GLOBALE PROVINZ

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Die Schüler, die das nagelneue Fach »Programmieren« belegten und damit, wie man sagte, »an den Computer durften«, trugen die zusammengewickelten Lochstreifenrollen der von ihnen erstellten Programme mit sich herum. Es war das »Statussymbol« der einschlägig Inaugurierten. Im Fach Programmieren wurde man als Schüler unterrichtet, was ein Programm ist und macht, und man lernte die Programmiersprache BASIC kennen. Algorithmen wurden als Daten-Flussdiagramme und Programm-Ablaufpläne in die Schulhefte gemalt. Wir Schüler hatten übungshalber Programmieraufgaben zu lösen. Ich realisierte damals ein Programm, das zu einer gegebenen Wertetabelle als Input feststellte, ob diese Wertetabelle, also die Elemente und ihre Verknüpfung in der Tabelle, eine sogenannte »Abelsche Gruppe« darstellte – oder eben nicht, »Ja« oder »Nein«. Der Output meines Programms war also ein einziges Bit. Aber auch so ein einziges Bit kann eine wertvolle Information darstellen.

Als eine zusätzliche Möglichkeit der Dateneingabe verfügte der Schulcomputer noch über einen Markierungskartenleser. Einer der Physiklehrer ließ uns – von ihm sogenannte – »Computerklausuren« schreiben. Die Ergebnisse der Aufgaben wurden von uns Schülern kodiert mit Bleistift auf eine Markierungskarte übertragen und vom WANG-Schulcomputer ausgewertet. Innerhalb weniger Minuten lagen die Noten vor – ein Vorgang, der bei einer regulären Korrektur durch den Lehrer einige Tage gedauert hätte. Ich hatte mich mit den Markierungen auf meiner Karte vertan und erhielt in einer Physikklausur die – nun gar nicht so gute – Note 3. Natürlich habe ich gegen das skandalöse und offensichtliche Fehlurteil protestiert. Der Lehrer wiegelte ab, er könne da leider nichts mehr machen. Das Verfahren sei nun einmal so »programmiert«. Ich war zum Opfer eines starr programmierten und daher inhumanen Prozesses geworden. Dieser Kartenmarkierungs-Fehler ist mir unvergesslich – und nur(!) deshalb kann an dieser Stelle davon berichtet werden.


Ein Original-Computer WANG mit Peripherie vom Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre. Er ist ein Exponat des »technikum29 Computermuseum« in Kelkheim (Taunus). Abgebildet ist eine funktionsfähige Computer-Anlage WANG 2200B mit umfangreicher Peripherie, wie Monitor (mit einem niedlichen Bildschirm, ohne eine Tastatur, aber mit einem Kassettenlaufwerk als Speicher), separater Tastatur, Kartenlesern – das alles steht im oberen Regal. Der eigentliche Computer steht unten in der Mitte. Neben dem riesigen dreifachen 8-Zoll Diskettenlaufwerk – unten links – ist insbesondere das Plattensystem – unten rechts – bemerkenswert. Es ist gigantisch und hat eine Masse von circa 100 kg und kann – damals sehr komfortable – 5 Megabyte an Daten speichern. Am Gymnasium in Michelstadt hingegen wurde der Schulcomputer WANG fast 40 Jahre im Magazin auf dem Dachboden aufbewahrt. Dann verliert sich seine Spur. Ein banales Ende eines verdienstvollen Lebens – um es anthropomorph auszudrücken.

Nichtsdestoweniger stellte es für die Schüler einen absoluten Glücksfall dar, dass sie schon so früh mit dem Metier »Computer« in Kontakt gekommen waren. Noch Jahre später hat man bei den diversen Abitur-Ehemaligen-Jubiläen Personen treffen können, die in diversen Bereichen der Informationstechnologie sehr erfolgreich tätig waren. Das Fach »Programmieren« in der Schule hatte schon einen Nutzen für den späteren Berufsweg. Allerdings gab es unter Absolventen auch den Geschäftsführer eines erfolgreichen IT-Unternehmens, der am Gymnasium seinerzeit in »Programmieren« die Note 5 geerntet hatte – und damit gerne kokettierte. Ein einfacher Kausalzusammenhang zwischen Programmierunterricht und beruflichem Erfolg in der IT scheint also auch nicht unbedingt gegeben zu sein.

Der WANG-Schulcomputer hatte ausgesprochene Verehrer. Typischerweise waren das solche Mitschüler, die dem Taxon der Schlaumeier-Artigen zuzurechnen waren. Diese jungen Leute waren das, was man viele Jahre später als »Nerds« bezeichnen sollte. Sie hatten Lochstreifenrollen mit riesigem Durchmesser bei sich und erheischten, damit auftretend, schon einigen Respekt. Einer hatte sogar ein BASIC-Programm geschrieben, mit dem man das Brettspiel »Dame« spielen konnte. Nicht nur mir war völlig unverständlich, was das sollte. Einerseits war der Computer nicht in der Lage, die interessanten, menschlichen Regungen kundzutun, die mit einem Gewinnen oder Verlieren des Spiels verbunden waren. Andererseits kam mir das so vor, als wolle man in einem Hundertmeterlauf gegen ein Motorrad antreten. Das mag ja zu Gottfried Daimlers Zeiten gerade noch lustig gewesen sein. Aber eines Tages würden die Programme und Maschinen formale Spiele, wie »Dame« oder auch »Schach«, sowieso immer gewinnen. Ein Spielen mit einem Computer kann zu einem gigantischen »waste of time« werden. Und so wurde ich in Sachen Computerspiele quasi ein »Abstinenzler« – was sich im Laufe der Jahre als sehr nutzbringend erwiesen hat. Aus der Sicht der Schulleitung schildert an dieser Stelle nun Richard Knapp, was aus der Computerbenutzung an der Schule zu Beginn der 2020er-Jahre geworden ist.

Studiendirektor Richard Knapp, Leiter des Gymnasiums Michelstadt

Exkurs – Computer in der Schule

Wenn man das so liest, so erinnert man sich zurück an die ersten Schulcomputer zu Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre als die damaligen Vorboten einer neuen Zeit. Es war Ende der 1970-er-, Anfang der 1980-er- Jahre, als die ersten Computer ihren Weg in die Schulen fanden. Das waren keine wirklichen Arbeitsgeräte, sondern eher Maschinen, an denen sich kleine Gruppen von mathematisch Interessierten in Sachen Logik und Programmierung ausprobierten. Diese ersten Computer verschwanden irgendwann auf den Dachböden der Schulgebäude, denn sie wurden schnell von der nächsten Generation der Informationstechnik verdrängt, die leistungsfähiger und günstiger waren, das Betriebssystem war nutzerfreundlicher. Die PCs hielten langsam Einzug in die Schulen und zwar in zwei Bereichen. In der Verwaltung ersetzte der PC zunächst die Schreibmaschine. Es folgte eine einfache Datenverarbeitung, die zur Stundenplanerstellung genutzt werden konnte. Von dort führte ein direkter, aber langsamer Weg zur weitgehenden Digitalisierung der Verwaltung. Parallel dazu nutzten immer mehr Lehrkräfte den PC zur Erstellung von Unterrichtsmaterialien. Auch hier nahmen die Möglichkeiten mit zunehmender Leistungsfähigkeit der Geräte zu, ohne dass diese jedoch wirklich den Weg in die Klassenzimmer gefunden hätten. Eine Ausnahme bildeten die sogenannten »Computerräume«, in denen den Lernenden informationstechnische Grundkompetenzen beigebracht wurden.

Zwei Neuerungen leiteten dann – so ab dem Jahr 2010 – einen fundamentalen Wandel ein. Die erste Neuerung war die zunehmende Bedeutung des Internets für die Lernenden. Es war zunächst als Informationsquelle wichtig, aber auch als Kommunikationsmedium über soziale Plattformen, wie zunächst Schüler-VZ und später Facebook und Instagram. Letztlich kamen die Schülerinnen und Schüler damit erst so richtig »ins Boot« der Informationsgesellschaft. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch eine zweite Neuerung. Die Verbreitung von Smartphones ermöglichte die Nutzung des Internets – vor allem für diese genannten Zwecke – auch mobil, immer und überall. Die Schulen arbeiteten an Regelungen, wie mit diesen Handheld-Computern umgegangen werden soll, ob sie im Unterricht und auf dem Pausenhof erlaubt oder verboten sein sollten. Für Schülerinnen und Schüler waren und sind Computer zuallererst Geräte für die Kommunikation und Unterhaltung. Es muss ihnen – zum Teil recht mühsam – erst noch beigebracht werden, dass man damit auch arbeiten kann.

Die Informationsgesellschaft hat in den Jahren von 2015 bis 2020 den Unterricht in der Schule gewandelt. Im Schulunterricht kamen leistungsfähige Präsentationsgeräte, wie das interaktive Whiteboard auf. Ein weiterer Wandel wurde vor allem durch die Corona-Pandemie des Jahres 2020 beschleunigt. Bessere Endgeräte und Internetanbindungen ermöglichen die Nutzung von Online-Lernplattformen, Cloud-Lösungen und Videokonferenzsystemen im schulischen Alltag. Damit ergibt sich aktuell eine Situation mit großem Potenzial, aber auch nicht zu unterschätzenden Risiken.

Durch finanzielle Unterstützungsprojekte, wie den sogenannten »Digitalpakt«, werden Schulen nach und nach in allen Räumen mit digitaler Infrastruktur, von Computern über Anzeigegeräte bis hin zu WLAN, ausgestattet. Gleichzeitig verfügen fast alle Schülerinnen und Schüler über private und portable Endgeräte, wie Smartphones, Tablets, Laptops. Der Ausdruck »bring your own device« kennzeichnet diese Situation. Es gibt Leihgeräte, um eventuelle Ausstattungslücken zu decken, und je nach Konzept, »Tablet-Koffer« oder Ähnliches zur Arbeit mit digitalen Medien im Klassenraum. So verlieren die ehedem modernen »Computerräume« paradoxerweise wieder ihre Bedeutung, da viele Nutzungen nun in den regulären Klassenräumen stattfinden können.

Das Strategiepapier »Bildung in der digitalen Welt« der Kultusministerkonferenz aus den Jahren 2016 und 2017 legt sehr detailliert fest, über welche Kompetenzen in Bezug auf digitale Medien die Lernenden heute verfügen sollen. Spätestens seitdem stehen Schulen vor der Herausforderung, in Konzepten zu präzisieren, wie sie sich die »Bildung mit digitalen Medien«, aber auch die »Bildung über digitale Medien« vorstellen. Von der Architektur des Internets über soziale Aspekte, Medienkritik, Spielsucht bis zum Datenschutz ist dies eine gewaltige, aber eminent wichtige Bildungsaufgabe, die Schulen bewältigen müssen. Bedauerlicherweise stehen dafür kein eigenes Fach »Informationsund Medienkompetenz« oder zusätzliche Unterrichtsstunden zur Verfügung.

 

Die Nutzung von digitalen Medien für den Unterricht vor Ort oder auch zu Hause ermöglicht völlig neue, auch individuelle Lernzugänge, die das Lernen bereichern und effizienter machen können. Den sozialen Kontakt jedoch können digitale Medien weder zur Lehrperson noch zu Mitschüler*innen dauerhaft ersetzen und ihre extensive Nutzung birgt sehr wohl ernsthafte Gefahren für die psychische und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Hier eine gute Balance zu finden, ist eine der großen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben der Schulen.¶

Am 12. Mai 1941 hatte Konrad Zuse seinen Z3, den ersten »echten«, programmierbaren, elektronischen Computer, der Öffentlichkeit vorgestellt. Das war im Frühjahr des Jahres 1981 gerade erst 40 Jahre her. Die Bedeutung dieser Erfindung sollte in den kommenden(!) 40 Jahren eine ungleich größere als in den vergangenen(!) 40 Jahren werden. Für Schüler wie mich war im Frühjahr 1981 vor allem das Ablegen der diversen Abiturprüfungen wichtig. Zum Schluss der Schulzeit war eine große Feierstunde anberaumt, bei der die frischen Abiturienten der Schule – es waren immerhin über 150 – ihre Zeugnisse erhielten. Die Jahrgangsbesten wurden gewürdigt. Vertreter der Lehrer, der Elternschaft und der Schüler hielten jeweils eine kleine Rede. Ich sprach für die Schüler, denn man meinte, diese Aufgabe fiele dem »Schüler Hofmann« ja sicher ganz leicht. Das Thema meines Vortrags war »Vermassung, Vereinsamung und Entfremdung«. Ich erläuterte, dass die – damals noch relativ neue – Struktur des Kurssystems, das die alten Schulklassen abgelöst hatte, die von Karl Marx für die Lohnarbeiter geschilderten Entfremdungsphänomene fördert. »Der Schüler ist in der Schule außer sich und außer der Schule bei sich« – so eine meiner Formulierungen. In den quasi »kontextfreien« Kursen wurde der übergreifende Sinn der Lerninhalte nicht mehr in dem Maß wie früher vermittelt, als die Lehrpersonen eine Schulklasse über Jahre hinweg »kontextsensitiv« begleiteten und prägten. Der Dreikampf »Lernen, Prüfen, Vergessen« konnte bei vom Lehrgegenstand quasi »entfremdeten« Schülern verstärkt beobachtet werden. In der zuhörenden Elternschaft gab es einige reaktionäre Elemente, die allein schon die Erwähnung von Karl Marx in meiner Rede zum Anlass nahmen, meine Ausführungen in Grund und Boden zu verdammen. Verstanden hatten sie zwar relativ wenig, aber zu einem diskreditierenden Protest sahen sie sich allemal qualifiziert.

Auf den philosophischen Weg – und damit auch zu Karl Marx – war ich damals gelangt, weil ein – weiteres – Wahlfach »Philosophie« am Gymnasium angeboten wurde. Es wurde vom späteren Direktor der Schule, Ernst Ruppert, angeboten. Wir Schüler hatten als Basislektüre das Buch von Wilhelm Weischedel »Die philosophische Hintertreppe: Die großen Philosophen in Alltag und Denken« erhalten. Im Unterricht von Ernst Ruppert wurden wir auch mit dem von Karl Raimund Popper geprägten Kritischen Rationalismus bekannt gemacht. Die Frage ist – nach Popper – nicht die absolute Korrektheit einer wissenschaftlichen Theorie, sondern was zu tun sei, wenn man eventuell Fehler in einer Theorie findet. Dieser Ansatz des Kritischen Rationalismus sollte viele Jahre später im Metier der Digitalen Ethik und der Ethik der Automatisierung eine wichtige Rolle spielen. Der kritische Rationalismus fragt danach, wie fehlerhafte Automaten als solche erkannt und verbessert werden können.

Einige Monate nach dem Abitur passierte etwas, was viele Jahre später ein »Posting« genannt werden sollte. Eine Mitschülerin hatte das Manuskript meiner Abiturrede, das ich ihr im Entwurf zwecks Kommentierung überlassen hatte, ohne Rücksprache an die Wochenzeitung »Die Zeit« geschickt. Der Zeit-Redakteur Michael Schwelien bereitete gerade die Herausgabe des Buches »Vorbereitet fürs Leben? Deutsche Abiturreden heute« vor – und meine Rede wurde darin abgedruckt. Ohne mein weiteres Zutun war das (m)eine erste echte Publikation. Zu Beginn der 2020er-Jahre würde ein Abiturient einen solchen Text einfach in ein Netzwerk stellen – dann wäre er auch von quasi »allen Leuten« lesbar.

Im Sommer 1981 war die Schule dann aus – die Schulzeit vorbei. Von bleibendem Wert waren ausgerechnet die zwei – damals eigentlich ganz nebensächlichen – Wahlfächer »Programmieren« und »Philosophie«. Sie spielten für das Arbeiten und Zurechtfinden in der kommenden Informationsgesellschaft eine wichtige Rolle.

Darmstädter Computergraphik – Symmetrien und Perspektiven (1982 – 1986)

Die neue Wissenschaft »Informatik« ist zunächst eher am Rand des allgemeinen Studien- und Hochschulbetriebs positioniert. Ein wichtiger Impuls für ihre allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung ist die Entwicklung von Graphik-Computern, die vielfarbig-bunte Bilder berechnen und verarbeiten können.

Auch in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre hatte ein Abiturient den Wunsch, ein Studium zu beginnen, welches Aussichten auf eine einigermaßen zukunftsfähige und einträgliche berufliche Tätigkeit mit sich brachte. Nicht nur meine Überlegungen gingen in Richtung Physik. Der bevorstehende Ausbau der Nutzung der Atomenergie und eine Tätigkeit in einem der neuen Kraftwerke erschien vielen Abiturienten sehr lukrativ zu sein. Auch hielt ich mich hier für absolut qualifiziert – hatte ich doch in der Physik-Abiturprüfung, zum Thema der Gleichungen des Erwin Schrödinger, die Note »sehr gut« erhalten. Ich ahnte noch nicht, wie sehr sich der Wert einer solchen Leistung im Laufe des Lebens relativieren würde.

Aus reiner Bequemlichkeit kam für mich nach der Schulzeit nur der naheliegende Studienort Darmstadt in Frage. So konnte ich weiterhin zu Hause im Odenwald wohnen bleiben und täglich mit dem PKW hin und her pendeln. In Darmstadt gab es die zur Kaiserzeit gegründete Technische Hochschule Darmstadt (THD). Diese THD sollte etwa 15 Jahre später, im Oktober 1997, in »Technische Universität Darmstadt« (TUD) umbenannt werden. Umgekehrt nahmen einige nicht-universitäre Hochschulen – als Fachhochschulen ohne Promotionsrecht, aber mit der Lizenz zum Pragmatismus – nun ihrerseits eine Umbenennung in »Technische Hochschule« vor.

An der TH Darmstadt erschien damals nicht nur ein Studium der Physik, sondern auch anderer technischer Fächer ganz attraktiv zu sein. Ich war mir alles andere als gewiss, was zu tun wäre. Im Herbst des Jahres 1982 trat ich schließlich ein Studium – ausgerechnet – der Informatik an. Ein Onkel arbeitete bei der Deutschen Lufthansa und meinte: »Computer sind die Zukunft!« Vielleicht gab das den Ausschlag. Im Jahr 1982 war das Fach Informatik an der THD noch ein absoluter »second choice«. Sie erschien als ein gerade noch brauchbarer Kompromiss aus akademischem Anspruch, praktischer Umsetzbarkeit und ökonomischer Relevanz. Mit dem Studium der Informatik verband ich – für meinen Teil – damals keine besonderen Erwartungen. Ich habe sowohl das Studienfach Informatik als auch den Studienort TH Darmstadt (THD) aus absolut niederen Beweggründen gewählt. Es war sowohl ein weichenstellender Zu- als auch Glücksfall. Aber, »die Welt ist alles, was der Fall ist« – wie es ein Österreichischer Philosoph einmal auf den Punkt gebracht hat.

Im Jahr 1982 besaßen viele Studierende Autos, wie einen VW Käfer oder einen Opel Kadett. An den Autos kann der Stand der Technik im Alltag der damaligen Zeit erläutert werden. Der typische Motor war ein Ottomotor mit etwa 30 bis 40 PS. Es gab keine Servobremse oder Servolenkung, keine elektrischen Fensterheber, keinen Airbag, irgendwelche Computer waren schon gar nicht in diesen Autos vorhanden. Die Vergaser-Motoren verbrauchten verbleites Benzin – locker mehr als 10 Liter pro 100 km. Um den kalten Motor starten zu können, musste die in den Vergaser einströmende Luft mit einer Seilzug-Starterklappe namens »Choke«, der »Würgung«, zunächst begrenzt werden. War der Motor warm, konnte man den Choke wieder zurückstellen. Die Karosserien rosteten an allen Ecken und Enden. Immerhin waren diese Autos schon etwa einige Jahre benutzbar. Das modernste Auto war damals wohl der »Audi quattro« – er hatte zwar schon einen Allradantrieb, aber (noch) keinen Abgaskatalysator.

Noch auf Jahre hinaus sollte die akademische Informatik – nicht nur an der THD – von Personen geprägt werden, die irgendetwas anderes gelernt oder studiert hatten, und dann im langsam aufkommenden Boom des Metiers Informatik als Quereinsteiger auftraten. Einer der Mitarbeiter im Rechenzentrum der THD war ein gelernter Frisör, der uns – als ich später wissenschaftlicher Mitarbeiter war – am frühen Morgen im Rechnerraum durchaus die Haare schneiden konnte, so dies gewünscht wurde. Auch die meisten Informatik-Professoren an der THD waren selbstredend noch keine echten Informatiker. Studierte Elektrotechniker waren für die Praktische Informatik zuständig, die Theoretische Informatik wurde von Mathematikern vertreten. Informationstechnologie wurde damals von (vor allem männlichen) Experten für (hauptsächlich männliche) Nutzer gemacht. Der Frauenanteil in der Informatik-Professorenschaft an der THD lag bei exakt null Prozent.

Die Informatik war erst wenige Jahre zuvor überhaupt in das Portfolio der akademischen Lehre aufgenommen worden. Die THD hatte dabei allerdings eine wichtige Vorreiterrolle gespielt. Die Darmstädter Hochschullehrer Alwin Walther und Robert Piloty waren frühe Informatik-Pioniere. Es war indes nicht klar, ob sich die Informatik dauerhaft an den Hochschulen würde etablieren können. Sie hätte durchaus das gleiche Schicksal wie die einst mit vielen Hoffnungen bedachte Kybernetik erleiden und wieder in der Versenkung verschwinden können. Die THD hatte mit großem Mut eine der ersten Informatik-Fakultäten namens »Fachbereich Informatik« in Deutschland gegründet. Das war zu meinem Studienbeginn gerade erst zehn Jahre her. Der erste Doktorand in der Informatik in Darmstadt war im Jahr 1975 übrigens Wolfgang Coy, der später als Professor an der Universität Bremen und an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig wurde. Viele Jahre später sollte, nach der Anzahl der Studierenden gerechnet, das Fach Informatik eine sehr wichtige Rolle in der akademischen Ausbildung spielen – und das nicht nur am Hochschulstandort Darmstadt.

Exkurs – Das Informatik-Lehrbuch von Koch und Rembold aus dem Jahr 1977

Wenn man das so liest, dann muss man sehen, dass in diesen frühen Jahren so etwas wie die »wissenschaftliche Literatur« der Informatik nur rudimentär existierte. Gegen Ende des Jahres 2013 würdigte man das Erscheinen eines der ersten Lehrbücher im Carl Hanser Verlag, München. Seitens des Verlags war man fast überrascht, dass die Informatik als universitäre Disziplin mit der Gründung der ersten Informatikfakultät an der TU Karlsruhe erst gut 40 Jahre alt war. Wir erleben erst seit den letzten 40 Jahren das Aufkommen der »Computerwissenschaften« in Deutschland mit allen massiven Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft.

Die unglaublich breite und schnelle Expansion eines neuen Faches und seine Durchdringung aller Bereiche wurden durch eine erste Generation von Informatikern in Gang gesetzt, die von ihrer Ausbildung her noch eher Mathematiker oder Elektroingenieure waren. In diesem Kontext war das erste, 1977 im Carl Hanser Verlag erschienene Buch zur Ausbildung von angewandten Informatikern ein Wegbereiter. Es war die »Einführung in die Informatik für Naturwissenschaftler und Ingenieure« von Günter Koch und Ulrich Rembold, wobei dem Ersteren, als »Zeitzeugen« der Geschichte der Informatik als Studienfach, das Verdienst zukommt, die Initiierung, Konzeption und den größten Teil der Texte des Buches verfasst zu haben. Dieses Pionierwerk wird bis heute verlegt und ist aktuell unter seinem Ursprungstitel lieferbar.

Es konnte sich als Lehrbuch der Informatikingenieure vieler Generationen so lange halten, weil die in den 70er-Jahren von Koch und Rembold dazu verfassten Konzepte und Grundlagen weitsichtig geplant und formuliert worden waren. Die »Einführung in die Informatik für Naturwissenschaftler und Ingenieure« gehört zu den publizistischen Meilensteinen der Informatik und ihre Autoren zu den maßgeblichen Pionieren.¶

Das Rhein-Main-Gebiet und auch die Stadt Darmstadt waren in den 1980er-Jahren noch stark vom Kalten Krieg geprägt. Wiesbaden, Darmstadt, auch Babenhausen und Aschaffenburg waren wichtige US-amerikanische Garnisonsstädte. Einen nicht geringen Teil des Frankfurter Flughafens hatte die U.S. Air Force in Benutzung. Mein Auto hatte ein recht einfaches UKW-Radio, das war meistens auf »AFN Frankfurt« (American Forces Network Frankfurt) eingestellt. Ein eher einfaches Radio war nicht so diebstahlgefährdet – teure Autoradios wurden damals gerne und öfters aus den Autos gestohlen. Der AFN residierte in der Frankfurter Bertramstraße neben dem Hessischen Rundfunk. Sonntagnachmittags lief bei AFN immer »Casey’s coast to coast«. Das war die US-amerikanische Hitparade, präsentiert von Moderator Casey Kasem.

 

Man kann sich den Entwicklungszustand der Informationsgesellschaft um das Jahr 1982 klarmachen, wenn man bedenkt, was es damals alles noch nicht gab und wie Studierende damit zurechtkamen. Es gab keine Mobiltelefone, zum Telefonieren musste man entweder zu Hause sein – oder aber einen öffentlichen Telefonzellen-Münzfernsprecher benutzen. Die Telefone in den Büros der THD waren für Studierende tabu. Zuhause im Odenwald hatten wir erst seit wenigen Jahren ein privates Telefon zur Verfügung. Ein Telefonapparat und sein Anschluss wurden von der staatlichen Deutschen Bundespost auf Antrag zugeteilt und quasi »amtlich« installiert. Der Telefondienst war eine staatliche Leistung, für die kein »Preis«, sondern »Gebühren« zu bezahlen waren. Dokumente wurden per Briefmarkenpost verschickt. Wenn es schneller gehen sollte, konnte man die Zustellung am Zielort per rotem »EXPRESS«-Aufkleber beschleunigen, der natürlich extra Porto kostete. Die SMS der damaligen Zeit waren umschlaglose Papp-Postkarten, die man mit bereits aufgedruckter Briefmarke im Postamt kaufen konnte. Kurze Texte ließen sich auch mithilfe von Fernschreibern »Telex« national – und auch international – elektronisch in Echtzeit verschicken.

Es gab noch keinerlei elektronische Kommunikation zwischen den Hochschullehrern der Informatik und den Studierenden. Übungsaufgaben wurden als kopierte Übungsblätter im Anschluss an die Vorlesungen ausgeteilt. Sie wurden zum Teil in Live-Tutorials von Studenten der höheren Semester betreut. Musterlösungen dazu gab es als Papier-Aushänge in den spezifischen »Schaukästen« in den Gängen der Institute – zum Ansehen oder manuellen Abschreiben vor Ort. Studien-Skripte und Materialien konnte man im Institut des Professors als Kopiervorlage ausleihen oder aber als Buch, das der Professor verfasst hatte, im Handel kaufen. Studierende erhielten einen kleinen Rabatt, wenn sie per vom Professor ausgestellten »Hörerschein« im Buchhandel nachweisen konnten, dass sie die zum Buch passende Vorlesung besuchten.

Selbst in der Informatik war die notwendige Literatur damals nur in Papierform verfügbar. Studierende konnten sie in der »Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt« ausleihen. Der Zugriff auf wissenschaftliche Arbeiten war ein ultra-langsamer Vorgang, der pro Zugriff einige Tage Zeit kostete. Manche Bücher waren ständig anderweitig ausgeliehen und standen damit faktisch nicht zur Verfügung. Zeitschriften waren oft gar nicht ausleihbar, sondern wurden nur in den Lesesaal der Hochschulbibliothek ausgegeben. Da saß man dann stundenlang und schrieb zu zitierende relevante Textstellen per Hand ab. Die einzige Alternative zur Handschrift war die mechanische Schreibmaschine. In der Stadt gab es Schreibbüros, die die handschriftlichen Vorlagen der Abschlussarbeiten und Dissertationen der THD-Absolventen mit Schreibmaschinen abtippten und in einen ordentlichen Schriftsatz brachten. Für Vervielfältigungen existierten aber schon Xerographie-Kopierer. Das waren riesige Apparate, man konnte sie per Münzeinwurf in Betrieb nehmen. Sie standen an zentraler Stelle in der Nähe der großen Hörsäle. Kopien waren teuer – der Preis von einer D-Mark pro Seite war nicht ganz unüblich.

In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre gab es noch lange nicht das, was später als »Social Network« oder als »Messenger Service« bekannt werden sollte. Daher war die Kommunikation in der Studentenschaft noch sehr viel mehr als in den 2010er-Jahren, oder gar zu Beginn der 2020er-Jahre, auf persönlicher Präsenz basierend. Dauernd war irgendwo ein »Happening« oder ein »Event« fällig. Angekündigt werden konnte das damals nur per Plakataushang oder über das Verteilen von Handzetteln, also nicht elektronisch. Die Mensa war in der Regel den ganzen Tag über sehr gut besucht, also nicht nur zur Nahrungsaufnahme. In der Mensa traf man sich als Peer-2-Peer-Lerngruppe zur Bearbeitung von Übungsaufgaben und Klausurvorbereitung. Man erklärte sich die Lehrgegenstände gegenseitig. Man kann ja durchaus zufrieden sein, wenn es gelingt, den Kommilitonen einen Sachverhalt zu erklären. Denn wenn man etwas erklären kann, dann müsste man es auch selbst verstanden haben.

Die Studierenden waren in einem hohen Maße politisch organisiert. Wenn Hochschulwahlen anstanden, dann gab es für die studentischen Vertretungen in Senat oder Fachbereichsrat Bewerberlisten des »Marxistischen Studentenbunds Spartakus« (DKP-affin – DDR-UdSSR-orientiert), der »Hochschulorganisation Kommunistische Studenten« (KPD/ML-affin – albanisch orientiert), einer »Kommunistischen Hochschulgruppe« (KBW-affin – China-orientiert), des »Sozialistischen Deutschen Studentenbunds« (SPD-affin), des »Liberalen Hochschulverbands« (FDP-affin – einige Leute firmierten meiner Erinnerung nach noch unter dem schönen Kürzel LSD – Liberaler Studentenbund Deutschland) und natürlich des »Rings Christlich-Demokratischer Studenten RCDS« (CDU-affin). Hinzu kamen Studentenvereine, die ihre Nationalität mit einer politischen Botschaft verbanden und dahingehend politisch-missionarisch auftraten. Das war damals etwa bei Studierenden aus dem Iran oder aus Vietnam der Fall.

Das »health management«, eine »Gerechte Sprache« und die »political correctness« waren für die Studierenden noch nicht erfunden. In der Mensa waren alkoholische Getränke absolut üblich, und geraucht wurde dort auch. Zigaretten wurden von Werbeleuten in kleinen Dreier-Päckchen am Eingang der Mensa an die Studierenden verschenkt – zum Probieren. Das krasseste technische Lifestyle-Feature des damaligen modernen Lebens war der »Sony Walkman«, mit dem man unterwegs Tonbandkassetten hören konnte. Michael Jackson hatte mit »Thriller« einen Hit und in Deutschland kam Nena mit »99 Luftballons« gerade groß heraus. Ich fand diese Art von Musik nicht so sehr spannend, sondern eher die Neue und Elektronische Musik. Auch die surrealistische Lyrik von Bob Dylan (»Gates of Eden, Desolation Row«) war faszinierend.

Ich hielt es – und halte es immer noch – generell für einen schweren Irrtum, anzunehmen, dass das Hören von Musik vor allem der Erholung dienen solle. In Darmstadt spielte im SV-Darmstadt-98-Fußballstadion am Böllenfalltor im September 1984 eine Band namens »The Police«. Deren Musiker Sting und Andy Summers kannte ich von Eberhard Schoener und seiner Art (»Video Magic«) der Elektronischen Musik. Der Kartenverkauf am Eingang hatte seine Stellung aufgegeben, denn keiner wollte damals in Darmstadt so etwas wie »The Police« hören. Man ließ uns, wie alle anderen zufällig vorbeikommenden Passanten, gerne gratis zum Konzert, damit es wenigstens ein paar Zuhörer gäbe. Vorne auf der Bühne zeigte Sting zum sichtbaren Mond und fragte das Publikum: »can you see the moon?«, um dann mit seinem Lied fortzufahren:

»Giant steps are what you take,

Walking on the moon,

I hope my leg don’t break,

Walking on the moon,

We could walk forever.«

Ist das der Zeiten eigener Geist, den man den Geist der Zeiten heißt? Wie wäre der Eintrittskartenverkauf wohl verlaufen, wenn damals schon Facebook und Twitter verfügbar gewesen wären?

Im Jahr 1981 stellte die Firma IBM einen »Portable Computer« PC vor. Damit wurde auf ein Angebot reagiert, dass eigentlich schon seit 1977 auf dem Markt war, nämlich die »Personal Computer« der Firma Apple – die hießen auch »PC« und das schon länger. IBM hatte sich, wie andere Großrechnerhersteller der damaligen Zeit, mit Skepsis die Frage gestellt, wozu in aller Welt ein Mensch einen »persönlichen Rechner« auf seinem Schreibtisch brauchen könnte. Wofür sollte ein solcher PC wirklich gut sein? Was sollte denn damit bitteschön berechnet werden können – oder gar müssen? Man ging deshalb das Thema PC seitens IBM ein wenig halbherzig an. Ein eigenes PC-Betriebssystem wollte IBM nicht entwickeln, man ließ sich deshalb ein »Disc Operating System« (DOS) von einem Jungunternehmer namens Bill Gates liefern.