GLOBALE PROVINZ

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
GLOBALE PROVINZ
Font:Smaller АаLarger Aa

– μετα ! –

Georg Rainer Hofmann

GLOBALE PROVINZ

ENTDECKUNG UND BESIEDLUNG DER DIGITALEN WELT 1980 BIS 2020


Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-277-1 (Print) / 978-3-86408-278-8 (E-Book)

Korrektorat: Dr. Ute Schulz

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2022

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Die skurrile Normalität der »Globalen Provinz« – ein Geleitwort

Vorwort – Motivation

Prolog: Plus Ultra – Terra Incognita

Ein Computer in der Schule – am Gymnasium in Michelstadt (1980 – 1981)

Darmstädter Computergraphik – Symmetrien und Perspektiven (1982 – 1986)

Computer machen Musik in Wien und in Zürich (1987 – 1988)

Pioniere in Berlin – Multimedia, Teledienste, Phantasien (1986 – 1989)

Realismus und Idealismus in der Computergraphik (1988 – 1991)

Offene Systeme – Internationale Standards und Normen (1990 – 1992)

Business in Frankfurt – IT-Transfer und das WWW (1993 – 1996)

Ein Hot Spot – das IKTT im Gräflichen Schloss in Erbach (1994 – 2000)

Der Neue Markt der Börse und Wissenstransfer in Aschaffenburg (1997 – 2000)

Im neuen Jahrtausend – neue Wirtschaft und neuer Staat (2000 – 2004)

Vom Wert des Wissens – Computer wissen nichts (2005 – 2011) (2018 – 2020)

Die Opfer des Netzes (2000 – 2020)

Das Internet liegt in der Luft – Case-based Evidence (2012 – 2016)

Lebenslanges Lernen, »New Work« und die neue Provinz (2018 – 2020)

Digitale Ethik und Jesuanische Philosophie (2012 – 2020)

Epilog: Tranquility Base here – the Eagle has landed

Register der handelnden Personen – zum Ende des Jahres 2020

Nachweise der Abbildungen

Die skurrile Normalität der »Globalen Provinz« – ein Geleitwort

Vor einigen Wochen hat mir Georg Rainer Hofmann, den ich persönlich sehr gut kenne, am Telefon von seiner Arbeit am Skript »Globale Provinz« erzählt: Es gehe ihm um einen »Bericht über die Entdeckung und Besiedlung der digitalen Welt in den Jahren 1980 bis 2020« und es kämen darin viele auch mir bekannte Personen und Institute vor.

In der Tat haben sich die Wege von Georg Rainer Hofmann und mir im letzten Jahrzehnt oft gekreuzt, wir waren in verschiedenen Rollen für verschiedene Organisationen tätig – und meist in ähnlicher Mission.

Ich selbst bin seit vielen Jahren in verantwortlichen Positionen im Themenumfeld der Digitalisierung aktiv, zuletzt bei der »Gesellschaft für Informatik (GI)« und aktuell beim »eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.« und hatte von daher keine allzu großen Erwartungen an nochmal »eine weitere Chronik« zur Entwicklung der Computer und des Internets. Überraschenderweise war aber die Lektüre des Skripts von Georg Rainer Hofmann nicht nur unterhaltsam – ich habe durchaus einige mir neue Dinge gelernt. Das Lesen dieses Berichts war an vielen Stellen auch ein »Wiedersehen« mit zahlreichen Wegbegleiter*innen, deren Wirken mir – zu früheren Zeiten und diversen Kontexten – Inspiration und Vorbild war.

Georg Rainer Hofmann schildert auf erfrischende Art und Weise mit einem gewissen ironischen Understatement seine persönlichen Erlebnisse von gut 40 Jahren. Er zeigt seine offenbar nicht geringe Freude, an global-technologischen Entwicklungen mitgewirkt zu haben, die sowohl in der »Weiten Welt« als auch in der »Provinz« Süddeutschlands, in Darmstadt, im Odenwald, in Aschaffenburg, stattfanden.

Also eine »Provinz der Weltklasse« oder etwa eine »Weltklasse der Provinz«?

Die Bewertung sei dem Publikum überlassen, doch feststeht, dass für die Entstehung der – nun normalen – Digitalen Welt oft in beinahe schon skurriler Weise sowohl Zufälle als auch Glücksfälle mitverantwortlich waren und sind.

Das beharrliche Verfolgen großer Ideen durch engagierte Akteure, wie die in diesem Bericht erwähnten Persönlichkeiten José Luis Encarnação, Günter Koch, Guerino Mazzola, Radu Popescu-Zeletin und nicht zuletzt des Gründers des eco, Harald A. Summa, spielten immer wieder eine nicht unwesentliche Rolle hierbei.

Viele der Personen, denen Georg Rainer Hofmann begegnet ist, waren sich der – gegenwärtigen oder künftigen – Bedeutung ihrer Erkenntnisse und Arbeiten damals gar nicht so recht bewusst. Doch haben diese Akteure aus Forschung und Lehre sowie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an vielen relevanten Entwicklungen der digitalen Welt mitgewirkt und so unsere heutige, allgegenwärtige digitale Informationsgesellschaft mitgeprägt.

Der in Teilen sehr persönliche Bericht von Georg Rainer Hofmann zeigt nicht zuletzt die menschliche Seite der technologischen Entwicklung. Denn es wurde an der Digitalisierung in all ihren Facetten stets mit großer Motivation und viel Herzblut, mit Geist und Witz von Menschen für Menschen gearbeitet.

Ich wünsche mir, dass die Entdeckung und Besiedelung der digitalen Welt, die noch lange nicht beendet ist, auch in den kommenden 40 Jahren von vielen engagierten und verantwortungsvollen Persönlichkeiten weiterhin vorangetrieben wird. Die Aufgaben und Herausforderungen, die es für die kommenden Generationen zu lösen gilt, so bin ich fest überzeugt, sind nur lösbar durch den gewinnbringenden Einsatz digitaler Technologien.

Der Bericht lehrt aber auch, dass die Vorhersage der Zukunft der Digitalen Welt so ihre eigenen Tücken hatte – und hat.

Ich hoffe, dass wir gemeinsam aus diesem Bericht lernen, dass es auf jede einzelne Person ankommt und wir unsere digitale Zukunft nur gemeinsam gestalten können. Von daher möchte ich Georg Rainer Hofmann zustimmen, wenn er schreibt, dass uns nach 40 Jahren fortwährender und intensiver Entwicklung der Informationsgesellschaft der Weg von der Betrachtung eher kleinteiliger, oft technischer Details hin zu der holistischen Lösung der anstehenden Probleme führen muss. Die weitere Entwicklung der digital vernetzten Informationsgesellschaft, die Adressierung der zahlreichen offenen Fragen einer solchen internetbasierten Informationsgesellschaft wird wohl nur gemeinsam von Informatiker*innen, Techniker*innen, Ökonom*innen und Geisteswissenschaftler*innen jeglicher Couleur angegangen werden können.

An einer Stelle wird Guerino Mazzola zitiert, der richtigerweise meinte, es sei nun gar nicht so wichtig, wo man herkommt, sondern viel mehr, wo man hingeht. Provinz sei überdies keine Frage der Geographie, sondern eine Frage der Geisteshaltung.

Schlussendlich gebe ich damit auch Helmut Krcmar recht: Das Werk wird man mit Gewinn lesen!


Berlin, im August 2021 Alexander Rabe

Vorwort – Motivation

Zu Beginn der 2020er-Jahre lässt es sich kaum noch leugnen, dass auch der ehemals so innovative »Digitale Wandel« langsam in die Jahre kommt. Eine ganze Reihe der progressiven Personen, die in Forschung und Wirtschaft zu den maßgeblichen Pionieren in diesem Bereich zählen – oder zählten – erreichen nun das Pensionsalter und das Ende ihres aktiven Berufslebens. Immer wieder kam es bei Gesprächen zu einem »man müsste« – ja, man müsste einmal »diese Geschichten« der wichtigen Begebenheiten der Entwicklung von Multimedia, der Offenen Systeme, des Internets, des WWW, des E-Commerce und anderem mehr aufschreiben.

 

Nach einigem Recherchieren in »alten Sachen« war klar geworden, dass eine Betrachtung etwa mit dem Jahr 1980 beginnen könnte. Bis zum Erreichen der »Entwickelten Informationsgesellschaft« des Jahres 2020 ergibt sich damit ein Berichtszeitraum von circa 40 Jahren.

Der vorliegende Bericht enthält Erlebnisse und Erinnerungen, die sicherlich von vielen Lesern geteilt werden dürften. Für die Entstehung der Informationsgesellschaft wichtig sind die Leistungen von Persönlichkeiten und Wissenschaftlern, die mit großartigen Erfolgen – und auch Rückschlägen, Fehleinschätzungen und Wunderlichkeiten – gearbeitet haben.

Einige der in diesem Bericht erwähnten Persönlichkeiten haben sich freundlicherweise bereiterklärt, den Bericht mit eigenen Beiträgen, thematischen Exkursen, nach dem Motto »wenn man das liest, dann«, zu reflektieren und zu ergänzen. Ich darf mich an dieser Stelle für diese – zum Teil sehr individuellen und spezifischen, aber immer sehr interessanten – Beiträge auf das Allerherzlichste bedanken!

Die Rückschau auf die Verhältnisse der 1980er- und 1990er-Jahre dürfte Vergnügen bereiten, wenn man die noch wenig entwickelten informationstechnischen Verhältnisse von damals mit den heute alltäglichen Resultaten der technischen Entwicklung vergleicht. Dieser Effekt relativiert sich freilich immer mehr im Laufe des Berichts. Einige der Arbeiten ab circa den 2010er-Jahren können naturgemäß bezüglich ihrer Entwicklung und schlussendlichen Bedeutung noch nicht beurteilt werden. Das macht die Lektüre der aktuelleren Teile dieses Berichts etwas aufwändiger, aber hoffentlich auf lange Sicht doch lohnend.

Es können natürlich nicht alle Details der Ereignisse der hier betrachteten circa 40 Jahre geschildert werden. Nicht alle beteiligten Personen können erwähnt werden, obwohl die Verdienste der hier nicht Erwähnten sicher nicht gering zu schätzen sind. Diejenigen mögen sich trösten. Der Bericht des Antonio Pigafetta von der ersten Weltumrundung vor etwa 500 Jahren erwähnt den Kapitän Juan Sebastian Elcano, der nach Magellans Tod das Kommando übernahm, kein einziges Mal, obwohl es Elcano war, der die erste Expedition der Umrundung der Erde vollendete und so die wenigen Überlebenden nach Hause brachte.


Im Sommersemester des Jahres 2021 Georg Rainer Hofmann

Prolog: Plus Ultra – Terra Incognita

Der Prolog greift die Bedeutung der großen Entdeckungen und Fahrten in die Neue Welt vor etwa 500 Jahren auf. Es wird auf den Bericht des Antonio Pigafetta von der ersten Weltumseglung unter Ferdinand Magellan verwiesen.

Vergegenwärtigen wir uns einige der wichtigen Ereignisse in den etwa 40 Renaissance-Jahren von 1490 bis 1530, so sehen wir das Wirken des Universalgelehrten da Vinci, die Fahrten von Kolumbus nach Amerika, da Gama segelt in den Südatlantik und um Afrika herum nach Indien. Die Entwicklung des Kopernikanischen Weltbildes fällt in diese Zeit, genauso wie seine operative Verifikation durch Magellans Expedition und deren Weltumrundung. Gutenberg erfindet eine Methode des Buchdrucks, mit der eine neue Medienwelt geschaffen wird. Es entsteht ein neues Kultur- und Kunstverständnis in der Musik durch Monteverdi und Gabrieli, aber auch in der Architektur durch Bramante und in der Malerei durch Raffael, Dürer, Grünewald, Michelangelo. Es entsteht eine durch Fugger und andere international tätige Kaufleute geprägte globale Ökonomie. Nicht zuletzt entstehen damals neue Formen der Religion, nach Maßgabe des Wirkens von Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin.

Alles das geschah zu wesentlichen Teilen unter der Ägide Kaiser Karls V. und dessen revolutionärer, expansiver Globalpolitik. In seinem neuen, weltweiten Reich ging sprichwörtlich »die Sonne nicht unter«. Karl V. hatte mit seinem Wahlspruch »plus ultra« das antike »non plus ultra« an den Säulen des Herkules bei Gibraltar relativiert. Ging es früher hier, am Ausgang des Mittelmeeres nicht mehr weiter, so war nun – gerade hier – das »plus ultra« und der Ausgangspunkt für den Aufbruch in die »terra incognita«, in das nicht mehr lange unbekannte Neue Land. Unter diesem »plus ultra« sollten sich bislang unbekannte, politische Machtverhältnisse etablieren und fantastische, wirtschaftliche Möglichkeiten ergeben, mit denen sich ein sagenhafter Reichtum erwerben ließ. Das »plus ultra« ist bis heute das Motto im Wappen des spanischen Königreichs.

Eine Reihe von Analogien dieser Renaissancejahre zur Moderne drängt sich geradezu auf. Die Digitale Transformation der Jahre 1980 bis 2020 hat unser politisches, wirtschaftliches, kulturelles und privates Leben ebenfalls völlig gewandelt. Viele Dinge des Alltags sind neu entstanden, eine vormals unbekannte »terra incognita« wurde besiedelt. Auch wir leben in einer sehr interessanten Zeit, die ebenfalls unter dem Motto »plus ultra – immer weiter!« zu stehen scheint. Die Frage, wohin die Reise des »plus ultra« in der nächsten – so schrecklichen wie wunderbaren – Zeit gehen wird, stellt sich heute ebenso wie vor 500 Jahren.

Ferdinand Magellan – portugiesisch »Fernão de Magalhães« – ist der große Planer und Generalkapitän der ersten dokumentierten Weltumsegelung, die die Neue Welt als »rund« verifizierte. Mit fünf Schiffen startete die Expedition im Jahr 1519 in Spanien, es ging immer nach Westen. Nachdem Magellan südlich an Amerika vorbeigefahren und den Pazifik durchquert hatte, wurde er auf den Philippinen getötet. Im Jahr 1522 kehrte unter dem Kommando von Juan Sebastián Elcano nur ein letztes verbliebenes der fünf Schiffe über das Kap der Guten Hoffnung mit 18 Personen nach Spanien zurück – von den etwa 240 Leuten, die drei Jahre zuvor gestartet waren. All das liegt bei Verfassung dieses Textes ziemlich genau ein halbes Jahrtausend zurück.

Man weiß heute von der Reise vor allem durch den detaillierten Bericht eines Überlebenden namens Antonio Pigafetta. Er war auf dem letzten verbliebenen Schiff mitgefahren, hatte also die ganze Expedition erleben dürfen. Pigafetta war keiner der kommandierenden Führungspersonen und er war kein Schiffstechnik-Fachmann, eher ein »Abenteuerlicher Simplicissimus«. Er berichtete stets aus der zweiten Reihe und auf der Basis seiner subjektiven und persönlichen Erlebnisse auf der Magellan-Expedition. Einige seiner Beobachtungen zeigen eine fast naive Sicht auf das epochale Ereignis der ersten Weltumrundung. So war er etwa fest davon überzeugt, dass man sicher nicht noch einmal das Wagnis einer Weltumseglung eingehen würde. Es habe sich eine solche Reise als viel zu gefährlich und aufwändig herausgestellt.

Die Betrachtung der Historie erlaubt Schlüsse für künftige Handlungsoptionen. Das ist der bekannte Sinn jeder Erinnerung – und jeglicher Geschichtsschreibung schlechthin. In den hier betrachteten etwa 40 Jahren des »Werdens der Informationsgesellschaft« zeigt sich eine eigentümliche Dialektik. Einerseits stellen sie in historischer Perspektive eine sehr kurze Zeitspanne dar, andererseits dauerten diese Jahre sehr viel länger an als andere historische »Sternstunden der Menschheit« – in der Diktion Stefan Zweigs. Einige der Einzelereignisse des »allmählichen Urknalls« der Informationsgesellschaft fanden quasi »einfach so« und in der Provinz statt, hatten aber doch eine globale Bedeutung. Andere Entwicklungen der Informationsgesellschaft sind blanker Zufall gewesen. Es hätte auch ganz anders kommen und weitergehen können.

Die Geschichte der Technik der Rechenmaschinen und der Computer, sowie der Informations- und Kommunikationstechnik im Allgemeinen, wurde an anderer Stelle bereits hinreichend gewürdigt. Hier soll von der Akzeptanz und Verbreitung der Digitalen Technik und dem damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel berichtet werden. Dieser Wandel kam ganz allmählich, aber doch fundamental und eigenartig plötzlich. Ein nicht geringer Anteil der Dinge, die wir täglich benutzen, wurde in nur wenigen Jahrzehnten erfunden oder ist in dieser Zeit wesentlich weiterentwickelt worden.

Technische Entwicklungen wurden in Bezug auf ihr künftiges Potenzial manchmal völlig falsch eingeschätzt. Einige wurden unterschätzt, und man hat noch viele Jahre gebraucht, um eine Erfindung wirklich sinnvoll zu nutzen. Andere wurden hingegen überschätzt, man glaubte Zeichen einer neuen Zeit vor sich zu haben. Diese überschätzten Erfindungen verschwanden aber bald wieder aus der allgemeinen Aufmerksamkeit, weil ihr Nutzwert halt doch nicht so hoch war.


Zwei Rechenstäbe aus der Zeit vor dem Werden der Informationsgesellschaft. Solche Geräte waren vor der Entwicklung der elektronischen Taschenrechner in der Praxis unentbehrlich. Das hier oben abgebildete Exemplar – Fabrikat Aristo – war (m)ein Schulrechner in den 1970er-Jahren. Unten ein komplizierteres Modell – Fabrikat Faber-Castell – wohl vom Anfang der 1980er-Jahre. Es ist eine Leihgabe von Prof. Dr. Christine Giger-Hofmann.

Ein Computer in der Schule – am Gymnasium in Michelstadt (1980 – 1981)

Es wird von der Akzeptanz und der Wertschätzung der ersten Computer im betrieblichen und schulischen Alltag berichtet und wie man damit begann, ein Fach »Programmieren« in der Schule anzubieten und zu lehren.

Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde an einigen – allerdings noch sehr wenigen – Schulen ein neues, damals super-fortschrittliches Wahlfach angeboten. Man konnte als Schüler nun »das Programmieren« lernen. Am Gymnasium in Michelstadt im Odenwald, das ich damals besuchte, besaß man bereits einen Schulcomputer. Er war der zweite an einer Schule in Hessen überhaupt, nur ein Gymnasium in Darmstadt hatte bereits vor der Odenwälder Schule einen Computer beschafft. Dies ist ein erster der unglaublichen Zu- und Glücksfälle, von denen dieser Bericht mitunter handelt. Dieser Umstand rechtfertigt es, dass in diesem Bericht manchmal eine subjektive auf Erinnerungen basierende Perspektive »eingenommen werden muss«. Die damaligen Anfänge des Programmier-Unterrichts sind sehr schlecht bis gar nicht dokumentiert. »Das weiß niemand mehr«, war die Auskunft von befragten Fachkollegen der »Gesellschaft für Informatik e.V.« (GI). Im Regelfall war ein Schüler meines Alters in der Schule im Mathematik- und Physik-Unterricht noch mit Rechenstäben, auch »Rechenschieber« genannt, vertraut gemacht worden. Diese Geräte hatten ein Plastik-Etui, um ihre empfindliche Mechanik zu schonen.

Natürlich gab es Anfang der 1980er-Jahre in den größeren Unternehmen und Behörden schon eine Elektronische Datenverarbeitung (EDV) als eine eigene spezielle Abteilung. In diesen EDV-Abteilungen saßen die Jünger des Herman Hollerith und wandelten Handschriftliches in maschinenlesbare Lochkarten um. Sie ließen Programme auf riesigen und wahnsinnig teuren Rechnern laufen und produzierten damit Listen auf seitlich gelochtem grünlichem Endlos-Papier. Der Gebrauch von Computern war absolut nicht jedermanns Sache. In privaten Haushalten gab es einen – höchstens einen – Taschenrechner, aber darüber hinaus im Alltag praktisch überhaupt noch keine Computer. Sie waren noch eine echte »rocket science«. Nur Raumschiffe, wie die des Apollo-Programms, hatten seinerzeit einen Bordcomputer. An Bordcomputer in einem normalen PKW oder gar an Computer am Lenker eines Fahrrads – an so etwas dachte damals niemand. Solche Anwendungen waren noch Lichtjahre entfernt. Personen, wie Professor Thomas Wolf, waren aber schon zu Beginn der 1980er-Jahre echte »EDV-Profis«.

Professor Dr. Thomas Wolf, Berlin

Exkurs – Die IT-Abteilung und ihre Leitung im Wandel der Zeit. Der teure, aber kostenoptimierte Zentralrechner im Batch-Betrieb

Wenn man das liest, dann sollte der Bericht von Georg Rainer Hofmann durch einen Bericht vom Wandel der Funktion der Informationstechnik (IT) in den gewerblichen Betrieben ergänzt werden. In der entwickelten Informationsgesellschaft wird die betriebliche IT kaum noch bewusst wahrgenommen, obwohl sie von fast allen Berufstätigen intensiv genutzt wird. Aus meinen eigenen Erinnerungen kann ich diesen nicht unwichtigen Aspekt gerne erläutern.

 

Nach meiner Assistentenzeit an der Universität Freiburg begann ich im Jahr 1977 meine Berufslaufbahn in der Abteilung »Wissenschaftliche Datenverarbeitung« bei der Firma Merck KGaA in Darmstadt. Ich war als Biostatistiker ein Nutzer der IT und gleichzeitig ein Entwickler von Computerprogrammen für statistische Verfahren. Mein Mentor bei Merck war damals Prof. Dr. Wolffried Stucky, der spätere Gründer und langjährige Leiter des Instituts für angewandte Informatik und formale Beschreibungsverfahren (AiFB) an der Universität Karlsruhe. Im Jahr 2009 sollte ein »Karlsruhe Institut für Technologie« (KIT) als Fusion der Universität Karlsruhe mit dem Forschungszentrum Karlsruhe gegründet werden. Später war ich selbst lange Jahre am AiFB des KIT als Honorarprofessor tätig.

Die Gesamtheit der IT bestand damals bei Merck aus einem Zentralrechner für primär kommerzielle Anwendungen. Er war aber auch für wissenschaftliche Anwendungen, wie meine Statistik, der einzige verfügbare Rechner. Diese Art »Statistik« umfasste dabei sowohl die statistische Auswertung von Tierversuchen und klinischen Studien als auch frühe »Big Data« Anwendungen, wie Untersuchungen zur Effektivität des Einsatzes von Ärztebesuchen. Mit dem Rechner kommunizierte man mittels Lochkarten – als Eingabemedium – und grüngestreifter 132-stelliger Listen, gedruckt auf dem sogenannten »Schlafanzugpapier« als Ausgabemedium.

Mit dem Rechner gab es also keinen isochronen Dialogbetrieb in Echtzeit, das war damals noch nicht möglich. Der Rechner wurde im sogenannten »Batch« betrieben. Ein Batch ist auf Englisch ein »Stapel«. Und die Daten hatten ja in der Tat die Form von Lochkarten- oder Papier-Stapeln. Die Eingaben als Lochkartenstapel arbeitete der Rechner pro Auftrag vollständig und sequenziell ab. Der Begriff der »Stapelverarbeitung« wurde noch viele Jahre später generell für nicht-interaktive Systeme benutzt. Die Logistik für beide Batch-Medien, also der Weg von meinem Schreibtisch über das Werksgelände zum Rechenzentrum und zurück, wurde per PKW abgewickelt.

Dem eigentlichen Management der IT kam ich erst gegen Ende der 1970er-Jahre näher. Der Grund dafür war meine Unzufriedenheit mit der IT. Mit der Möglichkeit der dezentralen Eingabe von Lochkarten und dezentralem Ausdruck wurden mir als Nutzer die unsagbar langen Brutto-Rechenzeiten transparent. Es war ein ziemlicher »waste of time«, an meinem Schreibtisch auf die Antwort des Zentralrechners auf einen Rechenauftrag zu warten. Zugegebenermaßen stellten meine statistischen Verfahren eine gewisse Herausforderung für die damalige IT dar. Auf jeden Fall wollte ich als Anwender wissen, warum IT so arbeitet, wie sie arbeitet.

Ziemlich schnell lernte ich, dass der Fokus der verantwortlichen Leitung der IT – »narrow minded« – nur auf den Kosten des Großrechners lag. Mehr als ein Jahr lang wurde etwa diskutiert, ob man den Hauptspeicher des Zentralrechners von 800 KB auf 1,5 MB aufrüsten sollte. Die Wartezeiten der Nutzer spielten in diesen Überlegungen kaum eine Rolle, die Kosten von deren Leerlaufzeiten auch nicht. Man versuchte damals, um das Jahr 1980 herum, stattdessen durch ein eigenes quasi »Datenbanksystem« die Plattenumdrehungen und damit Zugriffszeiten auf den Speicher zu optimieren.

Sogenannte »Strategische Überlegungen« zur IT-Entwicklung fanden im Gespräch mit Vertretern des Hauptlieferanten »International Business Machines« (IBM) statt – die Frage, welche neue technische Rechnergeneration wann beschafft werden sollte. Ab dieser Zeit – und noch weitere Jahrzehnte lang – vertrat ich die Position: »Wenn man die IT-Kosten ohne Rücksicht auf den Nutzen der Anwender optimieren will, dann sollte man besser gleich die gesamte IT abschaffen.« Das wäre die konsequenteste und gleichzeitig sparsamste Lösung. Denn unabhängig von der zu erbringenden Leistung nur »sparen zu wollen«, das ist ein sehr triviales Ziel.¶

Das Paradigma »die Schüler müssen das Programmieren lernen« war einer der ersten Funken des Urknalls der Informationsgesellschaft. Denn damit begann die »Popularisierung der Informationstechnologie« außerhalb der gewerblichen Wirtschaft. Mein Gymnasium in Michelstadt hatte mithilfe von Spenden einen Computer des Fabrikats WANG beschaffen können. Freilich gab es im Lehrerkollegium Bedenken – die Ausbildung an einem solchen neumodischen, technischen Gerät hätte an einem ordentlichen Gymnasium einfach nichts verloren. Dieses ganze Computer-Zeug werde derzeit ja offenbar maßlos überbewertet und gefährde den Stellenwert der wahren, klassischen Bildung. Der Computer galt als das Zeichen einer schrecklichen, neuen Zeit. Die Computer-Befürworter unter den Lehrern argumentierten mit dem unglaublichen Nutzwert der Maschine. Sie könne sogar bei der Verwaltung der Schule helfen, so bei der leidigen und aufwändigen Aufstellung der Stunden- und Raumpläne. Der WANG-Computer galt als ein alleskönnendes »Elektronengehirn«, dessen Möglichkeiten damals aber völlig überschätzt worden sind.

Einer der befürwortenden Lehrer hatte sogar eine elektronische Quarz-Armbanduhr am Handgelenk. Diese Uhr hatte eine rot leuchtende, digitale Vier-Ziffern-LED-Anzeige, die aber nur per Druck auf einen seitlichen Knopf am Gehäuse sichtbar wurde. In der Auslage eines Uhrengeschäfts in Michelstadt stand eine Quarz-Armbanduhr, die hatte eine damals hochmoderne, »permanent sichtbare« LCD-Anzeige mit sechs Ziffern – Stunden, Minuten, Sekunden. Diese Quarzuhr war – für einen Schüler unerschwinglich – sehr teuer, sie kostete um die 650 D-Mark. Wir Schüler standen fasziniert und quasi »ewig« vor dem Schaufenster und beobachteten das Umschalten der Sekunden in diskreten Schritten auf dem kleinen Liquid Crystal Display – im Gegensatz zu den bekannten analogen Zeigerbewegungen der normalen mechanischen Uhren. Besonders interessant sah die Uhrzeitanzeige »11:11:11« aus – auf einem analogen Ziffernblatt ist diese Uhrzeit ja nichts Besonderes. Das war vor über 40 Jahren für uns so faszinierend, weil es im normalen Alltag einfach noch gar keine digitalen Displays gab. Auf den Bahnsteigen der größeren Bahnhöfe gab es – beispielsweise – analoge Anzeigen mit mechanischen Klappbuchstaben. Auf den kleineren Bahnhöfen wurden die Zugverbindungen per Lautsprecher »live« angesagt. Ein digitales Display als Bandenwerbung in einem Stadion war technisch noch völlig undenkbar.

Exkurs – Musik-Erleben in der Globalen Provinz zu Beginn der 1980er-Jahre

Wenn man das liest, dann können wir uns die Entwicklung der Informationsgesellschaft nicht zuletzt daran verdeutlichen, mit welchen Medien man »Große Welt-Musik« in der südhessischen Provinz etwa im Jahr 1980 konsumiert hat. In der Nacht vom 19. auf den 20. April 1980 trat in der Grugahalle in Essen im Rahmen einer »Rockpalast«-Veranstaltung des WDR die US-amerikanische Band »ZZ Top« auf. Die Band aus Texas war in Deutschland noch relativ unbekannt und zum ersten Mal in Europa. Natürlich konnte man im südhessischen Odenwald den WDR nicht direkt per Antenne empfangen. Die Sendung wurde aber vom Hessischen Fernsehen im Rahmen der »Eurovision« übernommen und war daher regional verfügbar. Am damaligen Schwarzweiß-Fernseher gab es keinen Stereo-Ton. Deshalb wurde die Musik zur Fernsehsendung parallel per UKW-Radio in Stereo gehört. Musik zum Mit-Nachhause-Nehmen konnte man stückweise im Plattenladen auf Vinyl-LPs kaufen. Nicht unüblich war der Mitschnitt von Radiomusik per Tonband-Kassettenrekorder. Die Audio-Qualität dieser privaten »bootlegs« war allerdings lausig.

Die Musik von ZZ Top war in der Odenwälder »Szene« allerdings doch schon ein wenig bekannt geworden. In dieser Zeit, das mag ebenfalls etwa im Jahr 1980 gewesen sein, trat im Saal des eigentlich recht biederen Odenwälder Gasthauses »Zur Spreng« eine Band »Rodgau Monotones« auf. Und diese Leute – »crazy enough« – spielten auch Stücke von ZZ Top. Nach einem ersten Auftritt der Rodgau Monotones fragten die Gasthaus-Inhaber, ob diese Musik »denn soweit OK« wäre. Nachdem dies durchweg bejaht wurde, hatten die Rodgau Monotones sogar einen zweiten Auftritt in der »Spreng«. Im April 1980 in der Grugahalle in Essen war – nach einem Kameraschwenk – im Rockpalast-Publikum ein Transparent zu sehen, auf das die Worte »RODGAU MONOTONES grüssen ZZTOP« gepinselt waren. Das war schon »more crazy«, aber »most crazy« war, dass eben diese Rodgau Monotones – »Die Hesse komme!« – im Oktober 1985 selbst auf der Bühne des Rockpalast in Essen stehen sollten. Spaßvögel im Publikum in der Grugahalle schwenkten nun ein Transparent mit »ZZ Top grüßt die Rodgau Monotones«. Diese Dialektik der »Weltklasse der Provinz« und der »Provinz der Weltklasse« ist faszinierend – und sie ist für die Besiedlung der Digitalen Welt und der »Globalen Provinz« nicht untypisch.¶

Der WANG-Computer am Gymnasium in Michelstadt war ein Kasten von ungefähr der Größe eines Pilotenkoffers und er verfügte über vier Kilobyte Hauptspeicher. Ein ausrangierter Fernschreiber, ein Telex-Gerät, stand für die Ein- und Ausgabe von Daten am WANG zur Verfügung. Das Telex hatte eine Tastatur, einen Zylinderkopf-Drucker sowie einen Schreiber und Leser für fünf-kanalige Lochstreifen. Die Lochstreifen waren die einzige Möglichkeit, größere Datenmengen, und damit auch Programm-Quellcode, dauerhaft zu speichern. Der Schulcomputer hatte notabene noch keine Festplatte oder andere elektromagnetische oder gar optische Speichermedien. Ein altes Fernsehgerät, dessen Empfangsteil kaputt war, diente als zusätzlicher Monitor.

Man musste sparsam sein, denn man war für den Betrieb des WANG auf Spenden angewiesen. Öffentliche Mittel gab es für einen Computer an einer Schule natürlich noch nicht. Der Computer hatte immerhin etwa 20 000 D-Mark gekostet, was im Jahr 2020 etwa 25 000 EURO entspräche. Der teure Computer erhielt einen eigenen »Computerraum«. Solche Spezialräume gab es bislang nur für den Musikunterricht, mit einem Klavier darin, oder für die Naturwissenschaften, mit Sammlungen und Geräten für diverse Experimente. In seinem »Computerraum« hatte es der Computer gemütlich, dort konnte er nachts schlafen und sich am Wochenende ausruhen. Er konnte ja nicht ahnen, dass für Computer sehr bald eine 7-Tage-24-Stunden-Arbeitszeit üblich sein würde.