Feuer der Liebe - Feuer des Todes

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Feuer der Liebe - Feuer des Todes

Band 4 der WADE - Krimis

von

Georg Braun

Georg Braun

1. Edition, 2020

ISBN:

Coverbild: Matthias Neufeld.

© 2020 All rights reserved.

Kapitel 1

Der vierzigjährige Jochen Waldschütz hatte in seinem Leben einiges durchgemacht und erfahren, viele Enttäuschungen waren darunter, die ihn gestählt hatten.

An jenem dritten März des Jahres 2020 schien einiges anders geworden zu sein. Er wollte sich mal wieder etwas gönnen und begab sich in eine Kneipe.

Das „Schmidener Eck“ in der Schmidener Straße hatte schon eine wichtige Rolle im Leben des Hauptkommissars eingenommen: Trostpunkt. Immer wenn er einen Misserfolg verbuchte, was Gott sei Dank bisher nicht häufig vorkam, schlich er in diese Wirtschaft und ertränkte den gekränkten Stolz in Bier und Wodka. Letzterer sollte die nach etwas fünf Bieren übrig gebliebenen Leidgefühle abtöten.

Hans – Peter Ringwald, von allen nur Hape genannt, der Wirt der Trostherberge, spendierte seinem Freund Jochen für den Heimgang noch einen Absacker, meist einen Grappa. Damit der edle Hauptkommissar sicher zu Hause im Gesundbrunnen 21 ankam, orderte Ringwald zusätzlich ein Taxi. Alles klappte wunderbar, man kannte sich und konnte sich aufeinander verlassen: Waldschütz auf Ringwald und dieser auf die Taxifahrer.

Der dritte März, ein Dienstag, hatte die Kraft, das Leben eines Menschen zu verändern. Am Tresen saß neben Waldschütz eine Dame, die er zunächst nicht beachtete, nicht sehen wollte, weil er mit den Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts seine eigenen, meist schlechten Erfahrungen gemacht hatte.

Hape wollte schon die Ohren auf Empfang stellen und die Leidensgeschichte nach Jochen anhören, als die Dame am Tresen diese Aufgabe an sich zog und Waldschütz ansprach: „Hi, ich bin die Biggi.“

„Tag“, antwortete der Hauptkommissar und wollte sich wegdrehen. Doch der Anblick der Dame, den er sich höflicherweise abgerungen hatte, versetzte ihn in ein ungekanntes Staunen. Ein Gesicht mit einer entzückenden Schönheit, ein anmutiges Lächeln, kristallklare blaue Augen lächelten ihn an und verzauberten ihn in eine Schockstarre, aus der er für einen Moment nicht mehr herauskam. Er genoss diesen einmaligen Augenblick einer unglaublich schönen Frau, die mit einem Mal ein verschlossenes Herz öffnete und zum Pochen an schubste. Er fühlte die Schmetterlinge im Bauch kribbeln, ein völlig unbekanntes Gefühl. Er war hin und weg und hatte seinen Mund vor Staunen weit geöffnet. Nichts würde ihn schließen. So fasziniert war der Mann, der sich nie mehr vorstellen konnte, sich noch ein einziges Mal zu verlieben.

Biggi lächelte ihn auch an, scheinbar hatte sie das Antlitz des Hauptkommissars in ihren Bann gezogen. Für sie besaß Jochen Waldschütz eine Anziehungskraft eines brutal starken Magneten, der sie nicht entkam. Sie fühlte sich ihm offenbar hingezogen, so der Eindruck eines Beobachters, der nur Hape sein konnte, der Wirt des Schmidener Ecks und Zeuge einer unglaublichen Begegnung.

„Äh, ich bin Jochen“, antwortete Waldschütz nach gefühlt zehn Minuten, als er sich wieder gefangen und die Gefühle einigermaßen im Griff hatte.

Biggi und Jochen zogen sich zurück und begaben sich an einen Tisch. Sie starrten immer noch einander in die Augen, doch lächelten sie zwischendurch auch mal den anderen an. Ganz klar, sie hatten Feuer gefangen, sie wurden von Emotionen geschüttelt, die man nur jüngeren, hormongetränkten Turteltäubchen zugestanden hätte, aber niemals gestandenen Menschen.

Dem Hunger musste der ansonsten vorhandene Durst weichen, das Pärchen bestellte eine Kleinigkeit zu essen. Beide aßen einen großen Salat mit Putenstreifen. Während Hape und sein Team die Mahlzeit herrichteten, wollte Waldschütz seiner beruflich bedingten Neugier entsprechend nach den Lebenseckpunkten und Privatleben der neuen Bekanntschaft fragen.

„Ich bin die Brigitte Jansen, 35, und arbeitete als Managerin bei einem großen Chemieriesen in Darmstadt, wurde aber wegen angeblicher Misserfolge gekündigt.“

Die Augen Waldschützens leuchteten, eine erfolgreiche Frau saß ihm gegenüber.

„Und ich bin Jochen Waldschütz und bin Hauptkommissar bei der Kripo hier in Stuttgart.“

„Ein veritabler Bulle“, schmunzelte Biggi, „den

hätte ich nie in dir vermutet. Du wirkst so einfühlsam und hast zivile Manieren.“

Waldschütz staunte. Wie konnte sie so über Polizisten denken?

„Hast du also Erfahrungen gemacht mit Kollegen?“

„Nur aus der Ferne als Beobachterin. Sonst nicht.“

Die aufgewühlten Nerven des Kommissars beruhigten sich wieder. Erleichtert lächelte er Biggi an und war froh, dass er durch das mittlerweile gebrachte Essen abgelenkt wurde.

Sie unterhielten sich über die Erfahrungen in Beziehungen und auf beruflicher Ebene. Sehr sympathisch. Waldschütz war Feuer und Flamme, noch nie fühlte er sich so angenommen und verstanden wie an dem Abend. Er wagte einen Versuch, der drei Stunden zuvor undenkbar gewesen wäre: Er verbrachte die Nacht mit einer Frau bei sich zu Hause. Ein Feiertag im Leben des Hauptkommissars, der einen Seltenheitswert hatte.

Kapitel 2

Die Liebesnacht hatte Jochen Waldschütz der Sinne beraubt. Er genoss die Zärtlichkeiten ebenso wie den anschließenden erfüllenden Sex. Biggi und Jochen waren in dieser Nacht ein Liebespaar geworden. Das dachte der Hauptkommissar auch noch, als er am Morgen aufwachte und alleine im Bett lag.

„Biggi?“, rief er und hoffte auf eine Antwort oder Reaktion aus dem Bad oder der Küche. Er wurde enttäuscht, stattdessen fand er auf dem Küchentisch einen Zettel mit folgendem Inhalt: Danke für die wunderbare Nacht. Musste weg, habe ein Vorstellungsgespräch in Hamburg. Ciao, Biggi. Sie hinterließ noch ihre Handynummer, die Waldschütz wieder in eine betäubende Ruhe versetzte. Er durfte Hoffnung auf ein Wiedersehen haben, er hatte die Chance, Biggi anzurufen. Er schrieb noch eine SMS mit Viel Erfolg. Bussi, Jochen und hoffte auf eine baldige Antwort. Zumindest wartete er auf diese, als er den Happen hinunterschlang, der sein Frühstück sein sollte. Den Kaffee zog er eine halbe Stunde danach im Präsidium am Automaten, die erste Flumme rauchte er im Wagen auf der Fahrt zur Arbeit.

Er checkte noch den Geldbeutel und war sichtlich erleichtert, dass er die Geldscheine, welche er meinte, dort eingesteckt zu haben, vorfand. Zur weitergehenden Wohnungskontrolle war keine Zeit, außerdem blendete die Liebesnacht jegliche Zweifel an der Integrität der neuen weiblichen Errungenschaft aus.

Oberkommissarin Karin Degelmann erwartete ihren Kollegen sehnsüchtig im Büro. Die Arbeit der Polizei hatte die seltsame Angewohnheit, nicht geringer zu werden, das hieß, die Kriminellen wollten nicht aussterben. Für die beiden Beamten wie auch die Kollegen die sichere Garantie ihres Arbeitsplatzes und damit des Einkommens.

„Du bist aber spät heute“, begrüßte Degelmann ihren Zimmergenossen.

„Sonst bist du es“, konterte Waldschütz und sorgte für ein schmunzelndes Schweigen bei der Kollegin.

Erst musste der Kaffee in den Magen geschüttet werden, vorher streikten die Denkkräfte des Hauptkommissars.

Die Oberkommissarin kannte die Angewohnheit, schätzte sie aber nicht. Doch sie hatte auch das eine oder andere Laster, mit dem sie Waldschütz konfrontierte, ohne die Bereitschaft, daran etwas zu ändern.

Waldschütz lächelte sein Gegenüber strahlend an, Degelmann zeigte sich sichtlich irritiert, weil sie dieses Verhalten an ihrem Kollegen nie entdeckt hatte.

„Ist was? Du strahlst so!“

„Darf ich mich nicht freuen?“

„Doch. Ich würde mich gerne mit dir freuen“, hieß, ihre Neugier wollte befriedigt werden und Waldschütz sollte endlich mit der Sprache rausrücken, womit er noch zögerte. Er war nicht der Typ, der sein Innerstes nach außen kehrte. Er musste nachdenken, ob er sich mit der Preisgabe des amourösen Erlebnisses kein Eigentor schoss.

Karin Degelmann wollte nicht länger auf die Folter gespannt werden. „Na los, erzähl schon.“ Waldschütz genoss den Moment, in dem er Degelmann zappeln lassen konnte und schmunzelte.

Dann schwiegen sie sich an, die Oberkommissarin tat, als ob sie sich in eine Akte vertiefen würde, blickte verstohlen auf und hoffte auf den Augenblick, wo Waldschütz sich erbarmte und einen Ruck gab. Diesem Wunsch wollte Waldschütz nicht nachgeben, zumindest nicht vollumfänglich. Er und Degelmann kannten sich schon seit einiger Zeit, das hieß aber nicht, er müsste ihr sein Intimleben breittreten.

Nach etwa fünf Minuten verlor der Hauptkommissar die Lust an dem quälenden Spiel und fasste Mut.

„Ja, ich habe jemanden kennengelernt. Zufrieden?“

„Wen? Was?“

„Sage ich, wenn daraus eine feste Beziehung geworden ist. Du wirst es als erste erfahren, versprochen.“

Dem Vorschlag musste sich selbst eine hartnäckige Oberkommissarin geschlagen geben.

„Was liegt an?“, fragte der Hauptkommissar.

„Entführung. Einer Frau wurde unter Androhung schwerer Gewalt das Geld genommen, anschließend fuhren die Täter mit ihr und ihrem Auto davon. Keine Spur.“

„Wer war das Opfer?“

„Judith Mollar. Ehefrau von Kai Mollar, der als Manager bei der Holunder AG beschäftigt ist.“

„Bei der Holunder AG? Die Waffen für Kriegsgebiete herstellen?“

„Scheint so. Dann haben wir es mit einem ganz großen Ding zu tun. Weiß May Bescheid?“

„Noch nicht. Ich werde das präsidiale Informationsbedürfnis umgehend stillen“, versprach Degelmann und kontaktierte Polizeipräsident Hans May.

 

Der war ganz aus dem Häuschen, dass endlich mal ein öffentlichkeitswirksamer Fall auf der Agenda stand.

„Ich werde den Generalbundesanwalt einschalten. Wir erhalten von dort die Anweisungen. Frau Oberkommissarin, Sie und Waldschütz haben sich strengstens daran zu halten, ist das klar? Keine Alleingänge.“

„Selbstverständlich, Herr Polizeipräsident.“ Sagte es und legte verdattert auf. So hatte Degelmann ihren wichtigsten Vorgesetzten am Ort noch nie erlebt. Er war ganz in seinem Element und erkannte die Chance, endlich wichtig zu werden.

Kapitel 3

Liebestrunkenes Schmatzen, Stöhnen ohne Ende. Waldschütz nutzte die Gelegenheiten, wie sie ihm vor die Flinte liefen, und legte Biggi flach. Die neue Liebe stand am Abend vor der Türe und Waldschütz brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken, obwohl sie die SMS ignoriert hatte. „Weißt du, die ganze Zeit war ich beschäftigt. Assessment Center, wenn dir das was sagt.“

„Kenn ich nicht, was meinst du damit?“

„‚AC‘, so werden diese Veranstaltungen in der Arbeitswelt abgekürzt, sind ausgeklügelte Bewerbungsverfahren, wo die unterschiedlichen Kompetenzen der Kandidaten überprüft werden. Eine Schur, denn man soll sich einerseits teamfähig, andererseits durchsetzungsbereit zeigen.“

„Ah, verstehe, nicht einfach. Und? Wie ist es für dich gelaufen?“

Grinsen auf dem lieblichen und anmutigen Gesicht einer jungen, taffen Frau, die nur eines wollte: Erfolg.

„Ja, ich habe den Job. Managerin einer großen Reederei, Maschner Holding.“

„Du bist .... was? Managerin einer Reederei?“

Waldschütz stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, eine Anklage aus tiefstem Herzen. Er fühlte sich vor wenigen Minuten so wohl, wie im siebten Himmel und jetzt der Paukenschlag: Seine Liebe wurde zertrümmert, ausgerechnet von dem Menschen, dem diese Gefühle zuflossen.

Er offenbarte nun seine heimlichen Pläne. Waldschütz, der nie im Leben eine Partnerschaft plante, hatte sich offenbar doch vorstellen können, das weitere Leben nicht alleine zu verbringen. Eine Nacht hatte genügt, um seine in Stein gemeißelten Pläne ins Nichts aufzulösen und sich radikal zu wenden.

„Weißt du, Jochen, das hier kam für mich zu schnell. Ich hatte mich bereits in Hamburg beworben. Eine Wahnsinnsgelegenheit für die berufliche Entwicklung.“

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Die Enttäuschung hatte sich in Mark und Glied gefressen. Biggi hatte nur zu gut bemerkt, was sie mit der Äußerung in Jochen angerichtet hatte und dachte sich versöhnliche Worte aus.

„Ich kann dir aber versprechen: So oft es geht, bin ich bei dir.“

„Was heißt das: ‚So oft es geht?‘ Dreimal jährlich?“

Waldschütz war nicht zu beruhigen, er fühlte sich von einer Frau und dem Schicksal getäuscht. Für Zärtlichkeiten war er nicht mehr zu haben, begab sich aus dem Bett, zog sich an und richtete sich für die Arbeit. Gleiches verlangte er auch von seiner vermeintlichen Liebe, die sich offenbar als verkappte Enttäuschung, als menschlicher Rohrkrepierer erwies, sie sollte, wie er, abhauen.

„Kann ich nicht hier ...?“

„Nein, kannst du nicht“, brüllte Waldschütz sie an und das, weil sie ihn bat, in der Wohnung warten zu dürfen, bis sie sich nach Hamburg aufmachen musste.

Sie bekam die volle Wucht seiner Enttäuschung zu spüren, ein lebhafter Beweis, wie Waldschütz auf menschliche Irrtümer zu reagieren pflegte. So lange die Welt, seine Welt, in Ordnung war, konnte er der liebste, zärtlichste, einfühlsamste Mensch auf Erden sein. Aber wehe: Der schwächste Luftstoß, der es wagte, sein inneres Gleichgewicht zu stören, wurde mit aller Gewalt weggepustet.

„Bist du immer so?“, wollte sich Biggi vergewissern.

„Wie, so?“

„Na, so kühl und abweisend, wenn es mal nicht so läuft, wie du es dir ausgemalt hast.“

Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, Waldschütz hatte kapiert, dass er ihr mehr von sich berichten musste, wenn er weiterhin mit ihr zusammen sein wollte.

„Schau, Biggi, es ist so: Seit vielen Jahren hatte ich keine Beziehungen mehr, ich hatte mit dem Thema ein für alle Mal abgeschlossen. Und dann kamst du und hast alles aus den Fugen geschmissen, mein ganzes Koordinatensystem, das ich mir zurechtgelegt hatte, ins Wanken gebracht. Ich spürte wieder Gefühle und jetzt das ...“

Nun konnte sie das Verhalten Waldschützens besser verstehen und einordnen.

„Jochen, ich mag dich sehr, wirklich. Aber gib uns Zeit, uns besser kennenzulernen. Nichts überstürzen. Die Zukunft wird es zeigen ...“

„Ja. Ich kenne diese Sprüche. Sag doch gleich, dass du nicht willst.“

„Musst du mich missverstehen? Ich möchte Beruf und unsere kleine Beziehung unter einen Hut bringen. Du machst es mir verdammt schwer.“

„Ist gut. Lass es uns versuchen.“

Sie gaben einander einen Abschiedskuss und machten sich auf ihre getrennten Wege.

Kapitel 4

Jochen Waldschütz saß in seinem Wagen und wusste nicht mehr, wer er war. Der taffe Polizist, den niemand aus der Bahn werfen kann? Diese Frage wischte er vom Tisch. Er fühlte sich total fremd, ausgekotzt aus einem dreckigen Muttermund. Ein Naivling, der hormongesteuert auf die weiblichen Signale einer Blenderin reingefallen war? Waldschütz zuckte innerlich mit den Schultern, denn er fühlte sich nicht wohl, wenn er sich geistig Biggi vorstellte. Das Gesamtpaket stimmte nicht, nicht mehr. Sie war eine andere, als er sie vom Schmidener Eck nach Hause abgeschleppt hatte. Die Gefühlsharmonie schwappte in seine Richtung über, er spürte ihre Zuneigung nicht so sehr, wie er meinte, sie entgegengebracht zu haben. Er hatte alles in die Emotionswaagschale geworfen, selbst aber nichts bekommen, so das Feeling. Die SMS kam nicht so an, wie er sie beabsichtigt hatte. Okay, ja, sie kam abends zurück und überraschte Jochen. Das war ihr Plus in seiner Rechnung. Aber dann die Forderung, in seiner Wohnung bleiben zu dürfen, wo er sie kaum kannte. Das machte etwas mit ihm, was er nicht verbalisieren konnte. Er hatte Probleme, Gefühle in Worte zu fassen.

Mag sie mich? Genauso wie ich sie? Was hat sie mit mir gemacht? Ich erkenne mich nicht mehr. Was fühle ich? Ist das etwa Liebe? Keine Ahnung, ich kenne mich mit solchen Dingen einfach nicht aus. Mann, hat die mir den Kopf verdreht, ich weiß nicht mehr, wer ich bin ...

Das Thema stand bislang nicht auf der Agenda seines Lebens. Er fühlte sich als Ungelernter, als Stümper in Sachen Liebe und Partnerschaft. Das kam der Gefühlslage am nächsten. Auf alle Fälle hatte er den Plan, dass er Biggi mit den kritischen Augen beobachten wollte, hinter ihre Fassade blickte, falls er dazu noch einmal die Gelegenheit erhielt. Denn die neue Liebe verlagerte ihren Schwerpunkt in den Norden Deutschlands, also genau in die von ihm aus gesehen entgegengesetzte Himmelsrichtung. Er als Bulle sah sich außerstande, aus dem hohlen Bauchgefühl heraus, nach Hamburg zu reisen. Das ließ der Job nicht zu, ohne den er überhaupt keine Existenz hätte.

Er nahm sich als gewandelte Person wahr, unsicher geworden. Durch Biggi kam etwas aus dem Tritt, das bislang ungestört funktionierte und von ihm keiner Korrektur bedurfte. Oder küsste sie einen schlummernden Impuls wach, der nur auf die stimmige Gelegenheit wartete? Die verlustig gegangene Souveränität über sich, das Gefühlsleben, die Existenz, eine Art vorgezogene Midlife - Crisis würde begrifflich am ehesten zutreffen, sagte er sich. Er beendete die Grübelei, weil er soeben auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums einbog und niemand eine Veränderung an ihm feststellen sollte, eigentlich durfte. Er hatte keinem das Recht eingeräumt, ihn heute anders wahrzunehmen als gestern, nein, er behielt immer noch die Oberhoheit über sich und sein Dasein. Auch nach Biggi! Karin Degelmann, allein der Gedanke an die lieb gewonnene Kollegin, pushte Schweißperlen auf die Stirn. Ihre direkte Art, der Kennerblick würde keine Ruhe finden, ehe Waldschütz nicht gezwiebelt wurde. Und sei es nur wegen des Dackelblicks, den er seit der Begegnung mit Biggi aufgesetzt hatte und damit wirkte wie ein Alien, das mit sich nicht zurechtkam. Natürlich traf sie den Nagel auf den Kopf, das war gerade das Störende, dass sie Worte fand, welche haargenau die Befindlichkeit des Hauptkommissars treffend ausdrückten. Diesem Verbalgefecht weiblicher Demütigung wollte er sich nicht aussetzen, deshalb schaute er, bevor er den Wagen verließ, in den Rückspiegel, ob auch ja alles so aussah wie immer. So hundsgewöhnlich, ihm gemäß.

„Das passt so“, machte er sich Mut und stieg aus.

„Guten Morgen, Jochen“, begrüßte ihn die gefürchtete Kollegin, „na, hast du gut geschlafen?“

Hoppla, was soll jetzt das? Sie hatte mich nie nach meinem Schlaf erkundigt, will sie mich ärgern?

„Karin, spuck’s aus, was dir auf der Zunge juckt.“

Guter Konter, Deggelmann wurde rot, ein frappierendes Zeichen, denn das wurde sie nur, wenn man sie bei einem falschen, aber durchsichtigen Spielchen ertappte.

„Wie geht’s deiner Flamme?“

„Meinem Feuerzeug? Keine Ahnung, ich habe heute noch keine Ziggi geraucht.“ Nächster Konter, der super saß.

„Ich meine, wie heißt sie nochmal? Biggi.“

„Bist du eifersüchtig? Ich denke, ihr geht es gut. Wie geht es deinen Liebhabern?“

Schweigen allenthalben, das kindische Ping – Pong – Spiel zweier Beamter hatte ein Ende gefunden.

„Karin, Vorschlag: Wir wenden uns der Arbeit zu. Was macht der Fall Mollar?“

Kapitel 5

Wer kannte Kai Mollar nicht? Eine der schillerndsten Figuren der Nachkriegszeit der deutschen Wirtschaft. Ein Industriekapitän, dessen Meinung Gewicht hatte und zählte. Was er sagte, galt. Er avancierte zum Vertrauten der politischen Elite der Bundesrepublik, die Kanzler lauschten den fachkundigen Expertisen des Herrn, der schon in mehreren Unternehmen leitende Positionen eingenommen hatte.

Er war Vorstand der Kommschmerzbank AG, wo er haarige Kredite ins Ausland verantwortete. Er gab höchst verschuldeten Drittweltländern Kredite und wusste bereits bei der Anbahnung des Geschäfts, dass die Bank das Geld nie wiedersehen würde. War ihm unwichtig, er besaß ein Herz und ein soziales Gewissen, das ihn zu bankschädlichen Aktionen getrieben hatte. Er verlor den Posten, garniert mit einer hohen Abfindung, aber mit bestem Wissen und Gewissen, denn helfen war nicht strafbar.

In ähnlichen Kreisen hatte sich Mollar durch diese Handlung und die Bereitschaft, den Verlust des hochdekorierten Postens in Kauf zu nehmen, ein hohes Ansehen erworben. Ein Antipode zu den ansonsten geldgierigen und profitsüchtigen Managern des Bankensektors, die auch auf Kosten der Schwächsten die eigenen Taschen nicht voll genug bekamen.

Die Kommschmerzbank verlor nach der Demission des beliebten Mollars viele Kunden, die mit dem Rausschmiss nicht einverstanden waren. Vor allen Dingen Betriebe und Institutionen aus dem sozialen Bereich kündigten die Bankverbindung mit der Kommschmerzbank AG, die sich als schmerzfrei erwiesen hatte. Das Kreditinstitut verlor enormen Boden an der Börse, der Kurs sank an dem Tag der Kündigung Mollars um ein Drittel. Viele Anleger verzockten hohe Summen, was sie in Rage versetzte.

Zwei Monate hatte der umtriebige Mollar gebraucht, bis er wieder eine Anstellung gefunden hatte. Er hatte umgedacht. Kam zur Erkenntnis, dass eine soziale Einstellung, die er seiner Erziehung verdankte, nicht honoriert wurde. Die deutsche Gesellschaft lief in dem Takt, den die Wirtschaftsbosse vorgaben. Geld machen auf Teufel komm raus. Die Menschen dachten genauso, nur die Schwächsten und Ärmsten nicht, doch ihre Hoffnung auf soziale Leute wurde unter dem Druck der Profitsucht zermalmt. An sie dachte niemand, auch Mollar nicht.

Er heuerte bei der Holunder AG an, einem weltweit agierenden Waffenproduzenten, der seinen Gewinn am Leid der vielen Kriegstoten erzielte. Diese Tatsache störte Mollar nicht mehr, er wollte wieder wichtig sein und Geld verdienen. Das Metier des Global Players umfasste die komplette Spanne der Kriegswaffentechnik, von konventionellen Waffen, chemische und biologische, einschließlich Atomwaffen. Giftgas inklusive. Niemand, der nicht Insider war, wusste von dem Engagement des Stuttgarter Industrieriesen, man vertraute überall auf das Gute im Menschen. Dass die nach außen gedrungenen Informationen doch falsch wären und niemand durch die Waffen aus Stuttgart zu Tode käme. Die Leute mutierten zu Realitätsleugnern, die die Wahrheit nicht aushalten würden. Stattdessen gaukelte man sich die schöne Welt vor, die nicht einmal in den lieblichen Kinderbüchern existierten.

 

Offenbar mussten nicht alle so gedacht und empfunden haben. Zu aller Zeit keimten Antikriegsimpulse in der Gesellschaft auf, welche sich nicht mit Kriegswaffenherstellern abfanden, sondern sie zu ihren Feinden definierten. Sie mussten um alles in der Welt vom Erdboden verschwinden, notfalls unter Einsatz von Gewalt und sonstigen verbotenen Methoden. Davon gingen die beiden Kommissare Degelmann und Waldschütz aus, als sie über die Entführung Judith Mollars grübelten, der Ehefrau von Kai Mollar. Er war gemeint und sie wurde in die Mangel genommen. Eine für Terroristen typische Vorgehensweise, wie sie ihre Interessen verwirklichten. Sie hatten ihre menschlichen Empfindungen in den Gully der Gesellschaft geschüttet, wo sie vielleicht gärten, ganz sicher nicht mehr das Licht des hellen Tages erblickten. Eine Gesellschaft, mit der abgerechnet werden musste, weil sie zusah, wie in ihrer Mitte Waffen hergestellt wurden, die den grausamen Tod unschuldiger Menschen - Frauen, Kinder - auf dem fragilen Teil des Planeten bedeuteten. Das nahmen die bislang unbekannten Leute nicht hin und wehrten sich auf ihre Weise: ein Hilferuf, der offenbar niedergeknüppelt wurde.

Der Staat kannte kein Erbarmen mit Gewalttätern, auch dann nicht, wenn ihr Anliegen einen Hauch von Sympathie verbarg. Wer seine Interessen gegen den Willen und die Freiheit anderer Menschen durchsetzte, rief die Agenten des Staats, sprich die Polizei, auf den Plan. Oberkommissarin Degelmann war in Gedanken versunken, Hauptkommissar Waldschütz auch, aber in andere, welche, die mit seinem Liebesleben zu tun hatten und weniger mit der Befreiung Judith Mollars.

„Jochen, was ist los?“, weckte ihn Degelmann.

Karin, die schon wieder. Kann sie mich nicht einmal mit dem Quatsch von Teamarbeit in Ruhe lassen. Soll sie doch ihren Dreck allein bewältigen.

„Was ist?“, knurrte Waldschütz.

„Du bist schon bei der Arbeit, oder?“

„Nach was sieht der Ort hier aus? Meinst du, so sieht meine Wohlfühloase aus?“

Degelmann musste schallend lachen. Nein, die engen Räume hatten nun wirklich nichts mit einem Wohlgefühl zu tun. Eher mit harter Maloche.

„Was denkst du über den Fall Mollar?“

„Ist das wichtig? Wollte May nicht den Generalbundesanwalt eingeschaltet haben?“

„Oh, das habe ich verschwitzt. Der GBA vertraut ganz unserer Arbeit und dem Geschick. Wir sollen aber das Vorgehen eng mit dem Polizeipräsidenten abstimmen. May hält den Kontakt mit Herrn Seufert, dem GBA.“

„Nur zu gerne hätte ich den Fall abgegeben. Mal wieder typisch, wenn’s um die Drecksarbeit geht, halten sich die feinen Herren vornehm zurück.“

„Ich verstehe das als Auszeichnung und Vertrauensbeweis.“

„Ja, die Karin wieder, typische Positivdenkerin, die sich von mir schmerzverzerrt auf den Boden der Tatsachen holen lässt.“

„Zurück zum Fall Mollar: Was schlägt der Herr Hauptkommissar vor?“

„Auf alle Fälle keine Schnellschüsse und eine wasserdichte Informationssperre.“

„Weiter?“

„Warten, bis sich die Erpresser gemeldet haben. Was sollen wir im Nebel stochern?“

„Telefonüberwachung bei Mollar privat und geschäftlich?“

„Du bist lustig. Glaubst du allen Ernstes, ein Kriegswaffenproduzent lässt sich von zwei kleinen Bullen den Kanal abhören?“

„Wenn er an der Gattin und deren Leben hängt, schon.“

„Und wenn nicht?“

„Haben wir ein Problem.“

„Dann fahren wir schleunigst zur Holunder AG und checken mal den Herrn Mollar, ob er ein Interesse an einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit uns zeigt.“

Degelmann konnte dem Vorschlag ihres Kollegen zustimmen.

Kapitel 6

Der Alltag schlauchte den Hauptkommissar. Als Ausgleich sehnte er die Ruhe des eigenen Zuhauses herbei, wo er die Füße hochlegen und den lieben Gott einen netten Mann sein lassen konnte. Niemand hatte das Recht, ihn zu stören, wenn er nicht gestört werden wollte. Wollte er nicht.

Der Mollar lag ihm auf der Seele, stellte er beklommen fest. Es misslang ihm die Trennung zwischen Alltag im Büro und seinem Zuhause. Die Gedanken zerrten das Bewusstsein zu den nicht verarbeiteten Eindrücken des gesamten Tages zurück. Er sah sich außerstande, den Bullen Waldschütz an der Haustür zu vergessen und dann nur der private Jochen zu sein. Und war es nicht schon genug, dass ihm die Gauner das Leben schwermachten, gesellte sich noch der permanente Erfolgsdruck, der von Polizeipräsident May ausging, dazu. May konnte nicht still sitzen, wenn mal an einem Tag kein Kriminalfall erledigt wurde. Die Ganoven standen nicht an der Straßenecke und winkten: „He, hier bin ich, nimm mich fest.“ So dachte ein naives Gemüt wie May, das in keiner Weise alltagskompatibel war. Insbesondere nicht in einem Fall, wo ein bekannter Manager ein Hauptakteur und darauf bedacht war, nicht zu intensiv die Polizeiarbeit zu unterstützen.

Wie so oft beklagte Waldschütz Stillstand, im Alltag wie in der Liebe. Biggi fiel ihm ein, die gerade in Hamburg Schiffe disponierte und in der Weltgeschichte herumschickte. Dachte der Hauptkommissar im Feierabend.

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