeutung gewinnen. Wie sollen sie also mit wissenschaftlichen Sätzen verglichen werden können, da sie doch nur bei ihrer Aufstellung gelten? Ohne eine solche Vergleichbarkeit können sie offenbar keine Begründungsfunktion für die Wissenschaft besitzen. Für Schlick waren solche Konstatierungen keine Hypothesen. Aber wenn sie in Sprache – in Protokollsätze – eingehen, werden daraus Hypothesen, also Behauptungen über die Wirklichkeit, die auch anders sein könnten. Schlick wollte offenbar sicherstellen, dass Wahrnehmungsvorgänge direkt in die Begründung der Wissenschaft eingehen können. Damit verlor er aber gerade die gesuchte Möglichkeit, Beobachtungen so zu bestimmen, dass sie mit wissenschaftlichen Sätzen verbunden werden und ihnen als Verifikations- oder Falsifikationsgrundlage dienen können.

Es war aber von vornherein Otto Neurath, der im Wiener Kreis in Bezug auf die Begründung wissenschaftlicher Feststellungen die zukunftsweisende Position vertrat. Ihm zufolge ging es auf dem Weg zu einer idealen Sprache nicht um eine grundsätzliche Neukonzeption, sondern nur um die Verfeinerung und Präzisierung der Alltagssprache, denn die physikalistische Sprache ist grundsätzlich nichts anderes als die Sprache, die von Menschen im Alltag gesprochen wird, um mit der Welt umgehen zu können. Daran zeigt sich deutlich der Unterschied zu Carnap, nach dessen Konzeption die Wissenschaften auf den eigenen und ursprünglichen Protokollen aufruhen können. Nach Neurath dagegen haben die Protokollsätze keinen ausgezeichneten epistemischen Status: „Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen.“15 Vor allem aber bedürfen Protokollsätze selbst einer Bewährung, während Carnap sie noch bezeichnet hatte als „die Sätze, die selbst nicht einer Bewährung bedürfen, sondern als Grundlage für alle übrigen Sätze der Wissenschaft dienen“.16

Vor allem aber war Neurath das Problem bewusst, das den Empirismus in der Form des Logischen Empirismus schließlich scheitern lassen sollte. Wissenschaft ist ein System von Feststellungen, die nicht mit der Welt, der Wirklichkeit oder der Natur ‚verglichen‘ werden können, sondern nur mit anderen Feststellungen, durch die sie begründet oder widerlegt werden: „Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit ‚Erlebnissen‘, nicht mit einer ‚Welt‘ noch mit sonst was.“ Alles andere bezeichnete er als „diese sinnleeren Verdopplungen“, die der Metaphysik angehören. Er schrieb an dieser Stelle weiter: „Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten, Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. Statt die neue Aussage abzulehnen, kann man auch, wozu man sich im allgemeinen schwer entschließt, das ganze Aussagensystem abändern, bis sich die neue Aussage eingliedern lässt.“17

2.3.2Beobachtungssätze und das Basisproblem

Das Problem, das in diesem Buch unter dem Titel ‚Wissenschaftsphilosophie‘ behandelt wird, ist im Grunde dasjenige, das im Neopositivismus unter dem Titel ‚Basisproblem‘ verhandelt wurde. Es besteht darin, wie sich verstehen lässt, dass sich theoretische Sätze und Begriffe der Wissenschaften auf die Welt und ihre Wirklichkeit beziehen lassen, also auf letztlich außersprachliche Sachverhalte. Der Neopositivismus fand dafür eine Lösung, die bald mehr Probleme aufwerfen sollte als gelöst werden konnten. Dennoch war diese Lösung auf ihre Weise genial, und sie enthielt in sich bereits den Übergang in eine ganz andere Auffassung über das, was wir gerade als ‚Basisproblem‘ bezeichnet haben.

Am Anfang stand aber die Auffassung, es könne gelingen, die Beziehung zwischen wissenschaftlicher Theorie und Wirklichkeit mithilfe der Vorstellung aufzuklären, die Wissenschaft würde die Wirklichkeit abbilden, also so, wie eine Photographie das abbildet, was gerade vor der Linse der Kamera stand, als der Auslöser betätigt wurde. Für eine solche Auffassung gibt es offenbar nur eine mögliche Strategie: man muss solche selbst physikalische Theorieelemente in die physikalische Auffassung der Welt einbauen, die uns erklären, wie sich die Welt selbst in die Sprache ‚übersetzt‘. Es müsste also gelingen, die Wirklichkeit so aufzufassen, dass sie von sich aus geeignet ist, sich ohne Brüche in die Sprache der Wissenschaft transformieren zu können. Nehmen wir das Ergebnis dieses Versuches vorweg: es ist bis heute nicht gelungen, befriedigend zu erklären, wie wir es uns vorzustellen haben, dass die Welt sich selbst zu einer Ursache macht, deren Wirkung die sprachlich ausgedrückten Sätze und Theorien der Wissenschaft darstellen.

Der Neopositivismus kam deshalb bald zu einer anderen interessanten Lösung, die unsere Vorstellungen von Wissenschaft lange Zeit bestimmte, die inzwischen aber in der Wissenschaftstheorie und in der Wissenschaftsphilosophie nur noch quasi einen durchlöcherten und abgeschabten Fetzen darstellt, der bisweilen von solchen Wissenschaftlern zum Bedecken der nackten Stellen des Basisproblems verwendet wird, die den Kontakt mit der Entwicklung des Denkens über Wissenschaft gänzlich verloren haben. Interessant war diese Lösung aber zunächst, weil sie das Problem mit der ersten Auffassung sehr genau aufnahm. Wenn die Wirklichkeit nicht als solche und von sich aus in die wissenschaftliche Sprache kommen kann, und die Wissenschaft doch unzweifelhaft aus Sätzen und sprachlich formulierten Theorien besteht, so könnte man die Beziehung zwischen wissenschaftlichen Sätzen bzw. Begriffen und der Wirklichkeit doch als eine Beziehung zwischen sprachlichen Ereignissen zu verstehen suchen? Mithilfe dieser Frage wurde jene Beziehung nun als ein innersprachliches Verhältnis aufgefasst.

Es könnte scheinen, als wäre das Problem damit alles andere als gelöst, sondern man hätte einfach darauf verzichtet, überhaupt noch nach einer Möglichkeit zu suchen, die Beziehung zwischen sprachlichen wissenschaftlichen Sätzen und Begriffen und der Wirklichkeit zu suchen. An dieser Stelle trat nun jener Begriff auf, der die Wissenschaftstheorie und -philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Atem hielt und der erst danach durch intensive Kritik seine Bedeutung verlor. Das Zauberwort hieß nun ‚Basissätze‘, manche Denker sprachen auch von ‚Protokollsätzen‘ oder von ‚Beobachtungssätzen‘. Wir haben im letzten Kapitel diese Begriffsbildungen innerhalb des Logischen Empirismus näher skizziert. Es soll sich – kurz gesagt – um solche Sätze handeln, auf denen als Basis alle anderen empirischen und theoretischen Sätze in der Wissenschaft aufbauen können, von denen sie getragen und durch die sie begründet werden.

Es könnte aber immer noch scheinen, als hätte man damit aufgegeben, die Wissenschaft mit der Wirklichkeit in Verbindung zu bringen. Begründet werden soll alles, was in den Wissenschaften ausgesagt wird, durch Sätze. Aber so war es doch gerade nicht gemeint – die wissenschaftlichen Sätze sollten doch eigentlich durch ihren Bezug auf die Wirklichkeit begründet werden. Diesen Anspruch hat der Neopositivismus durchaus nicht aufgegeben. Daraus lässt sich der besondere Charakter solcher ‚Basissätze‘ entnehmen. Es soll sich offenbar um solche Sätze handeln, mithilfe derer wir so mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen, dass sich nichts dazwischen einmengt, was die Welt daran hindern würde, unmittelbar mit uns in Kontakt zu treten – aber ohne auf Sprache zu verzichten, auf die wir für die Begründung wissenschaftlicher Sätze angewiesen sind. ‚Basissätze‘ sollen offenbar einerseits Teil der Sprache sein, aber sie sollen doch auch den Ort darstellen, an dem sich die Wirklichkeit unmittelbar in der Sprache finden lässt, so dass die Bedingung erfüllt ist, die wir für ein Verständnis der Wissenschaft als ein innersprachliches Verhältnis stellen müssen.

Die Begriffe ‚Protokollsätze‘ und ‚Beobachtungssätze‘ bringen diesen Status von Basissätzen nun genauer zum Ausdruck, d. h. sie beschreiben diejenigen Eigenschaften, die solche Sätze besitzen müssen, damit sie die Funktion von Basissätzen erfüllen können, also als Basis für wissenschaftliche Sätze dienen können. Dass sie Beobachtungen zum Ausdruck bringen sollen, ist auf der Grundlage des Empirismus nicht anders zu erwarten. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass es die revolutionäre Stoßrichtung dieser neuen Wissenschaftsauffassung und ihrer Grundlegung in der entsprechenden Theorie der Wissenschaft war, dass wir das Wissen über die Welt (1) nicht durch Interpretationen heiliger Bücher erwerben können, auch wenn sie als von Gott selbst diktiert oder doch zumindest inspiriert aufgefasst wurden, und dass wir ein solches Wissen (2) auch nicht durch reines Denken beschaffen können.

 

Aber der Neopositivismus war sich längst des Problems bewusst geworden, dass es nicht genügt, einfach von Beobachtungen zu sprechen, die unser Wissen über die Welt fundieren können. Schon das, was wir als ‚Basisproblem‘ bezeichnet haben, gibt eine andere Stufe der Reflexion über die Beziehung der Wissenschaft zur Wirklichkeit an. Es stellt sich nun so dar: Wie müssen solche Sätze (nicht Beobachtungen ohne sprachliche Artikulation!) geartet sein, mit denen wir in einen unmittelbaren Kontakt zur Welt kommen können, und zwar so, dass wir mithilfe solcher Sätze schließlich wissenschaftliche Sätze begründen können, die uns Aufschluss über die Wirklichkeit geben können, weil sie über Basissätze (Protokollsätze, Beobachtungssätze) in einem unmittelbaren Kontakt mit der Welt stehen, der sich auf diese Weise auch auf die wissenschaftlichen Sätze übertragen lässt, obwohl diese keineswegs mehr einen unmittelbaren Bezug auf die Welt enthalten?

Es ist also keineswegs zufällig, dass im Neopositivismus bzw. logischen Positivismus solche Basissätze als ‚Beobachtungssätze‘ oder auch als ‚Protokollsätze‘ bezeichnet wurden. Sie sollen keinen anderen Gehalt und keine andere Bedeutung besitzen als eben nur die Beobachtung, die aus der Welt selbst stammt, darin liegt die Pointe, die sie für die wichtigste wissenschaftsphilosophische Denkrichtung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so bedeutsam machte. Die sprachliche Äußerung soll nichts hinzutun – genauso, wie ein Protokoll nichts zu dem hinzufügen soll zu dem, was etwa in einer Gerichtsverhandlung oder bei einem Verhör gesagt wurde, sondern getreulich wiedergeben soll, was geschehen ist. Der ideale Beobachtungssatz kann also deshalb als Basissatz gelten, weil er außer dem Ort und der Zeit nur eine Sinneswahrnehmung angibt: ‚Hier jetzt rot‘.

Damit werden einige weitreichende Forderungen erhoben, die sich in zwei Gruppen unterscheiden lassen. Zunächst (1) wird behauptet, es sei mit solchen Sätzen möglich, eine unmittelbare oder nicht vermittelte Beziehung zur Welt zur Sprache zu bringen. Die Subjektivität des Sprechers eines solchen Satzes soll gänzlich außer Acht bleiben; ein Basissatz ist also unabhängig davon, wie gerade dieser Sprecher oder die soziale oder kulturelle Gruppe, der er angehört, die Welt zu sehen pflegt. Er soll auch von der verwendeten Sprache unabhängig sein, d. h. er lässt sich ohne den geringsten Bedeutungsverlust in andere Sprachen übersetzen. Anders gesagt: die in einem solchen Satz verwendeten Ausdrücke sind bedeutungsidentisch mit entsprechenden Ausdrücken in anderen Sprachen. Deshalb spielt die Geschichte keine Rolle bei der Formulierung solcher Sätze. Das bezieht sich zunächst auf die menschliche Geschichte, in der sich kulturell geprägte Formen der Wahrnehmung ausgebildet haben. Aber auch die geschichtlich gewordene Sprache soll keine Bedeutung für den Inhalt des Satzes haben.

Darüber hinaus ergibt sich eine zweite Forderung (2) daraus, dass die Bedeutung solcher Basissätze nicht darin liegt, dass es sie einfach gibt, sondern in ihrer Funktion für die Begründung wissenschaftlicher Sätze, die selbst nicht den Status von Basissätzen beanspruchen können, die also nicht nur Beobachtungen wiedergeben, sondern weit kompliziertere Zusammenhänge behaupten, wofür sie sich aber auf Basissätze stützen, aus denen sie begründet werden können. Das setzt offenbar voraus, dass sich alle wissenschaftlichen Sätze, mit denen wir etwas über die Welt behaupten, in Beobachtungssätze bzw. Protokollsätze übersetzen lassen müssen, damit wir von ihnen behaupten können, sie stehen in Kontakt mit der Wirklichkeit. Wir müssen wissenschaftliche Sätze also ohne Bedeutungsverlust in solche Sätze umformen können, die die Anforderungen an Basissätze erfüllen.

Wir können das auch so ausdrücken: wir müssen alle wissenschaftlichen Sätze auf analytischem Wege in Basissätze auflösen können, mithilfe derer wir die ersteren überprüfen können – ob nun verifizieren oder falsifizieren, das ist grundsätzlich nicht von Bedeutung. Wir sollten beachten, dass Poppers späterer Entwurf einer Falsifikationstheorie der wissenschaftlichen Aussagen zwar als Kritik am Neopositivismus (logischen Positivismus) gedacht war, dass seine Neuorientierung der Wissenschaft an der Falsifizierung (anstelle der Verifizierung) von Aussagen im Grunde die gleichen Fragen aufwirft wie die neopositivistische Lösung des Basisproblems mithilfe von Beobachtungs- bzw. Protokollsätzen. Das Übersetzungsproblem tritt immer dann auf, wenn wissenschaftliche Sätze in Beobachtungssätze transformiert werden müssen, um sie in Kontakt mit der Wirklichkeit bringen zu können, und zwar so, dass darin keine Bedeutung verloren geht und ohne dass bei den Beobachtungssätzen, die analytisch aus den wissenschaftlichen Sätzen gewonnen wurden, etwas anderes ankommt als das, was in den wissenschaftlichen Sätzen enthalten war.

Dass wir heute diese Forderungen formulieren können, geht natürlich darauf zurück, dass die neopositivistische Auffassung vom Basisproblem – also über die Art und Weise, wie die Wissenschaft in Kontakt mit der Welt treten kann – inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert lang intensiv untersucht und geprüft wurde, wobei sich mehr Probleme als Lösungen gezeigt haben. Die Problemlinien verliefen genau an den Stellen, die wir gerade in zwei Gruppen zusammengefasst haben: (1) betreffend die Möglichkeit einer geschichts-, subjektivitäts-, kultur- und sprachgeschichtsfreien Transformation des Wahrnehmungskontakts mit der Welt in Beobachtungssätze; und (2) betreffend die Möglichkeit einer die Bedeutung vollständig erhaltenden Auflösung wissenschaftlicher Sätze in Beobachtungssätze. Das letztere Problem werden wir im Kapitel über das Experiment noch genauer untersuchen (Kap.3.3). Dort wird sich zeigen, dass eine Lösung für dieses Problem deshalb unmöglich ist, weil es wirklich analytische Urteile nicht gibt.

2.3.3Der Logische Empirismus und das Problem theoretischer Begriffe

Wir könnten den Logischen Empirismus grundsätzlich als einen Versuch auffassen, das Problem zu lösen, wie man denn wissenschaftliche Erkenntnisse begründen könne, wenn sie nicht nur und ausschließlich durch Wahrnehmungen als wahr nachgewiesen werden können. Man könnte dieses Problem auch so ausdrücken: was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten können, mit dessen Wahrheit haben wir gewöhnlich keine Schwierigkeiten. Die Wahrnehmung gilt uns also als der ‚Königsweg‘ zu einem sicheren Wissen. Dieses Kriterium aber kann die Wissenschaft nicht erfüllen, auch wenn sie noch so sehr bemüht ist, sich auf die Wahrnehmung zu stützen, um ihre Aussagen zu begründen. In ihren Aussagen kommen nicht nur empirische, sondern auch theoretische Begriffe vor, d. h. solche, die sich nicht auf wahrnehmbare Dinge beziehen, sondern auf etwas, was wir durch die Sinne nicht erkennen können. Das Problem war also, die theoretischen Begriffe so aufzufassen, dass wir letztlich doch einen Weg finden, um sie und ihre Bedeutung und ihre Wahrheit durch einen Bezug auf etwas Wahrnehmbares erklären zu können. Vom ‚logischen‘ Empirismus war also eigentlich die Rede, weil diese philosophische Richtung mit dem Problem beschäftigt war, wie sich das ‚Logische‘ in der Wissenschaft so auffassen lasse, dass wir an dem Gedanken festhalten können, Wissenschaft sei ein Zusammenhang von Aussagen, die sich letztlich doch durch Wahrnehmungen ausweisen können, also so, wie wir uns einen Bezug zur Wirklichkeit an sich im Allgemeinen vorstellen.

Man muss sich verdeutlichen, was mit dem Anspruch, letztlich alle wissenschaftlichen Aussagen auf die Beobachtung, also auf die Wahrnehmung und damit auf die Erfahrung, zu gründen, eigentlich gemeint war. Dazu ist es nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass das Denken der Philosophie seit ihren Anfängen auf dem Anspruch gründete, dass es eine Erkenntnis gebe, die nicht auf der Erfahrung beruht, d. h. nicht auf Beobachtung und der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Anspruch hat sich seit Kant allerdings fundamental verändert. Kant akzeptierte sehr wohl, dass alle unsere Erkenntnis durch die Erfahrung entsteht und dass die Wissenschaft es ganz richtig macht, wenn sie sich auf die sinnliche Wahrnehmung beruft. Allerdings machte er auch geltend, dass es dafür Voraussetzungen im Denken gibt – und eben diese Voraussetzungen lassen sich selbst nicht aus der Erfahrung entnehmen, sondern stellen eine Erkenntnis dar, die man nur gewinnen kann, indem man über die Bedingungen und Voraussetzungen einer Erkenntnis durch Erfahrung nachdenkt. Diese Erkenntnis ist nur durch Denken zu gewinnen, nicht durch Beobachtung und sinnliche Wahrnehmung. Auf dieser Grundlage hatte die Philosophie zwar nichts mehr zu sagen auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis, wohl aber auf einem eigenen Gebiet der Erkenntnis durch Analyse der Voraussetzungen für jenes wissenschaftliche Erkennen.

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