Free

Lenz

Text
From the series: Minis bei Null Papier
Mark as finished
Lenz
Lenz
Audiobook
Is reading Wolfgang Gerber
$ 3,22
Details
Font:Smaller АаLarger Aa

Die schöns­ten Bil­der, die schwellends­ten Töne grup­pie­ren, lö­sen sich auf. Nur eins bleibt: eine un­end­li­che Schön­heit, die aus ei­ner Form in die an­de­re tritt, ewig auf­ge­blät­tert, ver­än­dert. Man kann sie aber frei­lich nicht im­mer fest­hal­ten und in Mu­seen stel­len und auf No­ten zie­hen, und dann alt und jung her­bei­ru­fen und die Bu­ben und Al­ten dar­über ra­do­tie­ren und sich ent­zücken las­sen. Man muss die Mensch­heit lie­ben, um in das ei­gen­tüm­li­che We­sen je­des ein­zu­drin­gen; es darf ei­nem kei­ner zu ge­ring, kei­ner zu häss­lich sein, erst dann kann man sie ver­ste­hen; das un­be­deu­tends­te Ge­sicht macht einen tiefern Ein­druck als die blo­ße Emp­fin­dung des Schö­nen, und man kann die Ge­stal­ten aus sich her­austre­ten las­sen, ohne et­was vom Äu­ßern hin­ein zu ko­pie­ren, wo ei­nem kein Le­ben, kei­ne Mus­keln, kein Puls ent­ge­gen­schwillt und pocht.

Kauf­mann warf ihm vor, dass er in der Wirk­lich­keit doch kei­ne Ty­pen für einen Apoll von Bel­ve­de­re oder eine Raf­fae­li­sche Ma­don­na fin­den wür­de. Was liegt dar­an, ver­setz­te er; ich muss ge­ste­hen, ich füh­le mich da­bei sehr tot. Wenn ich in mir ar­bei­te, kann ich auch wohl was da­bei füh­len, aber ich tue das Bes­te dar­an. Der Dich­ter und Bil­den­de ist mir der liebs­te, der mir die Na­tur am wirk­lichs­ten gibt, so­dass ich über sei­nem Ge­bild füh­le; al­les üb­ri­ge stört mich. Die hol­län­di­schen Ma­ler sind mir lie­ber als die ita­lie­ni­schen, sie sind auch die ein­zi­gen fass­li­chen. Ich ken­ne nur zwei Bil­der, und zwar von Nie­der­län­dern, die mir einen Ein­druck ge­macht hät­ten wie das Neue Te­sta­ment: das eine ist, ich weiß nicht von wem, Chris­tus und die Jün­ger von Em­maus. Wenn man so liest, wie die Jün­ger hin­aus­gin­gen, es liegt gleich die gan­ze Na­tur in den paar Wor­ten. Es ist ein trüber, däm­mern­der Abend, ein ein­för­mi­ger ro­ter Strei­fen am Ho­ri­zont, halb­fins­ter auf der Stra­ße; da kommt ein Un­be­kann­ter zu ih­nen, sie spre­chen, er bricht das Brot; da er­ken­nen sie ihn, in ein­fach-mensch­li­cher Art, und die gött­lich-lei­den­den Züge re­den ih­nen deut­lich, und sie er­schre­cken, denn es ist fins­ter ge­wor­den, und es tritt sie et­was Un­be­greif­li­ches an; aber es ist kein ge­spens­ti­sches Grau­en, es ist, wie wenn ei­nem ein ge­lieb­ter To­ter in der Däm­me­rung in der al­ten Art ent­ge­gen­trä­te: so ist das Bild mit dem ein­för­mi­gen, bräun­li­chen Ton dar­über, dem trü­ben stil­len Abend. Dann ein an­de­res: Eine Frau sitzt in ih­rer Kam­mer, das Ge­bet­buch in der Hand. Es ist sonn­täg­lich auf­ge­putzt, der Sand ge­streut, so heim­lich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kir­che ge­konnt, und sie ver­rich­tet die An­dacht zu Haus; das Fens­ter ist of­fen, sie sitzt da­nach hin­ge­wandt, und es ist, als schweb­ten zu dem Fens­ter über die wei­te ebne Land­schaft die Glock­en­tö­ne von dem Dor­fe her­ein und ver­hal­let der Sang der na­hen Ge­mein­de aus der Kir­che her, und die Frau liest den Text nach.

In der Art sprach er wei­ter; man horch­te auf, es traf vie­les. Er war rot ge­wor­den über dem Re­den, und bald lä­chelnd, bald ernst schüt­tel­te er die blon­den Lo­cken. Er hat­te sich ganz ver­ges­sen.

Nach dem Es­sen nahm ihn Kauf­mann bei­sei­te. Er hat­te Brie­fe von Len­zens Va­ter er­hal­ten, sein Sohn soll­te zu­rück, ihn un­ter­stüt­zen. Kauf­mann sag­te ihm, wie er sein Le­ben hier ver­schleud­re, un­nütz ver­lie­re, er sol­le sich ein Ziel ste­cken, und der­glei­chen mehr. Lenz fuhr ihn an: »Hier weg, weg? nach Haus? Toll wer­den dort? Du weißt, ich kann es nir­gends aus­hal­ten als da her­um, in der Ge­gend. Wenn ich nicht manch­mal auf einen Berg könn­te und die Ge­gend se­hen könn­te, und dann wie­der her­un­ter ins Haus, durch den Gar­ten gehn und zum Fens­ter hin­ein­sehn – ich wür­de toll! toll! Lasst mich doch in Ruhe! Nur ein biss­chen Ruhe jetzt, wo es mir ein we­nig wohl wird! Weg, weg? Ich ver­ste­he das nicht, mit den zwei Wor­ten ist die Welt ver­hunzt. Je­der hat was nö­tig; wenn er ru­hen kann, was könnt’ er mehr ha­ben! Im­mer stei­gen, rin­gen und so in Ewig­keit al­les, was der Au­gen­blick gibt, weg­wer­fen und im­mer dar­ben, um ein­mal zu ge­nie­ßen! Dürs­ten, wäh­rend ei­nem hel­le Quel­len über den Weg sprin­gen! Es ist mir jetzt er­träg­lich, und da will ich blei­ben. Wa­rum? warum? Eben weil es mir wohl ist. Was will mein Va­ter? Kann er mehr ge­ben? Un­mög­lich! Lasst mich in Ruhe!« – Er wur­de hef­tig; Kauf­mann ging, Lenz war ver­stimmt.

Am fol­gen­den Tag woll­te Kauf­mann weg. Er be­re­de­te Ober­lin, mit ihm in die Schweiz zu ge­hen. Der Wunsch, La­va­ter,2 den er längst durch Brie­fe kann­te, auch per­sön­lich ken­nen zu, ler­nen, be­stimm­te ihn. Er sag­te es zu. Man muss­te einen Tag län­ger we­gen der Zu­rüs­tun­gen war­ten. Lenz fiel das aufs Herz. Er hat­te, um sei­ner un­end­li­chen Qual los zu wer­den, sich ängst­lich an al­les ge­klam­mert; er fühl­te in ein­zel­nen Au­gen­bli­cken tief, wie er sich al­les nur zu­recht­ma­che; er ging mit sich um wie mit ei­nem kran­ken Kin­de. Man­che Ge­dan­ken, mäch­ti­ge Ge­füh­le wur­de er nur mit der größ­ten Angst los; da trieb es ihn wie­der mit un­end­li­cher Ge­walt dar­auf, er zit­ter­te, das Haar sträub­te ihm fast, bis er es in der un­ge­heu­ers­ten An­span­nung er­schöpf­te. Er ret­te­te sich in eine Ge­stalt, die ihm im­mer vor Au­gen schweb­te, und in Ober­lin; sei­ne Wor­te, sein Ge­sicht ta­ten ihm un­end­lich wohl. So sah er mit Angst sei­ner Abrei­se ent­ge­gen.

Es war Len­zen un­heim­lich, jetzt al­lein im Hau­se zu blei­ben. Das Wet­ter war mil­de ge­wor­den: er be­schloss, Ober­lin zu be­glei­ten, ins Ge­birg. Auf der an­de­ren Sei­te, wo die Tä­ler sich in die Ebne aus­lie­fen, trenn­ten sie sich. Er ging al­lein zu­rück. Er durch­strich das Ge­birg in ver­schie­de­nen Rich­tun­gen. Brei­te Flä­chen zo­gen sich in die Tä­ler her­ab, we­nig Wald, nichts als ge­wal­ti­ge Li­ni­en und wei­ter hin­aus die wei­te, rau­chen­de Ebne; in der Luft ein ge­wal­ti­ges We­hen, nir­gends eine Spur von Men­schen, als hie und da eine ver­las­se­ne Hüt­te, wo die Hir­ten den Som­mer zu­brach­ten, an den Ab­hän­gen ge­lehnt. Er wur­de still, viel­leicht fast träu­mend: es ver­schmolz ihm al­les in eine Li­nie, wie eine stei­gen­de und sin­ken­de Wel­le, zwi­schen Him­mel und Erde; es war ihm, als läge er an ei­nem un­end­li­chen Meer, das lei­se auf und ab wog­te. Manch­mal saß er; dann ging er wie­der, aber lang­sam träu­mend. Er such­te kei­nen Weg.

Es war fins­te­rer Abend, als er an eine be­wohn­te Hüt­te kam, im Ab­hang nach dem Stein­tal. Die Türe war ver­schlos­sen; er ging ans Fens­ter, durch das ein Licht­schim­mer fiel. Eine Lam­pe er­hell­te fast nur einen Punkt: ihr Licht fiel auf das blei­che Ge­sicht ei­nes Mäd­chens, das mit halb ge­öff­ne­ten Au­gen, lei­se die Lip­pen be­we­gend, da­hin­ter ruh­te. Wei­ter weg im Dun­kel saß ein al­tes Weib, das mit schnar­ren­der Stim­me aus ei­nem Ge­sang­buch sang. Nach lan­gem Klop­fen öff­ne­te sie; sie war halb taub. Sie trug Lenz ei­ni­ges Es­sen auf und wies ihm eine Schlaf­stel­le an, wo­bei sie be­stän­dig ihr Lied forts­ang. Das Mäd­chen hat­te sich nicht ge­rührt. Ei­ni­ge Zeit dar­auf kam ein Mann her­ein; er war lang und ha­ger, Spu­ren von grau­en Haa­ren, mit un­ru­hi­gem, ver­wirr­tem Ge­sicht. Er trat zum Mäd­chen, sie zuck­te auf und wur­de un­ru­hig. Er nahm ein ge­trock­ne­tes Kraut von der Wand und leg­te ihr die Blät­ter auf die Hand, so­dass sie ru­hi­ger wur­de und ver­ständ­li­che Wor­te in lang­sam zie­hen­den, durch­schnei­den­den Tö­nen summ­te. Er er­zähl­te, wie er eine Stim­me im Ge­bir­ge ge­hört und dann über den Tä­lern ein Wet­ter­leuch­ten ge­se­hen habe; auch habe es ihn an­ge­fasst, und er habe da­mit ge­run­gen wie Ja­kob. Er warf sich nie­der und be­te­te lei­se mit In­brunst, wäh­rend die Kran­ke in ei­nem lang­sam zie­hen­den, lei­se ver­hal­len­den Ton sang. Dann gab er sich zur Ruhe.

Lenz schlum­mer­te träu­mend ein, und dann hör­te er im Schlaf, wie die Uhr pick­te. Durch das lei­se Sin­gen des Mäd­chens und die Stim­me der Al­ten zu­gleich tön­te das Sau­sen des Win­des, bald nä­her, bald fer­ner, und der bald hel­le, bald ver­hüll­te Mond warf sein wech­seln­des Licht traumar­tig in die Stu­be. Ein­mal wur­den die Töne lau­ter, das Mäd­chen re­de­te deut­lich und be­stimmt: sie sag­te, wie auf der Klip­pe ge­gen­über eine Kir­che ste­he. Lenz sah auf, und sie saß mit weit­ge­öff­ne­ten Au­gen auf­recht hin­ter dem Tisch, und der Mond warf sein stil­les Licht auf ihre Züge, von de­nen ein un­heim­li­cher Glanz zu strah­len schi­en; zu­gleich schnarr­te die Alte, und über die­sem Wech­seln und Sin­ken des Lichts, den Tö­nen und Stim­men schlief end­lich Lenz tief ein.

Er er­wach­te früh. In der däm­mern­den Stu­be schlief al­les, auch das Mäd­chen war ru­hig ge­wor­den. Sie lag zu­rück­ge­lehnt, die Hän­de ge­fal­tet un­ter der lin­ken Wan­ge; das Geis­ter­haf­te aus ih­ren Zü­gen war ver­schwun­den, sie hat­te jetzt einen Aus­druck un­be­schreib­li­chen Lei­dens. Er trat ans Fens­ter und öff­ne­te es, die kal­te Mor­gen­luft schlug ihm ent­ge­gen. Das Haus lag am Ende ei­nes schma­len, tie­fen Ta­les, das sich nach Os­ten öff­ne­te; rote Strah­len schos­sen durch den grau­en Mor­gen­him­mel in das däm­mern­de Tal, das im wei­ßen Rauch lag, und fun­kel­ten am grau­en Ge­stein und tra­fen in die Fens­ter der Hüt­ten. Der Mann er­wach­te. Sei­ne Au­gen tra­fen auf ein er­leuch­tet Bild an der Wand, sie rich­te­ten sich fest und starr dar­auf; nun fing er an, die Lip­pen zu be­we­gen, und be­te­te lei­se, dann laut und im­mer lau­ter. In­dem ka­men Leu­te zur Hüt­te her­ein, sie war­fen sich schwei­gend nie­der. Das Mäd­chen lag in Zu­ckun­gen, die Alte schnarr­te ihr Lied und plau­der­te mit den Nach­barn.

Die Leu­te er­zähl­ten Len­zen, der Mann sei vor lan­ger Zeit in die Ge­gend ge­kom­men, man wis­se nicht wo­her; er ste­he im Rufe ei­nes Hei­li­gen, er sehe das Was­ser un­ter der Erde und kön­ne Geis­ter be­schwö­ren, und man wall­fah­re zu ihm. Lenz er­fuhr zu­gleich, dass er wei­ter vom Stein­tal ab­ge­kom­men; er ging weg mit ei­ni­gen Holz­hau­ern, die in die Ge­gend gin­gen. Es tat ihm wohl, Ge­sell­schaft zu fin­den; es war ihm jetzt un­heim­lich mit dem ge­wal­ti­gen Men­schen, von dem es ihm manch­mal war, als rede er in ent­setz­li­chen Tö­nen. Auch fürch­te­te er sich vor sich selbst in der Ein­sam­keit.

 

Er kam heim. Doch hat­te die ver­flos­se­ne Nacht einen ge­wal­ti­gen Ein­druck auf ihn ge­macht. Die Welt war ihm hel­le ge­we­sen, und er spür­te an sich ein Re­gen und Wim­meln nach ei­nem Ab­grund, zu dem ihn eine un­er­bitt­li­che Ge­walt hin­riss. Er wühl­te jetzt in sich. Er aß we­nig; hal­be Näch­te im Ge­bet und fie­ber­haf­ten Träu­men. Ein ge­walt­sa­mes Drän­gen, und dann er­schöpft zu­rück­ge­schla­gen; er lag in den hei­ßes­ten Trä­nen. Und dann be­kam er plötz­lich eine Stär­ke und er­hob sich kalt und gleich­gül­tig; sei­ne Trä­nen wa­ren ihm dann wie Eis, er muss­te la­chen. Je hö­her er sich auf­riss, de­sto tiefer stürz­te er hin­un­ter. Al­les ström­te wie­der zu­sam­men. Ah­nun­gen von sei­nem al­ten Zu­stan­de durch­zuck­ten ihn und war­fen Streif­lich­ter in das wüs­te Cha­os sei­nes Geis­tes.