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Claus Störtebecker

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»Wohin gehst du?« forschte Heino Wichmann unvermittelt wieder mit seiner weichen Mädchenstimme.

»Ich wandere«, versetzte der Gefragte hartnäckig.

»Ja, wir wandern«, wiederholte nun auch der Mann mit der Axt, der bisher wie im Traum gelauscht hatte. »Komm, Bruder.«

Allein ehe die beiden sich noch aus dem erstarrten Kreise lösen konnten, stand der Kleine plötzlich zwischen ihnen, und leise und doch mit unentrinnbarer Eindringlichkeit sagte er:

»Den einzigen, der dir die Flecken von der Axt fortwaschen kann, den findest du jetzt nicht. Der ist weit.«

Der Bauer wich einen Schritt zurück, stammelnd fragte er: »Wer ist das?«

»Wer?« Heino streckte ihm die Rechte entgegen, in die der andere, wie gezogen, einschlug. »Wer?« flüsterte der Kleine noch einmal. Und kaum verständlich, hinter Schauern von Anbetung und Geheimnis verborgen, hauchte er ihm ins Ohr:

 
»Der Gödeke – Gödeke Michael,
Der führt auf dem Schwarzschiff allein den Befehl.«
 

Eine Woge mußte in das Haus der Sibba geschlagen sein, die alles, was bis dahin aufrecht stand, unter sich begrub. Aus dem Strudel schlang es sich herauf wie die Stimmen von Ertrinkenden. Ein allgemeines brausendes Gebet, das brünstig durch das Dach gegen den Himmel stieg:

 
»Seine Brust ist wohl eine Elle breit.
Den Bedürftigen schenkt er Speise und Kleid!«
 

Noch heulte der Sturm, da geschah etwas Ungeahntes. Lallend, trunken von der Gewißheit, in eine Gemeinschaft eingeschlossen zu sein, so hatte der Hebräer die Axt an sich gerissen. Jetzt taumelte er auf den Holzblock, schwang die Waffe fieberhaft über die vielen Köpfe und besessen von einem starren, fanatischen Wahne, kreischte er gellend:

 
»Und tragt ihr Armen am Leben schwer.
Das Recht und die Freiheit wohnt auf dem Meer.«
 

Und wieder erscholl es ihm zur Antwort, ernsthaft, schwer, feierlich wie das Responsorium in der Kirche:

 
»Dort richtet die Reichen an Leib und Seel,
Der Gödeke – Gödeke Michael.«
 

Aber das letzte klang schon auf der Landstraße. Der Schwarm hatte sich, einer inneren Macht folgend, ins Freie ergossen. Alles, was sich ihm widersetzte, war fortgebrochen, nur die Becke und Claus befanden sich allein unter dem niedrigen Dach; beide angewurzelt, die Trümmer eines langsam sich fortspinnenden Traumes.

»Komm«, ermunterte endlich das Mädchen und streckte

verstohlen die runde Hand nach dem Versunkenen aus. Allein schon die Berührung machte es lechzend und unsicher. Je länger sie mit dem schlanken, gänzlich inneren Liedern lauschenden Burschen allein blieb, desto mehr durchschlug sie das Bewußtsein, dieser große, stolze, widerwillige Junge mit den brennend schwarzen Augen, er gehörte nicht in das Geschlecht der sich am Boden wälzenden Genüßlinge. In diesem wohnte noch eine verzweifelte Scham, eine gierige Andacht, die zugleich beten und doch das Muttergottesbild zerschlagen wollte. Es war eine heiße, betörte Menschenstimme, von der Claus aus seinen himmlischen Gärten hinweggejagt wurde. Wild, schmerzlich fuhr er auf.

»Was willst du?« stammelte er entsetzt, angewidert, denn in den brauenden Kiennebeln sah er, wie sie sich ihm näherte. Nein, das nicht. Alles, was von Demut gegen seine Mutter in ihm lebte, alles, was er Feindliches in seinem eigenen Geschlecht barg, es empörte sich, und mit einem wuchtigen Stoß schleuderte er die Hingebungbereite vor sich nieder auf den Estrich. Ihren dumpfen Fall hörte er noch, dann befand er sich im Freien.

Draußen Dunkelheit, feuchte, pfadlose Nacht.

Aus den Erlen und Pappeln der Landstraße schwirrte es, feiner Sprühregen stäubte den abschüssigen Weg herauf, und vor den Füßen des Flüchtenden seufzte der aufgeweichte Lehm der Landstraße.

Wohin führt der Pfad? Claus wußte es nicht. Entschlußlos blieb er stehen, bot die Fieberstirn den kühlen Tropfen und lauschte. Von der Höhe züngelte ihm noch ein Feuerstreif aus den Fenstern des Häuschens nach, das er eben verlassen, und ganz weit, jenseits des Absturzes, wirbelten zerstückte Fetzen des sich entfernenden Bauerngesanges. Ja, das wollte er festhalten, daran wünschte er sich zu klammern. Aber während der Einsame versuchte, die bekannten Strophen aus keuchender Brust aufsteigen zu lassen, da verwirrte er sich. Vergessen, vergessen waren die Worte und Bilder, die er bis jetzt aufgebaut und errichtet. Dafür – er blickte sich wie gehetzt in der Finsternis um –, dafür leuchteten überall aus den Schatten heraus weiße Arme, die ihn einfingen. Er wollte sich wehren, er schrie wie ein Unsinniger, allein das Gewoge erstickte ihn und kehrte ihn um. Vergebens, umsonst, getragen von flatternden Fittichen schoß er zurück – sprengte die Tür und sank wortlos der jauchzenden Dirne in die Arme.

Über dem Hause der Sibba erlosch das Sternbild des Jupiter.

VI

Ist erst das Eis gebrochen, dann spritzt der trübe Gischt des Meeres gewaltsam hervor, und man meint, die wallende Flut schleppe überhaupt nichts anderes mehr als Unrat.

Von dieser Zeit an kehrte Claus häufiger und häufiger in der Hütte der Sibba ein. Mochte ihn auch am Tage, wenn die helle Sonne der Küste sein Tun bestrahlte, der Ekel und der Abscheu vor dem wilden Zwang quälen, der ihn an einem schneidenden Seil über die Berge zog, in der Nacht schnürte ihm die schmerzhafte Umstrickung alle Glieder zusammen und riß den Unbändigen von dannen. Willig wurde er von seinem hohnlächelnden Lehrmeister mit einem Ring der goldenen Kette nach dem anderen ausgestattet, und Heino Wichmann versäumte nicht, während der Tagesarbeit seinem verbissen vor sich hinschaffenden Zögling einzuprägen, wie es im Altertum ganze Schulen der Weltweisheit gegeben, die im Genuß, in Schwelgerei und besinnungslosem Auskosten die einzige Gewinnmöglichkeit gegen den überall herumschnuppernden Tod gesehen.

»Sieh, Bübchen«, pflegte dann der Kleine zu äußern, während die beiden Genossen im Boot den brauenden Morgennebel durchschnitten, »der letzte Tropfen im Weinkrug ist es, der letzte, den die lechzende Zunge auf sich herablockt, gerade ihn begrüßen wir als den heißen Boten aus einer überseligen, tanzenden Welt. Bei diesem letzten kämpft bereits die Wehmut des Abschieds mit der Hoffnung auf neue Labe. Oder meinst du, das Schwein habe einen anderen Grund, sich beim Scharren nach der letzten im Erdreich versteckten Eichel den Rüssel blutig zu reißen?« Solchen Einflüsterungen gegenüber, obwohl sie ihn mit der Schärfe eines Rutenhiebes trafen, blieb der hochgewachsene Junge, dessen Wangen schmäler und blasser wurden und dessen Brandaugen jetzt häufig voll selbstquälerischer Verzweiflung glimmten, stumm und taub. Und der strohblonde Magister begann zu wittern, daß sein Geschöpf die aufreizende Absicht unter seinen Stachelreden zu merken anfing. Dazu bäumten sich der Hochmut und das herrische Wesen des Fischersohnes immer gebieterischer, und es kam jetzt oft in dem Katenhause der Beckeras zu Streit und Widerreden. Der Sohn bat nicht mehr, er forderte. Auch äußerte er zuweilen bei geringen Anlässen Gedanken und Meinungen, die bewiesen, wie hoch die Gärung in seiner Brust bereits gestiegen war.

Eines Tages saß der Bruder Franziskus am Herde der Hütte. Er kam, wie er bekundete, im Auftrage seines Klosters, um bei den Fischersleuten eine wirtschaftliche Bestellung auszurichten. Im Grunde aber war er von Mutter Hilda herbeigerufen, die die Sorge um ihren, wie sie meinte, verirrten Einzigen nicht mehr ruhen ließ. Treibende Angst beschattete sie jetzt fast stündlich, in ihrem Kinde seien die bösen Lüste seines eigentlichen Erzeugers aufgewacht, seine Genuß — und Raubsucht, die wilde Gier nach Unterdrückung Schwächerer und das kalte Verachten von Recht und Sittsamkeit. Ihre Brust bebte, wenn sie daran dachte, daß sie selbst ja nur gezwungen dieses fremde und doch geliebte Reis empfangen, und die Schärfe des Mutterauges nahm auch wahr, wie in ihrem Sohn plötzlich die Erkenntnis des werdenden Mannes aufgepeitscht war und wie sich Scham und Verachtung vor jenem Wissen in ihm stritten.

Ein kalter Novemberabend fröstelte über der Hütte. Am Buchenfeuer saß der Mönch, und neben ihm, in Decken eingehüllt, hing der Hausherr, halb liegend in seinem Armstuhl, und röchelte unter einem pfeifenden Geräusch die warme Feuerluft ein, die seine wunde Brust doch immer wieder zu einem langen Husten reizte. In einer beschatteten Ecke, in die er absichtlich gerückt war, wetzte Claus mit einem Stein den Aalspeer, während Hilda vor ihrem Gaste stand, die Hände demütig über der Brust gekreuzt, als wäre sie bereit, jedes Wort ihres geistlichen Führers gleich einer Predigt von der Kanzel herab auf sich wirken zu lassen. Draußen umarmte Nordsturm die Hütte und keuchte begehrlich um das geschüttelte Dach. Dadurch wurde es aber nur noch heimlicher in dem Raum. Und in dem Wohlgefühl über den warmen Platz vergaß der Pater sogar, daß weit hinter seinem Rücken der kleine strohblonde Zwerg auf einem Brett unter dem Rauchfang hockte, sichtlich bemüht, in der rötlichen Schwärze der Höhlung so weit wie möglich zu verschwinden. Der Magister war auch der einzige, der mit spöttischem Grinsen bemerkte, wie den jungen Claus bei seiner Arbeit mehr und mehr eine fliegende Unruhe stachelte, und er wußte auch, was seinen Zögling an brennenden Seilen von hier fortzog. Darüber freute er sich. Inzwischen lief das Gespräch ehrbar hin und wider. Es wickelte sich meistens so ab, daß die alten Fischersleute ihrem Beichtiger diese und jene wichtige Frage des Alltags unterbreiteten, um sich dann seinen Aussprüchen und Entscheidungen mit unbedingter Zustimmung zu unterwerfen. So hüstelte der Kranke seinem Gast auch dasjenige vor, was in den letzten Tagen dem schon in Gleichgültigkeit sich verlierenden Geist des Leidenden jählings ein sengendes Mal aufgedrückt hatte. Man denke nur, der Vogt hatte im Auftrage des Grafen den Wehrpfennig gegen die Freibeuter einziehen wollen, da er jedoch bei den Beckeras nicht genügend Münzgeld gefunden, so habe er den Ziegenstall geöffnet und eines der Tiere, die beste Milchgeberin, gepfändet und fortgetrieben.

 

Als der hinfällige Riese sich an diesen Raub erinnerte, da wurde der ehemals so mächtige Körper von einer Wut geschüttelt, daß der Armstuhl unter ihm zitterte. Der Schweiß tropfte dem Aufgeregten in den grauroten Bart, während er halb lallend fortfuhr:

»Schmach – da lag ich – da lag ich – und konnt' ich mich wohl rühren? Nein, ich schrie nur immer, immer nach Gott und den Heiligen. Auch die Ziege schrie – aber was nützt ein Bresthafter, dem das Wasser zudem in den Knien gurgelt – denn so hoch steht es bei mir schon –«. Der Alte warf sich herum und nickte in die Ecke hinein, wo sein Sohn heftiger an seinem Spieß rieb, dann keuchte er dankbar: »Nachmittags aber kam Claus, der Junge kam von der See, und da wurd's anders. Der lief dem Vogt nach und brachte unsere Ziege zurück. – Wir haben sie wieder. Geweihter«, schloß er erleichtert und hauchte sich in die erstarrten Hände.

»Wie geschah das?« fragte der Pater nachdrücklich.

»Hab' sie ausgelöst«, erwiderte Claus leichthin.

»Mit wessen Gelde?«

»Hab' es mir geliehen.«

»Von wem?«

»Von einem Freunde«, vollendete der Bursche trotzig, konnte es aber doch nicht hindern, daß sein Blick wie im Einverständnis zu dem Strohblonden auf dem Herd hinüberflog. Der rückte sich noch tiefer gegen die Wand des Rauchfangs.

Der Mönch schüttelte sinnend das Haupt. Dann sagte er mit seiner gütigen Stimme, die empfängliche Gemüter wie dasjenige Hildas sanft stimmte, gleich einem lindernden Fiebermittel: »Ihr guten Leute, hadert nicht. Es gilt allerwegen Opfer bringen, ein jeder nach seiner Kraft, wenn wir in der göttlichen Waage das Recht sinken sehen gegen das Unrecht und die Ordnung gegen die Zuchtlosigkeit. Darum steht auch geschrieben: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.«« Eingehüllt in den roten Feuerschein wie in den Mantel des Elia und selbst innig von seiner Lehre überzeugt, so urteilte der Mönch, und die alten Fischersleute sahen sein Wort in ihrer Hütte aufwachsen wie eine Wunderblume, deren fremden Glanz sie nicht begriffen. Da – entsetzlich – die Häusler fuhren zusammen, sie trauten ihren Ohren nicht –, da lachte etwas wider alle Ehrfurcht laut und zuchtlos mitten in die frommen Sätze hinein, und in der Ecke stieß der junge Nikolaus seinen Speer aufrecht in den Estrich, so daß das Eisen zitterte und summte.

»Was gibt's?« murmelte der Vater, dem vor Schreck die Sprache verging, während er sich mühselig aufzurichten suchte. »Warum lachst du?«

Der Sohn schüttelte kräftig an dem schlanken Schaft, und durchaus nicht eingeschüchtert, warf er blitzenden Auges zu dem Pater hinüber:

»Von wem stammen die törichten Sätze?«

»Töricht?« Vor dem Bruder Franziskus wurde es dunkel. Das Grauenvolle dieser Unbotmäßigkeit gegen den Himmel zertrümmerte ihm mit einem Keulenhieb das kluge Verständnis, das der Geistliche sonst seiner Umwelt und besonders der Jugend entgegenbrachte. Unmöglich schien es ihm, daß solch ein Frevel in einem menschlichen Hirn groß geworden sein sollte, unfaßlich, daß es gerade jener ihm lieb gewordene Bube war, der ihn äußerte. Gelähmt, seiner selbst nicht mächtig, antwortete er, um dabei doch zu empfinden, daß seine Worte ihm von selbst entliefen, ohne Hemmung, wie der Faden eines Knäuels, mit dem eine Katze spielt.

»Nikolaus«, verwahrte er sich voll Trauer und so leise, als ob er zu sich selbst spräche, »der Allmächtige nehme die Anfechtung von dir. Es ist unser Herr und Heiland selber, mein Kind, der diese Botschaft verkündete.«

Jetzt wandte sich auch die Mutter um. Ihre vorwurfsvollen Augen sowie die entsetzt vorgestreckten Hände bewiesen, sie erwarte, ihr Sohn würde von dieser Belehrung gefällt in die Knie sinken. Allein, was entdeckte sie? Um die Lippen des Jungen flog nur ein überheblich grausamer Schein, und nachdem er sich noch durch einen schnellen Blick des Beifalls seines zierlichen Meisters versichert hatte, holte er zu einem neuen, noch respektloseren Hieb aus.

»Hat der Heiland das selbst geschrieben?« forschte er ungläubig.

Ehrlich schüttelte der Bruder das seine Haupt. An den ergrauten Schläfenhaaren perlte ihm der Schweiß.

»Der Heiland schrieb nicht«, bekannte er, und wieder entfuhr ihm die Antwort gegen seinen Willen, wie ein Hund, der von einem Mächtigeren gelockt wird. »Seine Lehre ging durch viele Hände.«

»Dann taugt sie auch nicht mehr für eine späte Zeit«, bestimmte der Junge nun fest und mit furchtbarer Überzeugung.

»Nikolaus«, jammerte die Mutter, und in ihrem überwältigenden Grauen meinte sie, in der Ecke hocke ein höllischer Dämon, der mit seinem schwarzen Spieß gegen ihr Herz und das innerste Gefüge der Welt ziele. Und doch, der Dämon war noch immer schön und herrlich. Auch der Vater stieß jetzt ein wundes, banges Röcheln aus. Und nur der Mönch lehnte schweigend und starr auf seinem Stuhl, denn der Fels seines Glaubens wuchs unter ihm, so daß die wilden Strudel ihn nicht erreichten.

»Sündige weiter, Korah«, sprach er fest.

Von den Feuern des Kamins jedoch tönte ein spöttisches Kichern, und dadurch gereizt, brach es aus dem Abtrünnigen ohne jede Rücksicht hervor, die Leidenschaft, zu herrschen und andere nach seiner Überzeugung zu formen, schlug Flammen:

»Ist Gott reich oder arm?«

»Reich«, entgegnete der Geistliche schwach.

»Ist der Kaiser reich oder arm?« »Gott helfe dir – reich«, flüsterte der Priester gezwungen.

Da riß Claus seinen Spieß aus dem Estrich, streckte das Eisen dem Mönch starr entgegen, und während sein vorgeschobenes Haupt von der Glut des Herdes erreicht wurde, rief er mit düsterem Grimm und funkelnden Auges:

»So soll der reiche Kaiser den Armen geben, was der Armen ist.«

Eine Weile regte sich nichts nach dieser haßerfüllten Empörung. Die alten Beckeras schlössen nur aus dem aufwühlenden, zerfleischenden Ton, daß ihr Sohn, ihr einziges, liebes Kind, bei dem Versuch, an den Ketten zu rütteln, an denen die Erde vom Himmel herabhing, in die kalte, finstere Tiefe der Verdammten gestürzt sein müsse. Auch das erfaßten sie nicht genau, und doch zog es die armen Leute mit zwingender Gewalt, dem Verlorenen die machtlosen Hände in den Höllenspalt nachzustrecken. Noch blickten sie sich ratlos an, suchten Trost in ihren von keinem Verständnis erleuchteten Werktagsgesichtern, da erhob sich Bruder Franziskus in schwerer Fassung von seinem Sitz, und während er sich eng und abschließend in seine Kutte hüllte, schritt er gebückt und vor sich hinstarrend bis zur Schwelle. Hier aber minderte er seinen Schritt, und in das Holz der Bohlentür hinein sprach das zarte Männchen nach hartem Kampfe:

»Rufe mich, Claus, wenn die Not des Verlassenen dich zwingt. Der Erlöser wohnt auch in denen, die ihn verlästern. Du wirst es merken.«

Dann war er wie ein grauer Schatten entwichen. Und in der Hütte bangte das Schweigen.

***

Aber die frommen Augen des Zisterziensers hatten klar genug in die zuckende Seele dieses ringenden Menschenkindes geschaut, denn etwas von der heilsüchtigen Allbarmherzigkeit des Christenheitsstifters pochte wirklich schmerzhaft in jedem Pulsschlag des Knaben. Und das, was den Mönch abstieß, war einzig in jener lodernden Verranntheit zu suchen, die da begehrte, der Ausgleich und die Verherrlichung der Geplagten und Gepeinigten auf dieser Erde sollten sogleich, ja im nächsten Augenblick, womöglich durch wilde, durch niederbrechende Gewalt bewirkt werden. In den Fieberträumen des Gärenden hob sich immer mahnender eine gepanzerte, goldglänzende Faust – die seine –, die das Jammerdasein zurechtrückte, und seine Nächte wurden beständig durch die Qual gestört, ob er, der Schmutzbefleckte, Sinnenlustverzehrte, auch wirklich das Flammenschwert in die besudelten Hände nehmen dürfe. In solcher funkelnden Finsternis, wenn vor seinen weitgeöffneten Augen der alte Claus Beckera, die Mutter sowie Anna Knuth in goldverschnürten Purpurgewändern stolzierten, da weckte er häufig den neben ihn gelagerten Magister, um in nicht mehr erträglichen Zweifeln zu flüstern:

»Muß es denn ein Reiner sein, der die Herrlichkeit auf die Erde bringt?«

Allein den genießerischen Zwerg empörte derartig ernsthafter Zwiespalt, weil sein flatterhaftes Gemüt nie aufrichtig an eine Selbstprüfung gedacht hatte, und deshalb schlug er schlaftrunken nach der Hand des Freundes, ärgerlich dazu raunend:

»Laß mich in Frieden! Wer den leeren Bäuchen etwas zu fressen bringt, braucht die Schüssel nicht erst zu putzen.«

Dunkel und dämmriger wälzten sich Winternebel herauf, und an ihre graue Wand schrieb bereits eine Gespensterfaust unverständliche Zeichen des Kommenden.

Schicksalsstunde brach an.

Es war an einem naßkalten Novembernachmittag. Aus dem Dunst graupelte es in schrägen Linien herab, davon wurde der Rauch des Schornsteins qualmig um die Hütte herumgedrückt, und das Meer zischte glasige Eisstückchen gegen die Strandsteine. Um diese Stunde bedeckte sich Claus, während der Vater schlief und die Mutter geräuschvoll mit den Töpfen des Herdes lärmte, wie in zorniger Verbitterung mit seiner Lederkappe, hüllte sich hastig in sein Seehundwams und schlüpfte unbemerkt aus der Kate hinaus. Als er den weichen Hagelschlag um sich spürte, atmete er gierig und doch verstohlen die feuchte Luft ein, gleich einem Dieb, der sich auf schlimmer Bahn befindet. Wußte doch der Bursche, daß der zehnfach verabscheute Weg wieder sein Maul gegen ihn öffnete, um den Wanderer mitleidslos zu verschlingen. Seit einer Woche führte er den heißesten Kampf gegen seinen Hunger, gegen die abscheuliche Wonne, ein anderes Geschöpf zu entwürdigen und dadurch doch in beglückter Dienstbarkeit zu halten, aber jetzt, jetzt waren alle Widerstände in ihm mit einemmal erschöpft und gebrochen. In langen Sprüngen hetzte er von den Dünen zum Strand hinab – und richtig –, dort unten schob Heino Wichmann das Boot gerade zwischen den Steinen hervor. Dumpf, in abgehackten, mürrischen Worten begehrte der Bursche von seinem Lehrer, er möge heute das Netzelegen allein besorgen, weil er selbst – weil – kurz, gegen Morgen würde er wieder daheim sein. Und seltsam – ganz ohne das gewohnte spöttische Grinsen nickte diesmal der Kleine rasch und einverstanden, ja, es schien beinahe, als käme es ihm nicht ungelegen, allein und unbeobachtet die Meerfahrt unternehmen zu können. Eilfertig trug er dem Aufbrechenden Grüße auf, pries ihn glücklich, mitten im Winter runde Äpfelchen vom Baume schütteln zu dürfen – alles gleichgültig und ohne Anteilnahme – und wendete sich dann wieder doppelt emsig seinem Kahn zu. Aber Claus zögerte noch eine Weile. Denn für eine kurze Frist befreite sich der scharfe Verstand des Jungen von den üppigen Bildern, die ihn blind machten, und ahnungsvoll durchfuhr ihn die Erkenntnis, wie sehr sich in den letzten Tagen das Wesen des Kleinen verändert habe. Merkwürdig, über Heino Wichmann hatte eine treibende Unruhe Kraft gewonnen; Claus erinnerte sich, daß sein Freund jetzt nächtelang herumstreife, namentlich auf den Höhen der Insel, ja, der Fischersohn rief sich zurück, wie er den Magister an einem der verwichenen Abende heimlich auf einem ins Meer vorspringenden Steinhaufen beobachtet hatte, wo der Strohblonde ein unbegreifliches Feuerspiel getrieben. Er hatte dort ein Reisigbündel entzündet, und zur Verwunderung des Zuschauers wurden die brennenden Äste einer nach dem anderen von dem Einsamen in die Abendluft geschleudert. Was bedeutete das? Sollte hier irgend jemand ein Zeichen gegeben werden?

Als Claus ihn angerufen, war der Kleine erschrocken. »Was treibst du da?« hatte der Junge gerufen. Allein statt einer Antwort hatte der Aufgestörte den glimmenden Bund ins Wasser gestoßen, die Achseln gezuckt und verärgert zurückgegeben:

»Meinst du, daß ich es hier noch lange vor Langeweile aushalte? So störe mich wenigstens nicht, wenn ich die dummen Fische anmutig ergötze.«

Damit war er von den Steinen herabgesprungen und hatte sich wortlos in die Hütte getrollt. In seinem Zögling aber nistete seitdem der Verdacht, Heino Wichmann, dieses ihm unentbehrliche Gefäß krausesten Wissens, dieser Galgenstrick, in dem die gemeinsten und liebenswürdigsten Eigenschaften bunt durcheinander wirbelten, ach, dieser unstete Wandervogel spanne gewiß bereits die Schwingen zum Flug ins Unbegrenzte. Und darüber verzehrte sich das Herz des anhänglichen Jungen, das neidisch nichts zu opfern vermochte, wovon es erst einmal Besitz ergriffen. Sollte er nun vielleicht allein zurückbleiben, um abermals zwischen den alten Leuten in Dumpfheit und Knechtschaft zu versinken?

 

Stunden waren bereits seit dem Zusammentreffen verflossen, nach zügellos verbraustem Verschwenden hing Claus ernüchtert und voll Selbstverachtung auf dem elenden Bettgestell in der Kammer der Becke, und das Gefühl des Ausgestoßenen, des ohne Zweck und Richtung zum Gemeinen Verurteilten belud ihn mit solchen Gewissensängsten, daß er den Kopf in beide Hände stützte und vergraben vor sich hinstarrte. Was sollte nun folgen?

Wenn Heino Wichmann wirklich eines Morgens verschwunden war, würde dieses elende Weib dann nicht die einzige sein, die ihn über die aussichtslose, ewig gleichbleibende Fron eines Unfreien hinwegtäuschte? Also nur der Ekel oder die grelle Verwüstung blieben ihm übrig, wenn er die Qual eines an seine Scholle gefesselten Knechtes vergessen wollte! Fort? Flucht? Ja, wenn nur ein Sasse nicht zu jeder Bewegung der Zustimmung seines Herrn bedurft hätte. Warum war er hierzu verdammt? Gerade er? Und gab es hier nicht noch unzählige andere, die diesem Fluch verfallen waren? Mit einem heftigen Ruck fuhr er in die Höhe, und so düster und drohend funkelten seine Augen, daß die Becke, die trällernd und hochmütig vor ihm auf und ab tänzelte, befremdet innehielt. Sobald ihr die Selbstbesinnung wiederkehrte, lächelte sie eigentlich über den unreifen Wildling, ja, sein gärendes Wesen sowie das bunte Gefieder seines Geistes reizte die Denkfaule außerhalb seiner Umarmungen höchstens zu Spott und Verhöhnung.

»Geh nach Hause, Büblein«, meinte die Dirne deshalb überlegen und schnippte mit dem Finger gegen ihre vollen Lippen, »damit du deine Mutter nicht störst. Auch meine Alte könnte aufhören zu schnarchen, wenn du die Tür wieder so zuknallst.«

Geräuschlos öffnete das Mädchen den Verschluß der Kammer, um in das Schenkzimmer zu spähen. Allein dort draußen schwebte alles im Halbdunkel, von dem Tisch flackerte nur eine trübe Ölleuchte, und am Herd zusammengesunken schlief ein buckliger Querpfeifer, der am Abend vorher den Gästen seine Stückchen aufgespielt. Jetzt ruhte sein pockennarbiges Haupt auf der Herdplatte.

»Du kannst gehen«, riet die Becke noch einmal, nachdem sie sich von dem freien Ausgang überzeugt. Allein wie stockte mit einem Male ihr herablassender Ton, als ihr gleichgültiger Blick sich jetzt unvermutet mit dem ihres Besuchers verfing. Gebannt blieb sie an der Schwelle, und ihre zitternde Hand nestelte unwillkürlich das Linnen an ihrem Halse enger zusammen.

»Was siehst du mich so an?« stammelte sie ziellos und in aufspringender Feigheit. »Ich habe dir nichts getan.«

»Wie sehe ich dich denn an?« forschte Claus, den selbst, gleich einem Ertappten, ein kalter Schrecken aus seinen Gedanken gescheucht hatte.

Das vollbusige Weib jedoch zitterte noch immer.

»Man möchte fast meinen«, suchte sie ihre Unruhe hinter einem frechen Lächeln zu verstecken, obwohl ihre fröstelnden Wangen sie Lügen straften, »man möchte fast meinen, du wolltest mir an die Kehle.«

Es sollte wie ein Scherz klingen, auch reckte das Mädchen alle Glieder, als wollte sie die Macht herbeirufen, die ihr noch stets geholfen. Allein das ernste Antlitz des Jungen und vor allem seine vernichtenden Augen, sie ließen ihr das sichere Selbstgefühl der Verworfenheit nicht mehr zurückkehren. Und dann – hörte sie denn richtig? Wurde sie nicht vielleicht doch durch einen brenzlichen Spuk getäuscht? Nein, nein, jetzt – es sprang ihr in die entsetzten Augen, der verwünschte Bursche dort griff wirklich in das Gewühl der Betten, preßte den Strohsack unbarmherzig zusammen und flüsterte heiser vor innerer Entwürdigung:

»Höre, Becke, es wäre für uns beide besser gewesen, wenn ich dich vorhin in den Kissen erwürgt hätte.«

Sie schrie nicht auf, sie bebte auch nicht länger, nein, vor dieser wilden Drohung, deren innere Wahrheit die Erfahrene nicht einen Moment bezweifelte, gewann die Dirne vielmehr ihren alten, rohen Übermut zurück. Auch fiel ihr ein, daß sie ja nur zu rufen brauche, um den Schläfer dort drinnen herbeizuwinken. Finster straffte sie die Arme. Dann setzte sie sich ihrem Gast gegenüber auf ein Klappbrett, das sie aus der hölzernen Wand herabließ. So nahe befanden sich die beiden, deren Blut plötzlich verzweifelte Feindschaft vergiftete, daß sich ihre Knie beinahe berührten. Dann stieß die Becke mürrisch und doch von einem lichteren Strahl getroffen hervor:

»Tätst auch was Recht's, ein Mensch, wie mich, umzubringen.«

Es mochte wohl die dumpfe Nachdenklichkeit in dieser Anklage sein, die den Burschen umstimmte. Herrisch bewegte er die fein geformte Hand, als ob er das Wort nicht gestaltet hören möchte, dann blickte er sich verwundert im Kreise um. Zum ersten Male musterte er entzaubert den kahlen Hausrat, das elende, zerfetzte Lager, die grünschimmlige Feuchtigkeit der Wände sowie die qualmige Leuchte zu seinen Häupten. Auch die geschminkten Wangen der Becke stachen ihm grell entgegen. Wie vor etwas Unbegreiflichem schüttelte Claus den Kopf, dann strich er sich schwer atmend die Locken aus der Stirn. Als aber sein Blick notgedrungen über seine zusammengesunkene, vor sich hingrübelnde Gefährtin streifen mußte, da packte ihn das Zermalmende dieser Stille mit verzweifelter Macht.

»Sprich was!« herrschte er so bedrohlich, daß die Becke emporwankte.

»Was soll ich schon wieder sprechen?« versetzte sie mürrisch.

Der Junge würgte die Hände umeinander, da er sonst für sein Begehren kaum einen Ausdruck fand. »Wie du so – so eine geworden bist?« platzte er endlich in grimmiger Pein heraus. »Wie du so eine geworden bist?«

Da starrte die Dirne ihren Bedränger sprachlos an, denn gerade seine zarte Anbetung hatte sie bisher zum Erbarmen gegen dieses halbe Kind gezwungen. Unmutig entblößte sie ihre Zähne, als enthielte sie sich kaum, durch einen unvermuteten Biß sein Gesicht zu zerhacken. Aber allmählich schwand die Feindseligkeit aus ihren grünblauen Augen, und sie brach in ein rohes Gelächter aus.

»Bist mir ein rechter neugieriger Spatz«, spottete sie unsicher, aber dabei klang doch eine grobe Verwunderung in ihrer Stimme mit. »Potz Marter, ich fraß wahrhaftig selbst von dem alten Zeug. Willst es wirklich wissen? Gib acht, Büblein, hier kannst du was lernen!«

Mit einem höhnischen Lächeln lehnte sie sich zurück, krampfte die Hände in ihrem Schoß und dann schleuderte sie ihm ihre Dirnengeschichte ins Gesicht, abgehackt, boshaft, anmaßend, als wär's eine lächerliche Überschätzung von solch einem Knäblein, jemals die Wege ihrer Zunft überschauen zu wollen.

»Ja, du Milchbrei, was zehn Mäuler bei einem armen Hufenbauern fressen, davon hat dir deine Mutter hinter dem Ofen gewiß nichts erzählt? Sieh, ich bin solch ein Maulwerk! Auf unserem Äckerlein verhungerte gerade eine einzige Kuh, aber was half's? Der Fetzen Land ist noch nicht lumpig genug, der Edelmann aus der Nachbarschaft muß noch sein gnädiges Auge darauf werfen. Da wird denn die Gegend vollgeschrien von Raub, Diebstahl und Einbruch, bis das Bäuerlein eines Tages im Turm des Junkers seine eigenen Knochen annagt. Kaum läßt man freilich das Gerippe frei, so läuft es vor das Gericht des Herzogs von Wolgast. Die zehn Mäuler wollen nun einmal gestopft sein, und irgendwo wird das Recht sitzen! Nicht wahr, es kann doch nicht aus der Welt fortgelaufen sein? Zwei Jahre dauert der Streit, zwei Jahre, bis einem die Augen vor Heulen und Angst blind geworden sind. Dann, horch, dann haben die Amtleute, Schreiber, Ratsherren und Vögte den Rest des Äckerchens aufgefressen. Heidi, da steht man nun nackt und bloß auf der Straße, und die Nachbarn werfen einem die Tür vor der Nase zu. Was nun, Cläuslein, was nun? Ich will es dir sagen. Wozu hat man den gnädigen Herren ihr Handwerk abgelernt? Man wird es eben auch einmal versuchen. In Wolgast gibt es einen reichen Bäcker, ich selbst hab' die Gelegenheit ausgekundschaftet, der erhielt zur Nachtzeit unseren Besuch – und dann –«