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Claus Störtebecker

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»Wohlan, da es für eine Änderung zu spät ist, warum gibst du dich mit fruchtlosen Wünschen ab? Ich weiß bessere Arbeit für dich. Laß dich anwerben, Störtebecker.«

»Es ist nicht zu spät.«

»Wie?«

Wer sprach hier? Ging es wirklich wie junges Erwachen durch den Raum? Margareta erschrak bis ins Innerste. Der Seeräuber hatte beide Armlehnen ihres Stuhles umklammert, nun beugte er sich über sie, als ob er sie gefangennehmen wollte. Sie wußte nicht mehr, ob sie ihm seine Worte vom Munde ablas oder ob sie ihr aus den wilden, glühenden Augen bleiflüssig entgegenschmolzen? »Königin«, stieß sie sein heißer Atem, »die Zeit ist da. Du stehst vor deiner Entscheidung. Aber künftige Geschlechter werden dich dafür anbeten.«

»Was willst du?« murmelte das Weib entsetzt, während sie sich immer tiefer in ihren Stuhl verkroch. Und ihre Hände vorstreckend, stammelte sie unwillkürlich: »Tu mir nichts.«

Das dunkle Gesicht ruhte unverändert über ihr.

»Du bist sicher, Königin, denn du wirst ja die in Haß und Neid, in Brudermord und Unrecht, in Hochmut und Verleumdung eiternde Erde endlich reinigen! Kain wirst du verjagen und damit das siebente Tagewerk schaffen.«

»Laß mich, du fieberst. Ich verstehe dich nicht.«

»Doch, doch, du bist das Werkzeug, weil ich dir jetzt mein Geheimnis preisgebe. Mein Werkzeug wirst du sein. Höre! Deutliche Zeichen wallen durch die Welt. Was treibt die Geißelbrüder zu ihrer blutigen Selbstpeinigung durch deine Städte? Zu welchem Ziel schwärmen die Scharen halbnackter Kinder durch die Felder und fallen wie Heuschrecken über die Frucht? Welcher Wahnsinn, welche zitternde Unrast jagen Knechte und Herren von dir fort gen Sonnenaufgang? Ein ungeheures Suchen hat sie ergriffen, denn sie alle fühlen, daß die Erde den wühlenden Ekel nicht mehr länger erträgt. Ein anderes will sich gebären. Nun stehe auf, Königin, rufe die Menschheit endlich, endlich nach jahrtausendelangem Irrtum zu neuem Schöpfungsmorgen zusammen. Sieh, um mich her habe ich die Unbändigsten der Ausgestoßenen und Verlassenen gesammelt. Ihr Atem ist Haß, ihr Wort ist Neid, ihre Sehnsucht ist Mord. Diese Verzweifelten lade von ihren unsicheren Pfaden ans Land, in ein Land der Verheißung. Ungezählte Hufen liegen dir ungenützt, laß sie mich in gleiche Lose für die neuen, für die erstaunten Menschen einteilen, laß mich ihnen verkünden, daß Pflug und Egge, Stier und Roß fortan ihrem großen, glücklichen Bunde gemeinsam gehören, laß sie sich selbst richten und schützen, wo es nichts mehr zu richten und zu schützen geben wird, denn dann, o Königin, aber auch nur dann wird den Beseligten die Göttergewißheit aufgehen, daß hoch und niedrig verschwand, weil der Mensch, der ursprünglich gute und reine Mensch, wieder an seinem unschuldigen Anfang angelangt ist. Das will ich vollenden, das muß sich vollenden, horch, bräutlich schmückt sich schon die Erde zum Bund mit dem frohen Menschen.«

In ein markerschütterndes Jauchzen wandelte sich das letzte, der junge Seefahrer stand da, angestrahlt von der Röte des Morgens, wie er Erwählten nur einmal aufzugehen pflegt. Die Rechte herumgeworfen zu dem Knauf des Schwertes, als gelte es nur noch, eine Schar Siegestrunkener, Begeisterter jenen kurzen Weg zu führen, den seine sengenden Augen förmlich aus dem Nebel hervorlockten. Margaretas Züge jedoch hatten sich verzerrt, feindlich öffnete sich ihr breiter Mund, ihre großen Zähne schoben sich vor zum Biß gegen einen ihr Gesicht umwindenden Faden. Nur eins hatte sie erfaßt, aber dies mit der ganzen Schlauheit des Weibes wie der Machthaberin, nämlich, daß der Boden unter ihr wanke, weil der von einem Wahnwitzigen verkündete Bund ihrer und ihresgleichen nicht mehr bedürfe. Vergessen war ihr ursprünglicher Plan, hingemäht von der Schärfe ihrer eigensüchtigen Ansprüche, die Unmöglichkeit eigenen Entsagens entfachte ihr nichts als einen bitteren, giftigen Haß. Kaum sah sie daher ihren Sitz freigegeben, als sie emporsprang, um sich gleich darauf des kleinen Hammers zu bemächtigen.

Mit einer scharfen, ätzenden Ruhe sprach sie sodann:

»Sage mir, Claus Störtebecker, sind deine Spießgesellen bereits von dir eingeweiht?«

Vor dem Hohn der Anrede erwachte der Admiral; trotzig setzte er seinen gewappneten Fuß auf die Stufe des Sitzes und ließ die Rechte nicht von der Waffe. »Königin«, warnte er grollend, »das, was mir die Nacht und das Elend in langen Jahren anvertrauten, das wissen nur du und ich.«

Die Königin erkältete sich immer mehr.

»Und mit einer Bande von Dieben und Räubern willst du die ewige Gerechtigkeit begründen?«

Der Freibeuter entfärbte sich. Wild schrie er hinauf: »Auch Rom wurde zu des Gottes Mars Zeiten von Dieben und Räubern geschaffen. Aber Verantwortung, Arbeit und Gemeinsamkeit, das sind die Bausteine eines edleren Geschlechtes.«

»Und wenn sich meine übrigen Lande von der Empörung anstecken ließen? Wenn sie anfingen, das lang Erworbene anzugreifen, die Ämter zu verjagen, den Gesetzen Hohn zu sprechen? Meinst du, das Blut der Zufriedenen sei weniger heilig als der Fiebersaft der Mordbrenner?«

»Weib, deine Augen deckt Blindheit«, tobte nun der Störtebecker außer sich. Schaum trat ihm vor die Lippen, drohend schüttelte er die Faust. »Du siehst nicht, daß du dich selbst nur von Raub und Diebstahl mästest.«

»Und du bist ein Feind des Menschengeschlechtes«, sagte Margareta unbewegt. »Ich bereue, daß ich dir mein Antlitz zeigte. Hebe dich von mir. Und fortan sei Feindschaft zwischen uns, bis du ausgerottet bist.«

Da stieß der Admiral sein helles, schmetterndes Gelächter aus, dann aber verbeugte er sich plötzlich tief.

»Es sitzt wieder einmal eine Leiche auf dem Thron«, wies er mit ausgestreckter Hand, »es wäscht wieder einmal ein Lauer seine Hände in Unschuld. Aber bei den Schwären und Lumpen der Bettler sei's geschworen, ich will für ein königlich Begräbnis sorgen.«

Kein weiterer Abschied. Er riß den Vorhang auseinander und trat hinaus.

Da – dicht hinter den Falten stand es wie ein weißes Bild. Eine schneekalte Wolke stand dort, in der es bebte und blitzte. Ein paar wirre, von frommem Wahnsinn geblendete Augen irrten hinter dem stürmisch Enteilenden her. Der stutzte, irgendwo mußte er eine ähnlich behütete Puppe des Wohllebens schon einmal erschaut haben, und frech und unverschämt winkte er ihr zu, bevor er die enge hölzerne Treppe hinuntersprang. Aber auch die Königin hatte hinter dem geöffneten Teppich etwas Fremdes entdeckt. Heftig erzürnt, noch geschüttelt von den umwälzenden Eindrücken des eben Vergangenen, teilte die Regentin mit einem Riß den Vorhang, um dann sprachlos auf der Schwelle anzuwurzeln.

»Was ist das?« rief Margareta bebend vor unterdrückter Wut, indem eine fahle Blässe über ihre Wangen zog, denn die niederschmetternde Gewißheit sprang sie an, daß der Ausgang ihres zweifelhaften Ringens nun nicht mehr der Vergessenheit anheimfallen würde. »Gräfin Linda, ich merke, Ihr vertragt nicht die Luft des Palastes. Wir sind um Eure Gesundheit besorgt. Verlaßt auf der Stelle die Stadt und wartet ab, was ich weiter zu Eurer Heilung beschließen werde. Keine Widerrede – geht –, ich mag Euch nicht länger.«

Und nachdem die weiße Wolke Schritt für Schritt, traumwandelnd, hinter der schmalen Pforte verschwunden war, da stürzte die Königin zurück und hieb besinnungslos auf die silberne Platte. »Schafft den Kanzler zur Stelle«, herrschte sie den eintretenden Wäppner an. Es klang mehr wie ein bösartiges Kreischen.

Mit beiden Armen lag sie über den Tisch gebettet, verworren kratzten ihre Nägel auf der Platte herum, als das bunt geschmückte Gerippe ihres Ratgebers endlich vor sie schlich. Sie hob nicht das gesenkte Haupt, ohne Gruß, jedoch begleitet von einem widerspruchsvollen, unbegreiflichen Lächeln, stieß sie hervor: »Sammelt Friedensschiffe, Ihr selbst und alle Edlen rüstet Wäppner. Stiftet einen Bund der Hansischen, schreibt an den Hochmeister von Preußen, keine Ruhe bei Tag und Nacht, bis die Seepest vertilgt ist. Dies ist unsere Bestimmung. Wie eine beißende Fliege sticht sie uns in die Augen.«

Und voll Entsetzen sah der betroffene alte Mann, wie der schöne Busen seiner Herrin mitten unter einem hämischen Lachen von krampfhaftem Schluchzen geschüttelt wurde.

III

Es war an demselben Abend. Auf Burg Ingerlyst an der schmalsten Stelle des Öresund, eine gute Rittstunde von Kopenhagen entfernt, saß Gräfin Linda in der Ausbuchtung ihres niedrigen, ganz aus dunklem Kiefernholz gezimmerten Saales und grübelte verloren und weit entrückt auf das Anprallen der dampfenden Schaumketten hinab. Ein ununterbrochenes dumpfes Donnern stieg zu ihr auf, und hinter dem pfeifenden Seewind zitterten die Lichter von der jenseitigen schwedischen Küste. Das stille, blonde Mädchen weilte nicht allein. Ihr gegenüber auf der zweiten Seitenbank lehnte ein untersetzter, derbschrötiger Mann, dessen überlegtes, bartloses Antlitz sich kantig aus dem Otterkragen seines schwarzen Reisemantels abhob, da Herr Nikolaus Tschokke, der junge, neugewählte Bürgermeister von Hamburg, noch in dieser Stunde zu Schiff nach Falsterbo zurückzukehren gedachte, wo der Friede unterzeichnet werden sollte. Und er hatte nur deshalb immer von neuem gezögert, seinen Besuch endgültig abzubrechen, weil er bisher diesem stolzen, weißen Jungfrauenantlitz gegenüber nicht den rechten Mut gefunden, dasjenige zu enthüllen, was ihn in Wahrheit hierhergetrieben. Auch beengte ihn nicht allein der seltsam abwesende Schein, der bisweilen über den stahlblauen Augen des Mädchens hing, sondern er fühlte sich auch beeinträchtigt durch die Gegenwart eines Zeugen. Am anderen Ende des kahlen Saales nämlich saß dicht vor dem hohen Steinkamin ein geistlicher Mann in einer braunen Reisekutte, und von Zeit zu Zeit streckte sich dort eine seine weiße Hand den brennenden Buchenklötzen entgegen, die den Schauer des kühlen Frühlingsabends vergeblich zu mildern suchten. Unrastig pustete oft ein Windstoß durch den Rauchfang herunter, und dann hüstelte der Abt Franziskus vom Rügener Kloster Cona kurz und gestört, um sich gleich darauf doppelt emsig der vorgeschriebenen Andacht hinzugeben, die er aus einem kleinen geschriebenen Brevier vor sich hin psalmodierte. Die Äbte des Conaer Klosters gehörten seit alters zu den Gastfreunden auf Ingerlyst, und dieser, der gleichfalls von Falsterbo herübergekommen, hatte zudem um ein Nachtlager gebeten, weil er am morgigen Tage der Ehre teilhaftig werden sollte, der Königin vorgestellt zu werden.

 

Friedsam hing die seine, schmiegsame Gestalt in ihrem Armstuhl, versenkt in Andacht, trocken und steif knisterten die harten Seiten des Büchleins, sobald sie umgewandt wurden, und gerade dadurch war Herr Nikolaus Tschokke allmählich in seiner kühlen, kalkulierenden Überzeugung bestärkt worden, daß er aus jener Entfernung wohl keinen Lauscher zu fürchten habe. Auch hatte den jungen, weltkundigen Bürgermeister ein Blick auf die weiß gedeckte Tafel in der Mitte des Saales darüber belehrt, daß man die Zeit der Schloßherrin nicht ungebührlich in Anspruch nehmen dürfe.

So hatte er denn ein paarmal an der schmalen Stehampel gerückt, deren niedriges Olflämmchen zwischen ihnen schwankte, um endlich würdig und gemessen, ganz so, wie er es sich auf der langen Fahrt überlegt, seine Schicksalsfrage in Ehrbarkeit und redlichem Selbstbewußtsein an das schöne blonde Weib zu stellen.

Nun wartete er voll Ruhe und Anstand auf ihren Bescheid, und das kantige Bürgergesicht mit der kräftigen Hakennase hütete sich, irgendwie Bewegung zu verraten, obwohl es ihn wundernahm, daß die Blonde ihre Augen auf ihn richtete wie auf ein fremdes, ihr unverständliches Wesen.

Weit ausholend hatte der Patrizier ihre beiderseitigen Beziehungen zueinander abgewogen. Und durch Linda lief ein Schauer der Erinnerung, als nun jene Begebenheiten, die sie stets lebendig umstanden, in der Schilderung des Kaufherrn ein so sachlich aufgezeichnetes Gepräge annahmen. Es durchfröstelte sie, weil sie ihr Schicksal, losgelöst von sich, bei einem Fremden gebucht fand.

Trocken und ohne Umschweife, wie aus einer Chronik, hatte ihr der Hamburger das Verbluten und Zersplittern ihres Geschlechtes geschildert. Ein harter, unbeugsamer Stamm, in nordischer Blutrache und Familienfehde verwildert und von seinen eigenen Königen häufig als Empörer an den Block geführt. In roten Strömen verbrauste allmählich die Lebenskraft der unbändigen Sippe, bis sich bei den letzten zwei Grafen von Ingerland, bei Lindas Brüdern, die böse Erbschaft nur noch in Landhunger und wüste Raubsucht verlor. Ein schreckhaftes Bild aus Feuerlärm und glimmender Asche stieg vor der Lauschenden auf. Ihre Brüder hatten sich nicht gescheut, die eigene Mutter, die mit der unmündigen Tochter zurückgeblieben, auf ihrem nordischen Witwensitze bewaffnet zu überfallen, ja, den beiden rohen Wichten, die mit ihrem Christentum nur Spott trieben, wäre wahrscheinlich das untilgbarste Verbrechen nicht erspart geblieben, hätte nicht ein hansischer Gastfreund die beiden Frauen in grausiger, branddurchlohter Nacht schnell entschlossen auf seinem Handelsschiff geborgen. Freundlich führte der Retter die Verarmten in sein stattlich Haus nach Hamburg, und hier unter dem Schutz des ehrsamen, herzenswarmen Aldermann Hinrich Tschokke, des Vaters des Bürgermeisters, erwachte die kleine Flüchtige erst zum Bewußtsein einer bürgerlich behüteten Lage. Fast ungläubig sah sie die regelmäßige Arbeit in den dämmerigen Kontoren des Hauses, denn Herrn Hinrich eignete die blühendste Brauerei der Handelsstadt. Mit großen Augen verfolgten die Frauen aus den niedrigen, vergitterten Fenstern die bunten Umzüge der Zünfte und Kaufmannschaft, und sie lernten auch etwas von dem Stolz verstehen, mit dem die Häupter der regierenden Familien die Angelegenheiten ihres Gemeinwesens ordneten. Und doch – die Seele der Heranwachsenden blieb dem Anprall des frischen, tätigen Lebens um sie herum verschlossen. Im Kern ihrer festgefalteten Blüte nistete zu sehr das Entsetzen, das wie ein Wurm in ihre Kindheit gekrochen, und ihr banges Gemüt löste sich nicht von dem frühen Eindruck, daß Ungerechtigkeit und Gewalttat alle Macht auf Erden an sich gerissen, und wie der einzelne schutzlos umherirre, um sehnsüchtig nach einem Retter auszuspähen. Ein krankhaftes Mitleid mit den Bresthaften, Armen und Beladenen hatte das schweigsame Kind ergriffen, und ihre schönsten Stunden nahten, wenn sich an Feiertagen unter dem mächtigen Ahorn auf dem Hofe des Handelshauses die Kranken und Bettler um den dort sitzenden Aldermann versammelten, um Speise und kleine Geldgaben zu empfangen. Dann war es Sitte geworden, daß Linda selbst die irdenen Näpfe herumreichte, und nur in diesen Augenblicken erhellte sich ihr weißes, vergrämtes Antlitz zu einem beseligten Lächeln, und der junge Nikolaus, der Sohn des Hauses, fand dann, daß die fremde Adelstochter mit ihren blonden Flechten unter dem Lumpenvolk ein mildes Licht verbreite, gleich einem schönen Bernsteinschmuck. Als Fünfzehnjährige war sie endlich, nachdem in der Schlacht von Fallkiöpping Lindas beide Brüder als Aufständige gegen die Königin ein wildes Ende gefunden hatten, aus dem deutschen Hause geschieden. Jetzt hielt es nämlich die kluge Margareta für angebracht, die Verwaisten mütterlich zu betreuen. Für die eingezogenen norwegischen Güter des Hauses wurde ihnen Burg und Herrschaft Ingerlyst eingeräumt, und hier, dicht unter den Augen der Königin, saß nun nach dem Tode der Mutter der letzte Sproß des dahingewelkten Geschlechtes, weltscheu und abgeschieden als Hofdame der Regentin. Aber heimlich verlangte ihr verwundetes Innenleben noch inniger als früher nach dem unauffindbaren Trost gegen die täglich sich offenbarende Mißachtung von Recht und Sitte, und fast verletzt wies sie den Gedanken von sich, etwa durch eine Vermählung mit einem rauhen, erwerbsüchtigen Gebieter noch tiefer in die Händel und Ungerechtigkeiten dieser Welt verstrickt zu werden. Näher und näher rückte ihren sehnenden Blicken die Klosterpforte mit dämmernden Schatten, und ihr Fuß schritt jener Grenzschwelle immer willfähriger entgegen. Bis heute. Da – war es möglich? – Heute hatte ihr traumbefangener Tritt zum erstenmal gestockt, gezögert. Welch eine heilig-wüste Vision, welch eine wetterleuchtende Wolke hatte ihr ganzes Denken und den noch kurzen Weg umnebelt? War es Wirklichkeit oder hatte ihr bang verschlossenes Gemüt selbst jene unheimlich blutige Gnadengestalt geboren? Nein, nein, während sie hier saß, um fast gedankenlos auf die ihr unbegreifliche Bitte des Hamburger Jugendfreundes zu achten, da begann unten aus dem Gedröhn der Strandwellen von neuem diese heiße, markdurchzitternde Stimme zu sprechen, und bald wurde für die Lauschende ein Ruf daraus, der über die Welt hinhallte, um herrisch von tauben und verstockten Seelen Erbarmen für Millionen Geknechteter zu heischen. »Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer.« Aber bei jedem Wort pfiff gleichzeitig ein Schwertstreich durch die Luft, und das höhnische Gelächter des Räubers und Mordbrenners mischte sich drein. Eine unschuldige befreite Welt wollte auftauchen aus einem kreisenden Meer von Blut.

Ihre Sinne verwirrten sich, ihr ganzes Wesen neigte sich entgeistert über einen Abgrund von Höllenfeuer und Himmelslicht. Und während sie sich irgendwo festzuklammern suchte, drang mit größter Klarheit die Werbung des ehrsamen Bürgers an ihr Ohr, in dessen wohlbestelltem Hause Ruhe und Sicherheit wohnten, und sie mußte doch mit Schrecken auf das Klopfen ihres aufgescheuchten Herzens hören, das sich in altererbtem Edelingshochmut vor der Versorgung in dem Krämerkontor sträubte.

Wie um Schonung flehend, schlug sie ihre großen blauen Augen gegen den Mann in der schwarzen Ratsherrntracht auf.

Herr Nikolaus Tschokke jedoch hatte inzwischen hinter dem flackernden Lichtlein der Stehampel aufmerksam die Veränderung in den Zügen der jungen Freundin geprüft. Auch er hatte sich noch einmal wiederholt, was in langen Beratungen mit seinem Vater sorgsam erwogen war, wie wichtig nämlich die Verbindung mit dem uralten Grafenstamm für die aufstrebende Patrizierfamilie werden könnte. Die Tschokkes gehörten nicht zu den ritterbürtigen Geschlechtern der Stadt, sondern, da sie durch Reichtum und Handelsunternehmung heraufgekommen waren, so mußte es ihnen nützlich werden, sich von außen ihre Ansprüche bestätigen zu lassen. Dazu aber eignete sich nach der Meinung des greisen Aldermanns keine bessere als Gräfin Linda von Ingerland, da sie nur mißtrauisch beargwöhnt neben der dänischen Usurpatorin leben durfte und zudem durch die Bande der Dankbarkeit an die frühe Zuflucht ihrer Jugend geknüpft war.

Als aber jetzt das in der Zugluft wehende Licht das stolze weiße Antlitz des Mädchens bestrahlte, da fühlte der Bürgermeister wieder mit Verwunderung die einstige Ehrfurcht vor der fremdartigen Edelingstochter.

»Ich wollte Euch nicht erschrecken«, lenkte er endlich ungewiß seinem Ziele entgegen. »Ihr solltet nur wissen, wie weit das alte Haus am Mönkedamm seine Tore für Euch öffnen würde. Es hat jetzt eine gar lustige Malerei vom Giebel bis zur Einfahrt erhalten«, setzte er lobend hinzu, »Schalksnarren und Engelein tanzen um ein Bierfaß. Und was mich und die Meinen angeht, so hat die Zeit Euer Angedenken nicht verwischt. Nur eines hat sich verändert« – er rückte sich jetzt bedachtsam zurecht, und zugleich schlug er den Mantel zurück, damit sich die schwarze Ratsherrntracht mit den ziegelroten Aufschlägen deutlicher offenbare –, »ich nehme nunmehr, wie Ihr seht, in dem Stadthaus den ersten Sitz ein, und ich darf wohl sagen, es möchte mancher Fürst für die, so ihm lieb sind, weniger sorgen können als ich. Wollt auch dies bedenken, Gräfin Linda, denn die Zeiten sind rechtlos und unsicher, und die Ordnung gedeiht fast nur noch hinter sorgsam behüteten Stadtmauern.«

Als er das letzte vorbrachte, da drang zwischen die klare Vorbereitung doch eine raschere Wärme hindurch, denn das blasse Mädchenantlitz in seiner Scheu und Ratlosigkeit hatte das Mannesbewußtsein des festen Bürgers erregt, und so wagte er es, ohne weiter an den Zeugen zu denken, seine Rechte auf die schmale Wachshand zu betten, die sich gerade gegen die Ampel ausstreckte. Die kühlen Finger blieben auch ruhig in den seinen, das kornblonde Haupt jedoch wandte sich, wie gezogen, der Nacht entgegen, und jetzt merkte ihr Gastfreund erst, wie emsig das junge Weib das wüste Tosen der Wasser zu enträtseln strebte. Schlag auf Schlag krachte die Brandung auf den flachen Strand, und Linda zitterte, ob auch ihr Gefährte die gewaltige Stimme vernehme, die von unten heraufbrüllte: »Horch, bräutlich schmückt sich schon die Erde zum Bunde mit dem frohen Menschen.« Dann Stille – und darauf wieder das gräßliche, aufrührerische Gelächter. Nein, nein, dort draußen lauerten Verbrechen und Wahnsinn, und hier – hier drinnen?

Wie zur Flucht bereit zog sie ihre Hand zurück, und während sie sich verstört gegen das Fenster kehrte, gab ihr das Entsetzen über sich selbst das Nächstliegende ein.

»Ihr wißt ja nicht– –«

»Was?«

»Ich – ich habe schon gewählt.«

»Gräfin?«

So wenig hatte der Kaufherr mit einer solchen Möglichkeit gerechnet, daß ihm zuvörderst der Sinn ihrer Weigerung verschleiert blieb. Aufrecht verharrte er vor ihr auf seiner Bank. Die Blonde aber tastete nach dem Kreuz, das ihr noch immer über ihre weiße Gewandung herabhing, und hob es empor, ihrem Freunde zur Erklärung, sich selbst aber als einen Wegweiser aus Tumult und fratzenhaftem Taumel.

»Hier – hier«, klammerte sie sich an das Stückchen Holz fest, als ob es ihr immer merklicher zu einem harten Balken aufwüchse, hinter dem sie sich verstecken könnte, »hierhin laßt mich gehen. Ich tauge nicht in Eure Welt. Und nicht in die eines anderen. Keinem würde ich behilflich sein können und ihm nützen. Denn, Nikolaus, Ihr mögt es wissen, ich fürchte mich vor den Menschen, da sie nichts als Übles sinnen und keiner dem anderen zu Freude und Wohltat bereit ist.«

Keiner? Sie stockte. Denn aus der Nacht schlug wieder die dumpfe Trommel den Strandsaum entlang, und im Wirbel prallte es gegen die Hausmauern. »Horch, bräutlich schmückt sich schon die Erde zum Bund mit dem frohen Menschen.« Da entfärbte sich die Verwirrte, und das Kreuz fiel ihr in den Schoß.

Langsam gab der Bürgermeister seinen Sitz auf. Ungern war ihm die Erkenntnis aufgegangen, daß weiteres Drängen seinem Wunsche nur schaden müsse, weil er es hier mit einem verschlossenen Gemüt zu schaffen habe, das am Leben blutete. Die Wunde mußte erst heilen, bevor sich neues Vertrauen entfalten könnte. Und obwohl es ihm vorkam, als ob er jetzt einen Verlust erleide, wie er ihn noch nie in seinen Lederbüchern zu verzeichnen gehabt, so griff er doch mitleidig nach der Hand der Verstummten, in der redlichen Absicht, den Eindruck seiner plötzlichen Werbung nach Möglichkeit wieder zu verwischen.

 

»Ich wollte Euch nicht erschrecken, Gräfin Linda«, beruhigte er freundlich, »Ihr solltet nur erfahren, wo Euch stets eine Heimat bereitet ist. So will ich Euch auch nicht weiter drängen, denn wir beide sind noch jung und werden uns nach dem, was ich Euch jetzt eröffnete, schwerlich vergessen. Das hoffe ich. Was aber Euren Entschluß betrifft, so sollt Ihr mir versprechen, daß Ihr Euch eine Frist gönnt, bis ich in Tag und Jahr abermals vor Euch trete. Denn mein Weg und mein Wille führen mich wieder zu Euch, und die Zeit ist ein kundiger Arzt und ein gütiger Fürsprach.«

Damit drückte er die kühlen Finger heißer, als er es selbst geahnt, und schritt mit seinem nachdrücklichen Gang über die knarrenden Dielen des Saales, um sich von dem Abt zu verabschieden. Der hatte sein Buch sinken lassen, und seine tiefliegenden klugen Augen hingen schon seit geraumer Zeit an den beiden jungen Menschen. Ehe jedoch der Aufbrechende den Sessel des Mönches erreicht hatte, stockte der Bürgermeister wie von einer Eingebung befallen.

»Noch eins«, erinnerte er sich in seiner bestimmten Weise, »ist Eure Dienerschaft zuverlässig, Linda?«

Das Mädchen stand schon an dem weiß gedeckten Tisch, jetzt mußte es über die unerwartete Frage lächeln.

»Ich halte nur eine Schaffnerin«, gab sie kopfschüttelnd zurück, »wenige Mägde und Knechte und hier diesen verwaisten Knaben aus unserem Kirchspiel«, fügte sie deutend hinzu, denn ein schöner, schlanker, etwa siebzehnjähriger Bursche in der kleidsamen schwarzen Dänengewandung war eben eingetreten, um die Tafel mit allerlei Geschirr zu bestellen. »Und diesen wenigen versage ich nichts, was ich mir selbst gewähre«, sprach die Herrin ruhig weiter, »nicht wahr, Heinrich?«

Es lag so viel mütterliches Wohlwollen in ihrer Aufforderung, daß es nicht verwunderlich war, wenn dem Jungen die Wangen zu brennen begannen. Er warf einen jugendlich schwärmenden Blick auf seine Gebieterin und nickte verschämt, bevor er sich entfernte.

Jetzt mischte sich auch der Abt in das Gespräch.

»Weshalb fragt Ihr, Herr Nikolaus Tschokke?« wandte er sich gespannt an den Bürgermeister. »Euer Blick ist nicht frei von Sorge.«

Der Hamburger streifte sich die schweren Handschuhe auf und prüfte unwillkürlich den kurzen Dolch, der ihm am Ledergürtel hing.

»Ich sorge mich auch«, rang er sich endlich vorsichtig ab, und heimlich umfaßte er abermals das Bild des blonden Fräuleins dort an dem Tisch. »Und deshalb bestelle ich eine Bitte an Euch, hochwürdiger Herr. Ihr wißt, die Gegend hier ist noch unbefriedet. Und wir haben durch Kundschafter in Erfahrung gebracht, daß die Freibeuterflotte gegen Mittag ganz unerwartet Segel setzte und aus dem Hafen verschwand. Wohin, weiß niemand.« Er strich sich unsicher über das glatte Kinn. »Nie habe ich die Vorliebe einzelner unserer hansischen Bundesgenossen für dieses schandbare, gesetzlose Volk geteilt«, fuhr er hastiger fort, »und ich werde nicht eher ruhig sein, als bis der schwarze Fleck von unserer Ostersee getilgt ist. In Euch aber dringe ich. Hochwürden, nehmt das Fräulein morgen mit Euch in die Stadt hinein, wo es am Königshofe sicherer ist als hier in dieser flachen, menschenleeren Einsamkeit.«

Noch hatte er nicht geendet, als dem Eifrigen auffiel, wie erregend sein Vorschlag auf das von ihm umsorgte Mädchen wirkte. Unruhig heftete sie die Augen auf das weiße Linnen, als ob sie angestrengt dort etwas suche, kämpfte mehrfach eine rasch aufsteigende Antwort nieder, bis sie sich endlich zu der Mitteilung entschloß:

»Ich danke Euch, Nikolaus, aber ich darf Burg Ingerlyst nicht verlassen. Die Königin gerade verwies mich hierher.« Und auf den fragenden Blick ihres Jugendfreundes bekannte sie mit ihrer gewohnten bedingungslosen Ehrlichkeit: »Ich habe mich einer Verfehlung in ihren Diensten schuldig gemacht.«

»Ihr?«

Linda nickte, entgegnete jedoch nichts mehr, denn abermals glaubte sie, daß Wellen von Scham und Entsetzen gegen sie anstürzten. Der Bürgermeister indessen forschte nicht weiter.

»Nun gut, Vater Franziskus«, beschied er sich, »dann gebraucht bei Hof Euer Ansehen, damit eine Besatzung hierhergelegt werde. Tut Euer möglichstes, denn solange die Schwarzflaggen in der Nähe wehen, wälzen sich Gesetz und Billigkeit im Kot, und der gemeine Verstand ermißt den frechen Umsturz alles Bestehenden nicht länger. Eure Hand, ich verlasse mich auf Euch.«

»Das dürft Ihr«, stimmte der Abt bereitwillig zu. »Und nun, Herr Nikolaus Tschokke, nehmt meinen Segen, den ich für jeden Redlichen habe. Wind und Wetter seien Euch günstig, und mögen sich die besten Wünsche Eures Lebens erfüllen.«

Der Bürgermeister heftete einen raschen, prüfenden Blick auf das feine, durchgeistigte Antlitz, als er aber in den abgeklärten Zügen nichts als das reinste, gütigste Verstehen las, da riß er sich schnell los, verbeugte sich noch einmal nach der steifen Sitte der Zeit vor dem Fräulein, und ohne auch nur noch eine Falte ihres weißen Kleides berührt zu haben, schied er mit seinem festen, lauten Tritt aus dem Saal.

***

Die Flamme der Stehampel zuckte, stieg und fiel. Sie war im Verenden. Dafür schickte über den beiden Zurückgebliebenen der eiserne Kranz des Rundreifens das tänzelnde Licht seiner Unschlittkerzen aus, wodurch die Nacktheit der geäderten Kiefernwandung noch deutlicher hervortrat. Auf dem Vorsprung des Kamins ließ eine Sanduhr ihren bunten Staub rinnen und erinnerte die halblaut Plaudernden an das rasche Enteilen der Zeit.

Gräfin Linda und der geistliche Herr hatten ihre Abendmahlzeit beendigt, allein der Zisterzienser Abt machte noch keinerlei Miene, sein Lager aufzusuchen, vielmehr gab er sich Mühe, seine aufmerksame, wenn auch stille und nachdenkliche Wirtin auf eine feine und anregende Weise zu unterhalten. Leicht konnte die Zuhörerin da merken, welch ein vorurteilsloser und gerechter Geist sich hier über die Unbilden und Streitigkeiten ihrer Zeit verbreitete. Wie von ungefähr war ihr Gast so auf die aufsehenerregenden Schriften des Oxforder Professors Wiclif gelangt, die der Gewalt so kühn zu Leibe rückten, und jetzt schien es, als ob der Erzählende mit einer besonderen Absicht länger bei den Angriffen des Engländers gegen die Klosterzucht zu verweilen gedächte. Spielend drehte er den Stiel seines silbernen Weinkelches zwischen den Fingern, während er gesenkten Hauptes, aber doch mit auffälliger Betonung hinwarf:

»Siehst du, liebe Tochter, wenn wir offen sind, so werden wir fast immer in den Anklagen und Schmähungen sogar eines Aufrührers etwas finden, das uns stutzen läßt. So will mir das massenhafte Flüchten der sogenannten Weltmüden in die Zelle niemals gefallen. Ist doch die Welt selbst in unzählige Zellen geteilt und der Mensch dazu da, die rechte für sich zu öffnen, damit er seinen Anteil an dem erlangbaren Friedensschatz empfange. Glaube mir, er quillt da und dort reicher, als jene frühzeitig Besiegten sich träumen lassen. Ist doch das Leben ein ebenso köstliches Geschenk wie der Tod. Und das Licht ein heiligeres als das Dunkel.«

Linda lehnte sich in ihren Armstuhl zurück und verfolgte träumerisch über die Schulter des Mönchs hinweg das Versickern des bunten Sandes in der Uhr. Sehr klar empfand sie, der Abt billige ihre eigene Sehnsucht, in die Stille zu entweichen, keineswegs, ja, wie er ein Aushalten und Bestehen aller Gefahren geradezu für würdiger erachte. Und doch, sie fühlte, wie ihre Natur dem Hang nach Aufhören immer inbrünstiger nachgab, da gerade jetzt etwas in ihr ins Schwanken geraten war, das sich nicht wieder ins Gleichgewicht bringen ließ. Fröstelnd wandte sie sich und lauschte von neuem auf den hohlen Trommelschlag längs der Küste. Als sich aber die gefürchtete Stimme nicht mehr vernehmen ließ, stürzte sie sich beinahe flüchtend in das rettende Gespräch zurück.