Die Rhetorik-Matrix

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2. Kommunikation als Transaktion

Kommunikation – auch in der Rede – ist gleichzeitig als Transaktion zu verstehen. Diese Dimension der Kommunikation bringt zum Ausdruck, dass man nicht nur spricht, „sondern der eine dem andern etwas tut und dieser wieder etwas tut“ (transactional stimulus und transactional response). So verstanden kann Reden also bereits Handeln sein! (Vgl. dazu Harris, S. 27ff.) Von dieser Eigenschaft der Rede als Handeln, das wirken kann wie Gewalt oder Zuneigung, erzählen auch viele Sprichwörter.

„Lieber mit den Füßen ausrutschen als mit der Zunge.“

„Die Zunge hat keinen Knochen, aber sie kann ein Rückgrat brechen.“

Es liegt auf der Hand, dass sich der Redner daher bewusst sein sollte, dass er schon allein mit Worten handelt und was sein Handeln auslösen kann. Die Transaktionsanalyse als eine Teildisziplin der Psychologie hat dazu zwei wesentliche Erkenntnisse für das richtige Reden entdeckt und entwickelt. Die erste betrifft unsere Sicht auf uns und die anderen: o.k. oder nicht o.k. Die zweite betrifft die Instanzen, die diese Entscheidung beeinflussen: das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich.

Transaktionsanalyse: Alles eine Frage der Einstellung

Die Transaktionsanalyse als psychologische Theorie wurde von dem US-amerikanischen Psychiater Eric Berne (1910–1970) entwickelt und u.a. in dem wegweisenden Buch „Die Spiele der Erwachsenen: Psychologie der menschlichen Beziehungen“ (1964) anwendungsorientiert beschrieben. Thomas Harris (1919–1995) als enger Mitarbeiter von Eric Berne konzentriert sich in „Ich bin o.k., Du bist o.k.“ (1963, Deutsch 1973) auf die wesentlichen Kernaussagen, die sich aus dem Verständnis der menschlichen Kommunikation als Transaktion ergeben. Dies betrifft zum einem die Aufdeckung von drei klassischen Ich-Zuständen, mit und in denen jeder Mensch situationsbezogen denken kann: Es handelt sich um das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich. Harris kombiniert diese „Seinszustände“ (S. 33) mit der Beschreibung von vier möglichen Grundeinstellungen („Lebensanschauungen“, S. 54ff.) eines Menschen zu sich und seinen Mitmenschen. Damit legt er die Grundlage zu einem ganzheitlichen psychologischen Verständnis des menschlichen Denkens und seiner unbewussten, aber auch bewusst gestalteten Beziehung zur Umwelt mittels Kommunikation. Dieses Verständnis spielt auch für die Rhetorik als spezifischer Disziplin in der Schnittstelle der Kommunikation eines Redners zu seinem Publikum eine große Rolle.

Aus Sicht der Transaktionsanalyse ist die Einstellung des Redners zum andern und zu sich selbst letztlich fast digital: o.k. oder nicht o.k. (vgl. Harris, S. 54ff.). Daraus resultieren vier grundsätzliche Lebensanschauungen/-einstellungen, die auch die Kommunikation zutiefst prägen (man spricht auch von den sogenannten emotionalen Kernpositionen):

1 Ich bin o.k. – du bist o.k.

2 Ich bin o.k. – du bist nicht o.k.

3 Ich bin nicht o.k. – du bist o.k.

4 Ich bin nicht o.k. – du bist nicht o.k.

Man muss kein studierter Psychologe sein, um zu wissen, dass die tendenzielle persönliche Einstellung zu sich selbst und die persönliche emotionale Kernposition zum anderen die Kommunikation und damit auch eine Rede enorm beeinflussen kann. Dabei kann gerade der „nicht o.k.“-Modus des Selbst von Minderwertigkeitsgefühlen bis hin zur Selbstaggression reichen (vgl. Harris unter Bezug auf Alfred Adler, S. 62f.). Natürlich muss das in der Rede nicht offenkundig sein. Wir wissen und wir werden noch weiter kennen lernen, wie hervorragend das bewusste System 2 auch schauspielern und täuschen kann. Nicht umsonst heißt das Hauptwerk von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, „Spiele der Erwachsenen“.

Egal wie gut Sie Ihr System 2 im Griff haben: Das unbewusste System 1 arbeitet währenddessen auf der Grundlage dieser „emotionalen Basisverdrahtung“ in den Abermillionen seiner neuronalen Verknüpfungen permanent im „o.k. – nicht o.k.“-Modus und generiert so auch die Vorlagen für das bewusste Sprechen. Damit generiert es auch die Vorlagen für das Verstehen! Beides geschieht folglich durch einen positiven oder negativen Filter. Für den Redner heißt das: Beeinflusse die Beziehung zum Zuschauer in Richtung „ich bin o.k. – du bist o.k.“. Dieser Maxime entspricht die (rhetorische …) Frage des Rhetorik-Trainers: „Meinen Sie, Sie können mit einer negativen Selbstausstrahlung oder einem erkennbar negativen Selbstbild andere positiv rhetorisch lenken?“ Und ebenso: „Meinen Sie, Sie können mit einer negativen Bewertung von Zuhörer und Publikum dieses positiv rhetorisch lenken?“

Daher ein wichtiger Hinweis für die Fans von „World of Warcraft“ und Liebhaber des gepflegten Ego-Shootings: Wer glaubt, nach 150 virtuellen Tötungen habe das unbewusste Denksystem 1 einen Betriebsmodus des „du bist o.k.“ – der wird die bittere Erfahrung machen, dass dem nicht so ist: Er ist schlichtweg schon auf einen negativen Wert des Fremdsubjekts im wahrsten Sinn „geankert“.

Mit der Grundprogrammierung auf „o.k. – nicht o.k.“ verbunden ist die andere zentrale Entdeckung der Transaktionsanalyse. Unser unbewusstes System 1 vereinigt in sich grundsätzlich drei relativ eigenständige Denkweisen: das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich. Das macht Reden und Kommunikation nicht unbedingt leichter, wie sich der Leser jetzt denken kann. Nur: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unsere Neuronen und Synapsen so arbeiten und schalten, und zwar in einem noch lange nicht vollends entschlüsselten Prozess, der die Menschheit seit Millionen von Jahren prägt. Was dies auch für die Rhetorik bedeutet, müssen wir uns im Folgenden vergegenwärtigen und daher diese drei Denkmodi kennen lernen, die jeder in sich trägt:

a) Das Eltern-Ich

Am Anfang unseres menschlichen Erlebens und damit auch Denkens stehen alle Erfahrungen der ersten sechs Lebensjahre, alle Regeln, Bewertungen und sonstigen Erfahrungen, die ein Mensch von seinen Eltern oder (den wenigen) vergleichbaren prägenden Personen übernimmt. Diese erworbenen Denk- und Verhaltensmodelle haben unbedingten Vorbildcharakter, weil all das, was ein Kind in diesem Stadium aufgenommen hat, von diesem Kind als Wahrheit wahrgenommen wird (vgl. Harris, S. 35). Aus der Sicht der Evolutionsbiologie ist dieses Verhalten elementar: Nur so kann ein Kind die Verhaltensmuster erwerben, die für das eigene Überleben unabdingbar waren und sind. Dieser „Eltern-Ich-Kodex“ wird mit Hunderten, ja Tausenden einfacher Lebensregeln aufgefüllt. Dazu zählen insbesondere solche, die mit den elterlich gesetzten Imperativen „du darfst nie/du musst immer/vergiss nie/pass auf wenn“ eingetrichtert werden. Unser unbewusst arbeitendes System 1 greift auf diese tief gespeicherten Eindrücke, Regeln und Werte automatisch zurück (s. dazu auch eingehend Eagleman, S. 220ff., S. 129ff.).

Für die Rhetorik hat die Entdeckung dieses Eltern-Ichs eine unmittelbare inhaltliche Auswirkung. Es gibt eine Fülle solcher Imperative, die für die überwältigende Mehrzahl aller Kinder und damit jetzt auch aller Zuhörer in gleicher Weise gesetzt wurden! Sie spielen also immer noch eine zentrale Rolle für das unbewusste Verstehen und Denken der meisten Zuhörer. Wer einen Anker mit einem solchen Imperativ in seiner Rede setzen oder seine Priming-Strategie auf diese Weise verstärken kann, der kann sich beinahe blind darauf verlassen, dass dieser Effekt seine Aussage nachhaltig kognitiv und emotional unterstützt. Dies geschieht tief im Unterbewusstsein, auf eine Weise, die das bewusste System 2 gar nicht mitbekommt.

Eine dramatische, sicher auch traurige Rolle spielt in der aktuellen politischen Diskussion hier etwa der zentrale Erziehungssatz, der wohl jedem von uns von den Eltern definitiv eingetrichtert wurde: „Pass auf vor einem Fremden, du weißt nicht, ob er böse ist; sei vorsichtig, geh auf keinen Fall mit ihm.“ Auch wenn in jeder seriösen Diskussion zur Flüchtlingspolitik die Angst vor Überfremdung relativiert und die Notwendigkeit der Integration mit sachlichen Argumenten belegt werden kann: Man muss kein Psychologe sein, um den unbewussten Einfluss dieser zentralen abgespeicherten Aussagen und damit Verhaltensvorgaben des Eltern-Ichs bei tendenziell fremdenfeindlichen Reden als Anker-Phrase gewärtigen zu müssen.

Ein weiteres wirksames Ankern ist etwa der Verweis auf Übungen und Gewohnheiten, die unsere Eltern traditionell praktizierten und die wir derart tradiert auch in eine Rede einpflegen. Der Satz „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ ist beispielsweise als Zitat schon eine Autorität – aber als Anker verstärkt er sich noch mehr, wenn es etwa um die Frage von Disziplin und Ordnung in einem Redebeitrag geht.

b) Das Kindheits-Ich

Spiegelbildlich zu den „Wahrheiten“ der Eltern, die man vermittelt bekommt, speichert jedes Kind im unbewussten Erinnern die innere Wahrnehmung und Empfindung dessen, was es sieht, hört oder spürt. Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Erleben aus unmittelbaren Gefühlen besteht, an die ein Kind teilweise ein Leben lang zurückdenkt – und vorher natürlich auch zurückfühlt! Ganz gleich ob mit Freude oder – wohl häufiger – mit negativen Gefühlen wie Schmerz, Zurückweisung, Frustration (vgl. Harris, S. 40ff.). Damit ist klar, dass Erfahrungen, die mit dem Kindheits-Ich verknüpft sind, ebenfalls eine mächtige Rolle für die Bewertung von Sachverhalten spielen und damit rhetorisch nutzbar gemacht werden können. Auch sie stellen ein wesentliches Fundament der emotionalen und bewertenden „Schaltungen“ im unbewusst arbeitenden System 1 dar.

 

Beispiel: In einer Diskussion über die Rechtfertigung von Kündigungen setzte ein Diskussionsteilnehmer einen wirkungsvollen Anker mit dem Satz „Wer nicht hören will, muss fühlen“, als er die Bedeutung von verhaltensbedingten Kündigungen auch wegen kleiner Verfehlungen verteidigte. Welcher Zuhörer hatte diesen Satz nicht schon dutzendmal in sein Kindheits-Ich eingebläut bekommen?

c) Das Erwachsenen-Ich

Die Entwicklungspsychologie hat herausgearbeitet, dass ein Kind ab dem 10. Lebensmonat die Fähigkeit besitzt, ein eigenständiges Bewusstsein und Denken zu entwickeln. Thomas Harris liefert dazu eine prägnante Beschreibung:

Das Erwachsenen-Ich füllt sich mit Inhalten – und Denkoperationen –, sobald das Kind die Fähigkeit besitzt, selbständig zu klären, worin sich die Lebenswirklichkeit unterscheidet von dem „gelernten Weltbild“ seines Eltern-Ichs und dem „gefühlten Weltbild“ seines Kindheits-Ichs. Das Erwachsenen-Ich baut (Schritt für Schritt) sein eigenes „gedachtes Weltbild“ auf, indem es Informationen über die Realität sammelt und verarbeitet. (Harris, S. 45)

Letztlich bildet sich damit das bewusst operierende System 2 mehr und mehr aus. Dies ist die Grundlage zum vollständigen Denken als Human – einschließlich der wesentlichen Fähigkeit zur Wahrscheinlichkeitsabschätzung und zur Kreativität. Es entwickelt sich zeitgleich die Fähigkeit zum Sprechen und damit zur bewussten Verbalisierung des Denkens. Mit anderen Worten: Nur ein Mensch, der dieses Erwachsenen-Ich ohne größere Abweichungen (Devianzen) entwickelt, ist zum objektiven Lernen, zur objektiven Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit imstande. Nur dann wird er auch ein anerkannter Redner sein und als Zuhörer eine Rede reflektieren können.

Auch das Erwachsenen-Ich produziert aber eine Fülle von typischen Denkfehlern (Bias). In seinem epochalen Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ hat Daniel Kahneman diese strukturellen Probleme herausgearbeitet (vgl. Kahneman, insbes. Kap. 7 und 8). Ein Beispiel für diese Denkfehler ist die Schwäche fast jedes Menschen, die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse realistisch zu bewerten. Gerade wenn Ereignisse mit negativen Gefühlen und Erfahrungen oder mit großen Schäden verbunden sind, passiert Folgendes: Menschen überschätzen die Wahrscheinlichkeiten unwahrscheinlicher Ereignisse (vgl. Kahneman, S. 396ff.) und messen ihnen bei ihren Entscheidungen übergroßes Gewicht zu. Die auffallende publizistische Hysterie in den Medien bei der Diskussion von Selbstmordattentaten oder Amokläufen kann man damit erklären – ja sogar auch manipulieren!

Wenn Sie jetzt bereits an das geflügelte Wort denken sollten, nur solche Statistiken zu verwenden, die Sie vorher selbst gefälscht (oder geschönt: interpretiert) haben – dann liegen Sie hier bestimmt nicht falsch. Es ist eine wichtige Voraussetzung, zu verstehen, dass und wie man das bewusst arbeitende System 2 beeinflussen und gegebenenfalls auch manipulieren kann. Für eine effiziente Rhetorik haben Sie also gerade hier interessante Ansatzpunkte. Wir werden sie vor allem bei den Fragen der Argumentationslehre noch eingehend durcharbeiten.

3. Auf dem Weg zur neurolingualen Intervention (NLI)

Auf Grundlage der Erkenntnisse zu Lebensanschauungen und Denkweisen zeichnet sich immer mehr ab, wie Rhetorik wirksam eingesetzt werden kann. Wir sehen aber auch, wie Rhetorik natürlich auch dazu verwendet werden kann, die Zuhörer zu manipulieren! Die Literatur zur „Kunst der Manipulation“, zu „satanischen Redefähigkeiten“, zur „neurolinguistischen Totalprogrammierung“ und was es da noch alles gibt, ist dabei kaum zu übersehen. Das Problem mit diesen „teuflischen Künsten“ und „Programmierungscodes“ ist nur: Es gibt niemanden, der auch nur annähernd perfekt einsetzen kann, was er als Autor oder Schüler perfekt zu beherrschen vorgibt. Auch die selbst ernannten Großmeister im Bereich „Macht der Rede“ haben hier offensichtlich Probleme, als „überirdische Rhetorikmagier“ Anerkennung zu finden. Ich rate daher dringend davon ab, eine solide rhetorische Ausbildung durch solche „rhetorische Schwarze Magie“ ablösen zu wollen.

Davon abzugrenzen ist die sogenannte neurolinguistische Programmierung (NLP): Obgleich offensichtlich eine exakte Definition fehlt, versteht man unter NLP ein regelbasiertes, psychologisch und linguistisch (= sprachwissenschaftlich) verortetes methodisches Instrumentarium, aufgrund dessen seine Nutzer in der Lage sind, sich selbst und eine andere Person vollständig wahrzunehmen und durch die Verwendung exakter Handlungs- und Verhaltensanweisungen das Denken, die daraus resultierenden Entscheidungen einer anderen Person und deren Verhalten gezielt und weitgehend zu beeinflussen und zu verändern (vgl. zur Einführung Seidl, NLP, und Mohl, Der Zauberlehrling).

NLP kann schon deswegen in der Rhetorik nicht oder nur schwer funktionieren, weil wesentliche Elemente ihres Instrumentariums für die Kommunikation mit einer Gruppe nicht anwendbar sind. Schwerpunkt ist die Kommunikation mit einem individuellen Gegenüber (vgl. Seidl, NLP, S. 35). Wer versucht, eine ganze Zuhörergruppe in ihrer Gesamtheit mit den zentralen Elementen der NLP kommunikativ zu bearbeiten, sie also zu kalibrieren, sie auf ihre „sprachlichen Repräsentationssysteme“ zu analysieren oder „Augenzugangshinweise“ zu sammeln, um dann zu „leaden“ oder zu „pacen“, dass der Versammlungsraum nur so wackelt, der ist nach meiner Kenntnis damit bislang grandios gescheitert (vgl. dazu u.a. Rappmund, Manipulation, S. 134ff., Mohl, Der Zauberlehrling, S. 137ff., S. 191ff., s.a. Braun, Die Macht der Rhetorik).

Ich will nicht verhehlen, dass viele Erkenntnisse und Thesen derartiger Autoren durchaus mit ernsthafter wissenschaftlicher Methodik erarbeitet wurden. Der – selbst nur teilweise – experimentelle Nachweis der wissenschaftlichen Richtigkeit der Gesamttheorie ist aber nicht existent; auf jeden Fall nicht, soweit es die Bedeutung der NLP für die Rhetorik als eigenständiger und ganzheitlicher geisteswissenschaftlicher Technik und Disziplin betrifft. Vor diesem Hintergrund rate ich zu einer realistischen Bescheidenheit, wenn es darum geht, das Potenzial der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse von Psychologie, Linguistik und weiteren sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen als Grundlage für eine optimierte Theorie und wissenschaftliche Deutung der Rhetorik zu nutzen.

Die vorstehenden und nachfolgenden Darlegungen zeigen, wie hochkomplex die Rhetorik ist. Nicht umsonst heißt sie ja Redekunst; sie ist mit Sicherheit kein bloßes Redehandwerk. Wer also eine realistische Bestandsaufnahme der aktuellen – praxisbezogenen – Rhetorik angeht, der wird eingestehen müssen, dass die Rhetorik in ihrer vielschichtigen Matrix von unterschiedlichen Teilelementen von einer exakten Wissenschaft der algorithmischen neurolinguistischen Programmierung weit entfernt ist. Der Anspruch mancher Autoren, „nicht nur systemisch perfekte Manipulationskonzepte (der Sprache) zusammenstellen zu können, sondern auch immer zu wissen, warum sie funktionieren“, ist schon bemerkenswert (so aber z.B. Rappmund, Manipulation, S. 50f.). Letztlich ist diese Behauptung nichts anderes als eine ziemlich bedenkliche und manipulative (!) Marketingstrategie, die dem selbst gesetzten wissenschaftlichen Anspruch bei Weitem nicht entsprechen kann. Zwar wird sich die Rhetorik durchaus unter der Einwirkung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse konstant fortentwickeln. Gleichwohl ist es zweifelhaft und wird es jedenfalls noch lange kaum möglich sein, eine in sich völlig schlüssige rhetorische Theorie und Wissenschaft als Zusammenfassung gesicherter wissenschaftlicher Ansätze mit einem umfassenden wissenschaftlichen Geltungsanspruch für die Rhetorik zu formulieren. Eine solche „allgemeine rhetorische Relativitätstheorie“ müsste ansonsten ja folgenden Ansprüchen – mindestens – gerecht werden:

 eine exakte Einordnung aller verbalen und nonverbalen Analytik und Praxis der rhetorischen Instrumente zu leisten

 eine exakte linguistische und psychologische Beschreibung der Rhetorik mit universeller Verwendbarkeit bei allen gängigen Sprachen zu vollbringen

 eine exakte sozialpsychologische, sprachwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, soziologische und politologische Beschreibung des Einsatzes der Rhetorik zur Erzielung gewünschter Transaktionsergebnisse formulieren

Davon ist die Rhetorik als Teildisziplin der Geisteswissenschaften noch Lichtjahre entfernt – wenn diese Vielzahl an Zielen überhaupt je erreicht werden könnte. Sie kann jedoch schon heute davon profitieren, was die Erforschung der neuronalen Struktur unseres Gehirns und seiner Arbeitsweise gerade im unbewussten Bereich erbringt. Wir erkennen zunehmend die Funktionen der neuronalen Schaltungen des Unbewussten, die dem bewussten Denken Lösungen für erkannte Fragen und Probleme anbieten. Diese unbewussten Vorgänge kann sich die Rhetorik zunutze machen, um gezielt eigene Fragen zu platzieren und überzeugende Antworten zu präsentieren. Der theoretische Ansatz und das damit eingeführte Instrumentarium können unter einem neuen terminus technicus zusammengefasst werden: Neurolinguale Intervention. Damit wird zum einen die Leistung des Instrumentariums beschrieben, aber auch die Aufgabe und die Zielsetzung, die der Einsatz des neuen rhetorischen Ansatzes auf der Grundlage der Verhaltenspsychologie verfolgt.

NLI: Klassische Rhetorik und moderne Psychologie

Die neurolinguale Intervention (NLI) versteht sich als ein rhetorisches Konzept, das die modernen psychologischen Erkenntnisse zur Funktionsweise menschlichen Denkens, seiner Wahrnehmungs- und Problemlösungsmechanismen sowie die Grundlagen der Transaktionsanalyse und der Kommunikationspsychologie auf ihre Relevanz für die Rhetorik hin überprüft. Sie formuliert daraus ein methodisches Instrumentarium, mit dem die wesentlichen Prozesse der Rhetorik ganzheitlich schlüssig erklärt und gezielt beeinflusst werden können. Grundlage der NLI ist ein neues Verständnis des rhetorischen Gestaltungs- und Wirkungsprozesses, der überwiegend durch das unbewusste System 1 des menschlichen Denkens gesteuert wird und in vielen Facetten das bewusste System 2 beeinflusst. Die NLI trägt der aus der Verhaltensökonomie übernommenen Erkenntnis Rechnung, dass der Mensch durchweg weniger als Econ rational-logisch versteht, denkt und spricht, sondern als fehleranfälliger Human auch seine rhetorischen Prozesse gestaltet. Dies gilt für alle Teilelemente der Rhetorik, insbesondere die Argumentation, die rhetorischen Instrumente und die nonverbalen Elemente einer überzeugenden Rede. Die NLI bietet für alle diese Bereiche Ansätze und Methoden, die auf das unbewusste System 1 und damit das Zentrum menschlicher Denk- und Entscheidungsprozesse zielen. Das entsprechende Instrumentarium entwickelt sie analog zur modernen Verhaltens- und Kommunikationspsychologie dynamisch und versteht sich daher als offenes Konzept, dessen theoretische und praktische Grundsätze im Anschluss an die Forschung kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Derzeit lassen sich folgende wesentliche Erkenntnisse und Einzelelemente der NLI formulieren:

Die „neuronale Heuristik“ des menschlichen Denkens ist nicht „rational-linear“, sondern basiert auf elementaren Bewertungen des unbewussten Denkens mit „Berechnungen von Ähnlichkeit und Repräsentativität, Kausalattributen und Bewertungen der Verfügbarkeit von Assoziationen und Musterbeispielen“ (Kahneman, S. 120). Die ungeheure Vielfalt permanenter Berechnungen, Wertungen und Assoziationsabgleiche, die ständig im Gehirn stattfinden, führt daher im unterbewusst arbeitenden System 1 zu keinen rational abgeleiteten Antworten und Lösungen, die in Sprache und Rede umgewandelt werden. Die Methodik der Erkenntnis- und Entscheidungsfindung gleicht vielmehr einer mentalen Schrotflinte, mit der das Unterbewusstsein aus der Fülle seiner Erfahrungen die Register treffen will, von denen es eine Lösung für das Problem erwartet. Bei der weiteren Auswahl von Lösungsansätzen arbeitet das Unterbewusstsein dann gerne mit Analogien und der Ersetzung von komplizierten Fragen durch einfache (Kahneman, S. 125, S. 127, S. 133).

Das menschliche Denken lässt sich damit auch nicht hundertprozentig bewusst manipulieren. Der aktuell bekannte rhetorische Prozess der Produktion einer Rede ist aber durchaus einer gezielten Intervention zugänglich, die der neuronalen Denkheuristik eines Zuhörers „neuronale Leitplanken“ vorgeben oder „heuristische Angebote“ machen kann: Das können Lösungsbilder, Affekte, Gefühlsmomente, Wertmuster oder gedankliche Frames sein. Sie führen, in einer Rede bewusst eingesetzt, sofort dazu, dass die neuronale Heuristik des Zuhörers sich damit beschäftigt. Wenn diese dann Ähnlichkeiten, potenzielle Lösungen für die interne Heuristik-Maschine darin sieht, dann ist das Denken tatsächlich mit der Intervention in neue Bahnen geleitet; auf diesen können dann weitere Interventionen stattfinden.

 

Die nachweisliche Wirksamkeit solcher rhetorischer Einzelinterventionen zeigt sich beispielsweise an einem verblüffenden Verhalten in der wissenschaftlichen Praxis, das Kahneman ausführlich beschreibt (S. 142f.): Selbst erfahrene Wissenschaftler unternehmen weniger Anstrengungen bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Präsentation, als notwendig wäre, um ein wirklich valides Ergebnis aus ausreichend großen Stichproben zu erzielen. Im Gegenzug akzeptiert auch das Publikum bei der Präsentation fremder Ergebnisse die Aussagekraft unzureichender Stichproben genauso bereitwillig (Kahneman, S. 143; s. dazu auch Gigerenzer, S. 30ff.). Die neuronale Bereitschaft des unbewusst arbeitenden System 1 für voreilige Schlussfolgerungen ist unglaublich groß. Entscheidend ist allein die „Kohärenz der Geschichte“, die System 1 damit erschafft; die Menge und Qualität der Daten, auf denen die Geschichte beruht, ist weitgehend belanglos (Kahneman, S. 112 mit Quellen). System 1 wird damit zur „Maschine für voreilige Schlussfolgerungen“, es arbeitet nach dem Prinzip „What you see is all there is (WYSIATI)“ (Kahneman) – „nur was man gerade weiß, zählt“.

Daraus resultiert, dass auch das träge arbeitende bewusste System 2 permanent von vielen neuronalen Lösungsvorschlägen und intuitiven Überzeugungen des System 1 geflutet wird und diese in der Regel auch berücksichtigt. Erst wenn System 2 völlig in den bewusst-logischen Denkmodus schaltet, wird dies anders (und das geschieht viel zu selten, etwa auch während einer Rede, der man „mal eben so“ folgt). Das unbewusste System 1 beeinflusst daher auch eher sorgfältigere Denkabschnitte, da sein Input für das bewusste System 2 permanent läuft (Kahneman, S. 113).

Damit ist eine weitere Erkenntnis verbunden: Das neuronale System 1 des Zuhörers muss auf den Redner buchstäblich hören wollen – mit anderen Worten: Beeinflussung setzt eine emotionale und neuronale Bereitschaft des Zuhörers für die Aufnahme solcher Signale voraus. Je ablehnender das Auditorium einem Redner gegenübersteht, umso mehr schaltet System 1 darauf um, Lösungen zu finden, mit denen man das Angebot des Redners erfolgreich ablehnen oder sogar konterkarieren kann. Es ist daher eine wichtige Aufgabe eines erfolgreichen Redners, entweder die Bereitschaft zum Zuhören zu wecken oder alternativ für einen „Aufmerksamkeitsmodus“ zu sorgen, in dem System 1 des Zuhörers einfach mitläuft.

Es gibt eine Reihe von „Denktendenzen“ von System 1, die durch rhetorische Angebote und Formulierungen äußerst effektiv angetriggert werden können. Dazu gehören folgende Beispiele (vgl. Kahneman, S. 139ff.):

 Die Neigung, schon den Ergebnissen kleiner Stichproben Glauben zu schenken

 Die Neigung, eher zu glauben als zu zweifeln, mit dem Risiko, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was man sieht, zu überzeichnen (Neigung zu voreiligen Schlussfolgerungen)

 Die Neigung zu kausalem Denken. Das klingt zunächst ungefährlicher als es ist; es hat aber mindestens eine dramatische Gefahrenstelle: das Risiko von massiven Fehlern, wenn man rein zufällige Ergebnisse „buchstäblich so hinstellt, dass das kein Zufall sein kann“ (der „Hand Gottes-Bias“, vgl. Dobelli, S. 97ff.). Wenn der Einzelne daraus vermeintlich plausible Schlüsse zieht, dann ist System 1 wieder unbewusst einem Einflüsterer (oder Redner) auf den Leim gegangen.

Menschen sind eher dann empfänglich für Interventionen in das unbewusste System 1, wenn sie sich nicht in einem „Zustand erhöhter Vigilanz“ befinden, der etwa das kritikfähige System 2 aktivieren würde. Auch hier gibt es einige typische Situationen, die derartige Interventionen messbar erleichtern und die Aufnahmebereitschaft für gezielte Thesen des Redners signifikant erhöhen.

Beispiele:

 Zuhörer sind gut gelaunt, weil sie gerade an eine glückliche Episode in ihrem Leben gedacht haben

 Zuhörer sind noch mit einer vorausgegangenen anstrengenden Aufgabe befasst (etwa durch eine Fragestellung) und daher abgelenkt

 Man gibt Zuhörern das Gefühl, Macht zu haben

 Man präsentiert den Zuhörern eine Geschichte, die sie als kohärent und plausibel bewerten können und daraufhin zur vom Redner gewünschten Einstellung gelangen

 Zuhörer werden daran erinnert, dass sie hohes Vertrauen in ihre Intuition haben können – oder aber:

 Zuhörer werden daran erinnert, dass sie ihrer Intuition misstrauen sollten. Mit der Erkenntnis, dass ihre intuitiv vorhandenen Urteile auf struktureller Selbstüberschätzung und verzerrter Wahrnehmung beruhen, wächst die Bereitschaft, stattdessen dem Redner zu glauben.

Die neurolinguale Intervention sollte behutsam erfolgen und am besten so unterschwellig ausgeprägt sein, dass sie das bewusst arbeitende System 2 nicht aktiviert und zu Zweifeln anregt. Eine wesentliche Rolle für eine effiziente unterschwellige Intervention spielt die Körpersprache, auf die wir noch intensiv eingehen werden. Solange diese Körpersprache als authentisch empfunden wird, als glaubwürdiger „nonverbaler Begleitkontext“ einer Rede, ist System 1 nicht veranlasst, argwöhnisch oder skeptisch zu reagieren. Der Redner ist dann offensichtlich so, wie er redet – und diese Kongruenz wirkt doppelt, da sie unbewusst die Neigung verstärkt, dem Gegenüber Glauben zu schenken.

Die NLI kann eine Fülle der typischen „heuristischen Fehler“ (Bias) des unbewusst arbeitenden Systems 1 geschickt in die eigene Argumentation einbauen. Damit wird eine Rede zwar nicht „wahr“ – aber kohärenter und plausibler.

Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, die Econs sprachlos machen; zitiert sei ein besonders krasses, das von Humans in der Fernsehwerbung aber schlichtweg als wahr akzeptiert wird: Es ist die „Verivox“-Werbung der Jahre 2015/2016 zu Strompreisvergleichen mit den Geissens. Es gibt zuerst die zwar richtige, aber typisch „leicht doof“ ausgesprochene Feststellung von Frau Geissen: „Wer vergleicht, kann beim Verbrauch sparen.“ Der zentrale Antwortsatz des „verschlagen-schlauen“ Herrn Geissen lautet: „Und wer mehr verbraucht, spart auch mehr“ – dazu lacht er sein Kapitalistenlachen und schaltet das Flutlicht für den Swimmingpool ein. Es stellt sich nun die Frage, ob die Geissens tatsächlich mehr sparen, wenn sie mehr verbrauchen, und sich daher auch mehr leisten können. Diese Frage wurde von den meisten von mir befragten Studenten in einer – sicher nicht repräsentativen – Umfrage für richtig gehalten. Obwohl diese Schlussfolgerung zumindest konkret leicht widersinnig ist: Wer mit Flutlicht seinen Pool beleuchtet, der spart nicht, sondern verbraucht aberwitzig viel Strom und wirft das Geld buchstäblich zum Fenster hinaus!

Man kann nun weiter fragen: Warum glauben die Zuseher den Spruch von Herrn Geissen „Wer mehr verbraucht, spart auch mehr“? Vieles hat schlicht mit dem „Erfolgssetting“ der Millionärsfamilie Geissen zu tun, die als zwar etwas schlicht empfunden wird, gerade deswegen aber auch als glaubwürdig. Das ist sogar wissenschaftlich erwiesen: Wenn Sie einen erfolgreichen Millionär zitieren, dann ist die Neigung, das für wahr zu halten, was er sagt, überdurchschnittlich hoch (der Bias des sogenannten Halo-Effektes, vgl. Kahneman, S. 254, s.a. Dobelli, S. 157f.).