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Claus Störtebecker

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So wechselten Weiß und Grün unter den Rändern des hohen Küstenwaldes, die Tage strichen dahin gleich einer Rebhühnerhusche, einer hinter dem anderen, und Heino Wichmann fing sich jeden einzelnen ein, um ihm vor den Augen der Häusler sein besonderes Kennzeichen aufzudrücken. Immer geschah etwas. Die Zeit bildete für die einsamen Strandsassen keine gestaltlose Masse mehr, sondern die Unruhe des neuen Ruderknechtes trennte sogar die einzelnen Stunden scharf voneinander ab.

In jenen Monaten war es, daß in den jungen Nikolaus ein unbegreifliches Wachstum geriet. Der schlanke Leib des Burschen schoß sprunghaft in die Höhe, bald überragte sein braunes Lockenhaupt um eine Spanne das sich duckende des Vaters, seine Haltung erhielt etwas Gestrafftes, ja Königliches, sein Gang etwas Anmutiges und zugleich Herausforderndes, und seine Augen konnten plötzlich neben dem wilden Umherflackern einen schwärmerischen Glanz bergen, der über die Dinge dieser Welt hinauszuschweifen schien und etwas von dem unbewegten Flug eines träumenden Adlers an sich hatte. Und der arme, von unruhigen Geistern geplagte Sassensohn badete sich wirklich in den Breiten eines neuen Lichtes.

Heino Wichmann!

Heino Wichmann war für den wilden durstigen Jungen ein Zauberer, der die schmale Kinderhand nur emporzuwerfen brauchte, damit Sterne und Mond stillstanden und auf den Winden von allen Weltteilen her das Wissen Salomos herbeigeflogen kam. Wenn sich die beiden Unzertrennlichen in dem plumpen Kahn unter dem roten Segel wiegten oder wenn sie im Abendrot hoch oben auf den Hängen der Dünen lagen, dann schwand wie von selbst die lächerliche Maskierung des angeblichen Ruderknechtes, die bäuerliche Sprache tauchte unter, und aus dem braunen Lumpen trat ein anderer hervor. Derselbe, der einst die goldene Kette und den welschen Hieber getragen, derselbe, der mit seiner hauchenden Mädchenstimme spöttische Gelehrsamkeit von sich schleuderte und für den es weder Unergründetes noch scheue Ehrfurcht vor etwas Geschaffenem gab. In solchen Stunden der Mitteilung konnte man deutlich merken, wie auch für das kleine Kerlchen jenes unbändige Ausgeschöpftwerden ein nicht zu entbehrendes Lebensbedürfnis bildete, ja, daß er sich trotz seines wegwerfenden Lächelns voll Eitelkeit und Stolz in sich selber spiegelte, sobald sein Zögling sich über ihn beugte gleich über einen tiefen Brunnen, in den man ungestüm Eimer auf Eimer herabläßt. Da kam dann quellend und perlend Trank um Trank hervor, klar und schlammig, unverdaulich und heilsam, als ob in diesen Brunnen alle Quellen der Erde mündeten. Von dem nächsten fing es an. Claus erfuhr, in welchem Volk er lebte, wie sich die Stände und Ämter teilten, wo Unrecht und Bedrückung anhob und worin sich sein Stamm von den anderen großen Menschengemeinschaften unterschied. Von da gelangten sie ganz von selbst auf Ausdruck und Redeweise der Länder, die Musik der welschen Sprachen, die Heino Wichmann vollkommen beherrschte, klang vor dem entzückten Knaben auf und er lernte auch latina lingua verehren, die Urmutter dieser Laute, und in verhaltener Begeisterung schaute er in das Sein und Treiben jener untergegangenen Geschlechter hinab, die mit diesen Lauten der alten Welt ihre Gesetze vorgeschrieben. Helden und Weise zogen vorüber, Religionsstifter und Abtrünnige, und ohne daß der Wissensdurstige es ahnte, wurden von dem ätzend scharfen Erzähler Menschen und Dinge alle zu dem einen Ziele gelenkt, wie sie nämlich der Befreiung und Entbürdung der nach Licht und Brot ringenden Armen und Elenden gedient hätten. Denn dieses kleine strohblonde Zwerglein sah, ohne jemals erregt zu werden, und obwohl es selbst sich keinen erlangbaren Genuß entgehen ließ, überall seufzende Scharen der Sklaverei um sich her, viele Millionen gefesselter und gestriemter Unfreier, von denen er verkündete, daß sie nie sterben würden. Und wahrhaft schneidend und fürchterlich klang sein feines Gelächter, so oft er im Gegensatz zu allem Herkommen die gepriesenen Bringer des Heils und der Ordnung, den Kaiser, der doch den Landfrieden befohlen, den Papst, der doch den Verängstigten die Vergebung der Sünden reichte, ja, sogar den Heiland, der die lichte Halle des Himmels geöffnet, für die schlimmsten Vergewaltiger und Bedrücker der in Dummheit blökenden Erde erklärte. Entrückt, von aller Gegenwart fortgeschwungen, krallte sich dann Claus in den mütterlichen Sandboden, sein Atem schoß, als ob er Mauern niederbrechen müßte, in seinen starren Augen züngelte der niedergehaltene Glast von Blut, Einäscherung und Gewalttat, und doch bebten alle seine Glieder im Frost der Angst, und das kalte Fieber des Zweifels und der Unentschlossenheit stieß den Unreifen doch immer zurück in die Schranken des Brauches und des Herkommens. In solchen Augenblicken der Qual und des glühenden Wunsches packte er seinen Verführer oft an der Brust und schüttelte den Kleinen, als ob er ihm das Herz aus dem Leibe schleudern wollte, dazu schreiend:

»Was bleibt uns? Heino, um aller Heiligen willen, sag an, was muß uns allen werden? Was?« Denn der suchende Verstand des Jungen wollte einen Weg finden zwischen Gestern und Morgen, eine Brücke, die über das Gewitter fortleitete. Heino Wichmann aber ließ sich, unberührt von diesem Ausbruch, in das weiche Dünenlager zurückgleiten, lächelte mit seinen bartlosen Lippen gegen das in den Himmel flüchtende Abendrot und lispelte kaltblütig und grausam:

»Wer kennt die Medizin für alle? Aber für mich und dich, Büblein, ist am besten ein seidener Pfühl, eine glatte Dirne darauf, und saufen und prassen bis in den achten Tag.«

Da heftete Nikolaus einen verlöschenden Blick auf den sich genießerisch dehnenden Kleinen, warf das Haupt gegen die dunkle See und saugte in Verzweiflung an den ewig tränkenden Strömen.

Ekel, unerkanntes Mitleid mit einer zu erlösenden Welt, und das rasende Verlangen, sich zu verschwenden, stritten in der sich weitenden Seele.

Es kam eine Stunde, da der Hochmut des Knaben es nicht mehr länger duldete, von dem Genossen noch fernerhin in Unkenntnis und Täuschung gehalten zu werden. Ganz früh an einem tauperlenden Herbstmorgen war es. Die Sonne rollte eben aus ihren verhängten Schleiern durch das dunkelblaue zackige Gewölbe. Weit über dem Schlaf der See übten die schwarzen Streifen der Stare schon für den kommenden Abzug. Und hoch oben an dem hallenden Rand des Küstenwaldes klang die Axt. Dort hieb der junge Claus ein paar schlanke Eichenstämme nieder, denn sie sollten ihm zu neuen Ruderstangen dienen. Aber mitten in der Arbeit schleuderte Claus die Axt auf den Waldboden, schnellte empor, und während er sich die Fäuste in die Weichen setzte, forderte er dröhnend, ohne Übergang noch Einleitung:

»Genug Verstellung. Du bist kein Ruderknecht, Heino. Du bist keiner. Woher käme dir sonst all die Gelahrtheit? Nun schnell und ohne Windbeutelei, wie steht's um dich?«

Leicht hätte ein anderer ob des ungewohnten Tons außer Fassung geraten können. Der kleine Strohblonde jedoch, der gerade faulenzend vor einer gewaltigen Buche stand, um dort voll Spannung der Zimmerarbeit eines Spechtes zu folgen, er hüpfte selbst wie ein wippender Fink herum, tänzelte ohne jede Verlegenheit auf seinen Zögling zu, um ihm dort von unten herauf einen leisen Backenstreich zu versetzen.

»Kluges Näschen,« wisperte er voller Befriedigung, »gut, gut, Büblein, ist auch Zeit, daß du endlich aus den Eierschalen schlüpfst. Aber nun zieh die Kappe, mein Freund, denn du stehst vor etwas Fürtrefflichem. Weißt du, was ein Bacchant ist?«

Vor dem Glanz jenes Titels wich der Fischerjunge zurück, und doch fiel ihm ein, wie oft jene Lehrbuben und Handlanger der Wissenschaft hungernd und bettelnd durch die Dörfer und kleinen Städte der Insel strichen, ja, daß sie um Geld und Brot vor den Türen der Unfreien sangen. Das Wissen war damals noch dem Elend verschwistert, und mancher Knecht tauschte nicht mit dem dürren Gerippe, das auf einer Lehrkanzel stand. Dennoch sagte er voll Ehrfurcht: »Bist du solch einer?«

»Noch mehr, Liebster, noch viel mehr. Ich wollte erst die Raupe an dir vorüberkriechen lassen, damit dich der Sonnenflug des Schmetterlings nicht blende. Aber jetzt entzücke dich, mein Freund, ziehe deine Schuhe aus, wenn du es hörst, denn ich ward als etwas zugleich Kostbares und daneben Zerbrechliches in den Schrein der Menschheit gestellt. Fasse dich, Holder, und gerate nicht außer dir, denn sieh, ich bin Magister, der Magister Heino Wichmann, versehen von den drei Universitäten Padua, Wien und Paris mit einem versiegelten Lehrbrief, und hosianna, ich verkaufe ihn dir für ein Paar wollene Strümpfe, denn durch die meinen lugen kläglich die Zehen.«

Da riß Claus entgeistert die Kappe herunter und verneigte sich so tief vor dem Männlein in Lumpen, wie er es bis jetzt nur vor dem Abt des Klosters über sich gewonnen. Wirre Vorstellungen und ein tanzender Himmel waren über ihm. Ein Gelahrter, ein Hochgelahrter hauste unter dem Stroh und den Schindeln der Sassen. Alle Barmherzigkeit, er führte das Ruder und fing Fische und ließ sich von den unwissenden Alten ausschimpfen. Und dabei war das kleine strohblonde Kerlchen einer von den Auserwählten, die zwar hungerten und froren und von Handwerkern und Bütteln herumgestoßen werden durften, die aber doch in die sieben Tagewerke so tief hineingeguckt hatten, daß ihr belebendes Wort ferne Gräber öffnete und nahe Kaiser erblassen ließ.

Betäubt, hingerissen vor Dankbarkeit und Ehrfurcht wollte der Junge auf das winzige Menschenkind zustürzen, aber wie nun sein schlanker Leib den anderen so gewaltig überragte, da meldete sich plötzlich etwas von der Überlegenheit des körperlich Stärkeren, und statt der glühenden Zärtlichkeit, die er noch eben auszuteilen gedachte, fing Claus vielmehr mißtrauisch an, nach den Lebensumständen des Kleinen zu forschen. Warum ein Magister keinen Sitz unter seinen Genossen habe, was ihn fortgetrieben und aus welchem Grund er sich nun schon so lange bei armen einsamen Leuten verdingt? Das mußte er ergründen, daran klammerte er sich fest.

 

Beineschlenkernd hockte Heino Wichmann zusammengekrümmt auf dem gefällten Eichenstamm, grinste seinem aufgeregten Zögling spöttisch und erkennend ins Gesicht und wickelte sich gelassen die gelben Haare um den Finger. Endlich hauchte er gefällig und doch kalt, wie immer:

»Streng dich nicht an, Büblein. Der Mensch ist ein Trank, von dem man höchstens fünf bis sechs Tropfen genießen soll. Mehr ist schädlich. Aber weil du mir die Narbe über meiner Stirn so aufmerksam belauerst, so magst du erfahren, wo mir diese rote Fahne zuerst aufgezogen wurde.« Er rückte zur Seite. »Komm, setze dich neben mich und dann lerne an mir das Exempel, daß es weichlich und dumm ist, wenn der Mensch nach etwas Sehnsucht zeigt, was der Fresser Chronos längst verschluckt hat.«

Durch einen festen Griff fühlte sich Claus herabgezerrt, dann schlang er die Arme stürmisch um den lächelnden Kleinen und horchte, als ob es um sein Leben ginge.

Wo er sich überall herumgetrieben, das entdeckte der Erzähler nicht, warum er die gelehrten Schulen verlassen, darüber glitt er hinweg. Nur bei einem Punkt blieb er ausmalend stehen. Mitten aus einem tollen, klirrenden Taumel mußte ihn plötzlich eine Begier, ein Heimweh, ein Unbegreifliches, nach den Bücherhockern ergriffen haben, nach rauchenden Öllämpchen, die in kalten Kammern über alten Schreibheften dämmerten, nach den raufenden, zechenden und lernenden Bacchanten, nach dem Disput streitender Dozenten und nach den dunklen Bogenhallen, wo aus löchrigen und verschlissenen Professorenpelzen die Weisheit für hungrige Hörer floß.

»Eine Äfferei,« urteilte Heino Wichmann grimmig.

Aus seinen vorsichtigen Andeutungen ging außerdem hervor, daß der ehemalige Magister sich erst einem widerstrebenden und hohnlachenden Kreise heimlich entziehen mußte, bevor er seinen drängenden Plan zur Tat reifen lassen konnte. Aus welcher Stadt er entwichen, aus wie gearteten Verhältnissen, das warf der Strohblonde mit einer abweisenden Handbewegung beiseite. Genug, eines Tages tauchte er unvermutet in Stralsund auf.

»Und dort?« drängte Claus, immer enger an den Freund sich schließend.

»Dort war eine Schule von Bacchantenschützen versammelt. In einer Bodenkammer über einer Sattlerei hockten sie beieinander, und um den Preis eines geordneten Vortrages stahlen und bettelten die Buben für ihren Magister zusammen, was sie unbemerkt die krummen Treppen hinaufschleppen konnten. So ging es eine Weile auch ohne den Verkauf der goldenen Kette, die der Kleine aus nicht näher zu erörternden Gründen dem Tageslicht keineswegs aussetzen mochte. Und schon faßte der Haufe den Entschluß, sich gemeinsam nach Halle durchzuschlagen, wo der berühmte Doktor Pelicanus die Grammatik lesen sollte, als – «

»Ja, Bübchen,« lächelte Heino Wichmann gönnerhaft, wobei er die gespreizten Finger in das nicht mehr wärmende Sonnenlicht hielt, »aber dann, liebe Unschuld, dann kam der Winter. Hast du schon einmal gefroren, Cläuslein?«

»Ich denke wohl,« versetzte der Knabe mit weit aufgerissenen, verständnislosen Augen.

Der Kleine nickte wegwerfend.

»Ja,« meinte er geringschätzig, »wie der Nordwind so einem von deiner Art ein wenig die spitzen Nägel über den Leib ritzt. Aber was es heißt, wenn die Zunge hinter den Zähnen vereist, oder sobald man halbtot in seinem Bodenwinkel kauert, wo das Denken allmählich in dem klappernden Gebein erstarrt, davon ward deiner Mutter Sohn nichts kund. Nicht wahr? Ich sage dir, da führt man allerlei verrückte Tänze auf, ja, man vergißt sich sogar so weit, zu beten, zu wimmern um einen einzigen Holzspan für den leeren Ofen. Kuck, so ging es mir. Mein Verschlag lag der roten Marienkirche gerade gegenüber, und durch die Lappen meines Fensters konnte ich den heiligen Johannes auf seinem Postament stehen sehen. Der fror weder in seinem weißen und blauen Überwurf, noch brauchte er von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Da schrie ich ihn an, er solle ein Wunder tun; aber als er vornehm gegen mich Lumpen blieb und sich nicht rührte, sieh, da packte mich die Wut, denn ich schämte mich für den herzlosen Holzheiligen und ich beschloß, den Apostel zu seiner Pflicht zu zwingen. In einer Nacht, wo es weiße Strümpfe durch die Straßen schneite, schlich ich hinüber – und dann eine Stunde später, oh, da hatte sich Sankt Johann schon meines Ofens erbarmt, und himmlische Glut umfing meine Glieder. Köstlich – köstlich, der Heilige hatte ein warmes Herz für mich Bresthaften.«

»Du – du hast mit ihm eingeheizt?« stotterte Claus. Ein Schaudern wollte ihn überrieseln, und in verschämter Bewegung bekreuzigte er sich die Stirn. Und dabei packte den Mitgerissenen doch eine uneingestandene Lust an dem Niederbrechen alles Herkömmlichen, und jener heimliche Aufruhr, der stets von dem Strohblonden ausging, er zwang ihn immer widerstandsloser in die Gefolgschaft dieses aufreizenden Lehrers.

Darum rechtete er auch nicht länger mit dem Wicht, sondern zeigte nur stumm und hartnäckig gegen die Narbe des anderen.

»Ach so,« erinnerte sich Heino Wichmann bereitwillig, »du hast recht. Dies da oben zog den Schlußstrich unter meinen Rückfall in die Gelahrtheit. – Mein Hauswirt, der Sattler, roch den Brand, er war nicht einverstanden mit Sankt Johannis Einkehr bei mir, und so rückten nicht allein seine Gesellen und Nachbarn mit Knütteln und Hellebarden gegen mich aus, sondern auch die Stadtwache glaubte, einen seltenen Vogel an mir erwischt zu haben. Oh Zeus« – der Kleine wiegte auf seinem Eichenstamm träumerisch das feine Haupt – »es wurde ein wundervoller Handel zwischen den Sankt Johannis-Rittern und meinen Buben. Allein, was nützte uns die schönste lateinische Strategie? Pfui Teufel, zuletzt mußte ich zum Fenster hinausspringen, ekelhaft, zum Hinterfenster hinaus, in einen Kehrichthaufen. Behängt mit meiner güldenen Kette und bewehrt mit dem schlanken Ravenneser Hieber stak ich stundenlang im Unrat. Lerne daraus, wie aller Glanz und jede Würde der Erde in der Stunde der Not gern zu Gestank und Kot hinabsteigt. Wobei nicht jedem ein reinigend Bad darauf wird wie mir, der ich zu Nacht auf einem Balken rittlings den schmalen Sund durchschwamm. Was dann weiter geschah« – wollte der Kleine gleichmütig schließen und strich sich prüfend über seine durchlöcherten Schuhe, aber plötzlich bettete er in heftiger Spannung die Hand über die Augen, weil tief unter ihnen, am nahen Strand, etwas Weißes, Glitzerndes, Lebensvolles gegen Sonne und Meer aufleuchtete. – »Was weiter geschah,« fuhr der Kleine hastig und bebend fort, »das weißt du, und sieh, zum Dank zeige ich dir jetzt die einzig vernünftige Gabe deines Gottes, die edelste und doch nie sättigende Speise, die nicht lediglich für den Gaumen der Reichen ausgespart blieb – kurz, ich zeige deinen blöden Augen die schäumige, die hüftenprangende Aphrodite.«

Er warf die zitternde Hand weit vor, und um seinen glatten Mund spielte der unbeherrschteste Zug von Wollust und schonungsloser Sinnengier. Katzenhaft, leise kichernd, glitt er bis an den freien Rand des Hanges. Allein ein rascher Griff des Knaben warf ihn unsanft zurück. Totenblaß, taumelnd, im Innersten seiner bereits zerrütteten Seele aufgewühlt, schwankte der große Bursche vor dem Erstaunten auf und ab. Was er von sich abwehren wollte, das wußte der Halberwachsene nicht, aber seine schon von Stürmen bedrängte Scham tobte noch einmal in Wut und Grauen gegen das Geheimnis, zu dessen Entschleierung ihm bisher der Mut gemangelt.

»Du sollst nicht,« zeterte er besessen und grub seine Blicke angestrengt in das Laub des Waldbodens, »das ist Anna Knuth, die – «

»Narr,« versetzte Heino Wichmann scharf und schüttelte die Faust ab. »Der Name fällt mit dem Gewand. Geh zum Spinnrocken deiner Mutter!«

Da vergaß Claus, daß er hier trotz allem mit dem Wohltäter rang, der ihn aus Nacht in den Tag geführt, besinnungslos, Funken vor den Blicken, hob er die Faust, um dann – wie eine Bildsäule der Ratlosigkeit zu erstarren. Ein freches, höhnisches, gewalttätiges Lachen schmetterte ihm entgegen, lähmte ihm den Arm und grub ihn wie einen Pfahl in den Boden ein. Schon jetzt erkannte der Gebändigte, welche schreckhaften, unheimlich aufspringenden Kräfte in dem Leib dieses bartlosen Kindes verborgen fluteten. Stöhnend, von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt, wodurch das Vergnügen des Kleinen aber nur noch gesteigert wurde, und dabei selbst unter den Peitschenhieben eines unsichtbaren Peinigers, so mußte der Fischersohn mit ansehen, wie der Strohblonde, auf dem Bauche liegend, alle Wonnen des Lichtes in sich einschlürfte, und Abscheu und tiefer Schmerz um die entschwirrende Reinheit entluden sich bei Claus in einem wilden Tränensturz. Unbewußt weinte er um die in Sünden lachende Menschheit.

»Frommes Schäflein,« spottete Heino Wichmann über die Schulter zurück. »Wir wollen dir ein Glöckchen um den Hals hängen.«

V

Kalte, winddurchsauste Nacht senkte sich über den Landflecken Bergen. In dem elenden Orte, der zwei bis drei Wegstunden von dem Sassensitze entfernt auf der höchsten Erhebung der Insel kauerte, war Kirmes abgehalten worden. Zudem hatten sich Gaukler gezeigt, die vom Hofe des Wolgaster Herzogs zurück wanderten, hinten auf dem Ringelplatz hatten Roßtäuscher die Gelegenheit benützt, ihr Vieh zum Verkauf anzubinden, und die herbeigeeilten Fischer und Bauern versäumten nicht die seltene Gelegenheit zu Spiel und Feier. Noch jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit trieben grölende und trunkene Haufen ihre grobe Kurzweil, ja, durch das Heulen des Sturmes schrillten lauter und ohrenbetäubender als vorher die Posaunen, Flöten und Trommeln der Wandermusikanten und Gaukler, denn diese leichten Vögel marschierten tanzend und springend an der Spitze einer Rotte, die sich eben begeistert und freudentoll zum Höhepunkt allen Vergnügens anschickte – zum Rauchspiel. Man hatte gottlob einen verwachsenen, halbnackten Bettler dabei erwischt, wie er ein Huhn unter seinen Lumpen verschwinden lassen wollte, und jetzt jagte man den Armseligen, der nur mühsam an seiner Krücke sowie auf einem Holzbein daherhumpelte, mit Ruten- und Stockhieben nach dem »Schütting«. Als man in dieser ehemaligen Räucherkammer angelangt war, entzündeten junge Burschen, denen das Amt als Auszeichnung überwiesen sein mochte, das auf den Fliesen der Hütte aufgeschichtete Laubwerk; der Hühnerdieb wurde an einem Querbalken bis unter das Dach des Raumes emporgezogen, und nun knisterten die brennenden Zweige, dicker Qualm wälzte sich an den Wänden hinauf, und es war spaßhaft zu beobachten, wie das Opfer nieste und hustete und durch allerlei Verrenkungen gegen das Ersticken ankämpfte.

»Kuck, Fiek,« meinte ein junger Bauer zu seiner andächtig emporstarrenden Braut, »das Luder hat ein Loch im Strumpf. Ich will ihn ein wenig an den Zehen kitzeln«.

Düsterrot, in langen blutigen Streifen fiel der Widerschein des Feuers durch die Ritzen der Hütte auf die Straße. An der fensterlosen Kalkwand des benachbarten Häuschens lehnten zwei Gestalten in unbeteiligter Ruhe. Ihre braune Fischertracht und die derben Tuchkappen unterschieden sie keineswegs von dem sich drängenden Menschenknäuel. Nur wer sie genauer musterte, konnte trotz der Dunkelheit in ihren blassen Gesichtern lesen, wie wenig sie von der allgemeinen Lustbarkeit angesteckt waren. Spöttisch grinste der Kleinere auf das rohe Getümmel, und wenn die Schreie des Geräucherten lauter herausdrangen, dann zuckte sein schlanker Gefährte vor Unmut oder Mitleid zusammen und konnte nur durch den festen Griff des anderen davon abgehalten werden, über den abstürzenden Weg in der Nacht zu verschwinden.

Um sie herum war Streit, Gelächter und Aufregung. Der Gott der ehrbaren deutschen Lust gönnte seinen Gläubigen neue Freude. Unter der Linde, die vor dem Rauchhaus ihre nackten Äste im Winde knarren und stöhnen ließ, zeterte der Bader des Ortes wütend auf einen Tabulettkrämer ein, weil ihn der Hausierer angeblich mit einem stumpfen Schermesser betrogen. Jauchzend stieß der breite Haufe die beiden Widersacher gegeneinander, reizte sie zu immer heftigeren Tätlichkeiten und fiel schließlich über den ortsfremden Krämer her, um ihn zur Sühnung seines Vergehens zu dem beliebten ‘Rasieren’ zu zwingen. Auf einem Fußknorren der Linde hockend und von zahllosen Fäusten festgehalten, mußte es sich der Gerichtete gefallen lassen, bei Fackelschein von dem gereizten Bartkratzer nach strengen Regeln der Zunft eingeseift zu werden. Aber statt Schaum ward ihm Unflat ins Gesicht geschmiert, und als Messer diente eine schartige Sichel, die ihr Werk mit Kratzen und Geräusch verrichtete.

Tosender Beifall übertönte das Ächzen des Geschundenen, und die Nacht verschlang den tanzenden Wirbel, der um die Linde herum tollte.

»Komm,« fröstelte Claus, indem er sich gewaltsam losriß, »wir wollen heim.«

 

»Schürzenband,« spottete der andere und lehnte ruhig weiter an der kahlen Wand, »behagt es dir nicht bei den Deinen?«

Der Junge verzog die Stirn, wie immer, sobald seinem Willen ein anderer entgegengesetzt wurde, dann jedoch kratzte er aufbrausend gegen die Mauer.

»Warum quälen sie sich?« warf er verstört hin. »Weshalb halten sie nicht Eintracht untereinander, da sie doch alle arme Schächer sind?«

»Warum?« Ein bissiges Kichern antwortete auf diesen Notruf eines grübelnden Gewissens, und während der Kleine pfeifend die Hände in seinen Ledergürtel schob, schien er sich innerlich über die Bedrängnis seines Schülers zu ergötzen. »Bist zu viel zu den Pfaffen gelaufen,« gönnte er ihm endlich. »Weißt du nicht, daß Priester und Herren nur so lange auf dem Buckel des Haufens da zu reiten vermögen, als er roh und unbelehrt bleibt? Wenn der abgetriebene Gaul schreiben und lesen könnte wie du, dann würde er leicht um sich schlagen und fürchterlich werden.«

»Was würde er dann tun, Heino?« flüsterte der junge Mensch unruhig. Es feuerte vor ihm aus der Erde. Nebelhafte Gebilde stiegen plötzlich aus dem kotigen Boden der Landstraße vor dem Erschauernden auf. Das Heil und der Segen, die dieser fiebernde Knabe nicht für sich, sondern für kommende Geschlechter traumhaft in sich trug, sie zogen in wirren Gestalten, preisend und betend über eine grüne Flur an ihm vorüber. Weihrauchfässer schaute er, Baldachine, Wagen beladen mit Brot, Korn und Wein. Aber an der Spitze des Zuges erblickte er einen Hochgewachsenen, geschmückt mit allen Zeichen des Glücks, fürstlich in Gold und Purpur gekleidet – das war er selbst.

Nahe unter der Linde tobten die dunklen Schatten immer zügelloser, aus dem Schütting trug man den halbohnmächtigen Bettler gerade zur Erholung ins Freie, doch Claus Beckera durchstieß mit seinen Blicken jene taumelnde Menge und schritt geisterhaft durch sie hindurch ins Weite.

»Was würde der befreite Haufe tun?« murmelte er von neuem.

Mit einbohrendem Verständnis und doch beinahe belustigt hatte Heino Wichmann das Versinken seines Schutzbefohlenen beobachtet, jetzt rüttelte er ihn derb an der Schulter, denn der genießerische Sinn des Kleinen verachtete nichts so sehr als das Vergessen von Zeit und Gegenwart.

»Was weiß ich?« stieß er spitz zwischen den Zähnen hervor. »Vielleicht würden deine wackeren Landsleute, wenn man sie aufweckte, auf den Einfall geraten, anstatt Schweine und Kühe einmal das sanfte Fell von Gräfinnen und Herzoginnen zu streicheln. Oder sie könnten darauf bestehen, das herrschaftliche Land nach einer neuen Ordnung zu vermessen; am Ende aber begnügen sie sich auch damit, den roten Hahn fliegen zu lassen. Was willst du? Das ist ein schnelles und munteres Tier.«

»Halt ein – so nicht – so nicht,« stammelte Claus aus seinen hohen Himmeln herabgeschleudert und warf entsetzt beide Hände vor. Ohne Übergang entdeckte der Fischersohn plötzlich wieder die betrunkenen Bauern um sich her, und eine unnennbare Sehnsucht befiel ihn nach der Einsamkeit des Meeres, nach Vater und Mutter und nach seinen schönen, schimmernden Gedanken. »Komm,« rief er inbrünstig, »laß uns gehen.«

Allein den Magister verdroß das vornehme Absondern seines Zöglings. Mächtig stachelte es seine Eigenliebe, weil die Unverdorbenheit des Jüngeren sich noch standhaft weigerte, jenes leichtsinnige Lotterdasein anzubeten, wie es der Kleine ohne Scham noch Reue für den einzigen Trost, für die allein lindernde Salbe einer sinnlos in die Welt geschleuderten und sich nun in Knechtschaft und Zwang verzehrenden Menschheit erkannt hatte. Wie kam der Bursche dazu, etwas Besseres erstreben zu wollen als Buhlschaft, Prasserei und Rausch? Soviel Anmaßung eines Unmündigen durfte nicht geduldet werden. Mit beiden Händen umklammerte der Strohblonde daher den Arm des Unschlüssigen und riß ihn mit sich.

»Wohin gehst du, Heino?«

»Ins Himmelreich, Bübchen.«

»Heino, ich traue dir nicht.« Er wollte sich loszerren. Doch den Kleinen überwältigte die Wut, heftig krallte er sich in den anderen ein und schrie mit einer Stimme, die nichts mehr von Mädchenhaftigkeit an sich hatte:

»Pfui Teufel, zieh dir ein Jungfernhemd an. Wer wird dir fürder noch die Beinlinge glauben? Schmach und Schande! Meinst du, die Welt brauche Männer, die aus einem Rosentopf wachsen?«

Da hatte er den Leichtbeleidigten, Ehrsüchtigen soweit, wie er beabsichtigte. Als ob ihm ein Peitschenhieb rund um den Rücken geknallt wäre, so bäumte sich Claus auf. Nichts mehr von Besinnung war in ihm. In diesem Augenblick wäre er über die Leichen von Vater und Mutter fortgesprungen, nur um den brennenden Schimpf zu widerlegen. Aber noch mehr geißelten den Atemlosen die Furcht und das Grauen vor dem Verlust von etwas Kostbaren. »Was kann das sein?« durchströmte es ihn noch, als ihn Heino Wichmann hinter sich her um die Ecke der kahlen Mauer herumzog. Er wußte es ganz gut und wehrte sich doch voller Schrecken gegen seine eigene Erkenntnis. Heulend warf sich den beiden Vorwärtstappenden der Wind entgegen, aus ihrer nahen Hütte kläfften zwei bösartige Hunde, und ein langer gelber Lichtstreifen zeigte den späten Gästen eine erleuchtete Kammer an.

»Hier läßt sich's wohl sein,« bestimmte Heino beinahe herrisch. Dann schlug er ein paarmal gewaltsam gegen die Bohlen der Holztür. »Macht auf, Menscher! Es gibt fürnehme Leute.«

»Eia,« rief eine helle Stimme, als die beiden Ankömmlinge eintraten. Eine blaue Wolke von Kiendampf wälzte sich ihnen entgegen. Hinten aus dem umnebelten Ziegelherd tanzten für die Nacht bereits unruhige Flammen, und in ihrem springenden Flackerlicht richtete sich mitten von dem Estrich, wo sie bisher gelegen, eine junge Dirne bis zur Brusthöhe empor, stützte sich auf die Ellbogen und ließ ihre neugierigen grünblauen Augen musternd auf den beiden Männern ruhen. Allein bald mußte sie einzig von der unberührten Schönheit des großen schlanken Burschen gefesselt werden, von seiner deutlich bemerkbaren Scheu und Unruhe, denn sie ließ eine gelbe Katze, mit der sie bis dahin offenbar zur Ergötzung der Gäste eine kosende Neckerei getrieben, von ihrem Schoß herabspringen, setzte sich auf der Diele zurecht und wiederholte mit allen Zeichen der Befriedigung noch einmal:

»Eia.«

»Becke,« ermahnte eine rauhe Weibsstimme, deren riesenhafte starkknochige Besitzerin neben dem Herd hockte, wo sie unausgesetzt eine Holzkelle in dem Kupferkessel herumwandern ließ, »wie oft muß ich dir sagen, du sollst nicht herumliegen und faulenzen, wenn gute Herren kommen? Bei Gott, ich dresche dir noch den Buckel voll.«

»Haltet Euer Maul,« widersprach das Mädchen völlig ungerührt und streckte der Wirtin sogar die Zunge entgegen. »Hat Euch der Stadtschreiber nicht erst neulich bedeutet, daß der Rat mich nicht missen will? Wer seid Ihr ohne mich, Ihr garstige Hexe?«

»Nun, mein Püppchen,« schluckte das Weib am Herd und schlug sich mit der Linken auf die gewaltige Brust, als ob sie dort ihren süßsauren Grimm einmauern müßte, zumal ihre übrigen Gäste, die unter einer tiefen Wandeinbuchtung saßen, bereits aufmerksam zu werden begannen. »Es freut mich weidlich, weil dir der Rat so wohlgewogen ist. Mußt aber auch hübsch auf dich aufpassen, damit es lange dauert. Und nun, mein Engel, steh auf und erkundige dich, was den Herren willkommen sei? Ein Krug Met? Oder Mostwein? Oder ein heißes Süppchen? Oder gar etwas anderes? Wir werden es an nichts fehlen lassen.«