Ein Teppich aus Andacht

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Ein Teppich aus Andacht
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Ein Teppich aus Andacht

Gabriele Prattki

Copyright:© Gabriele Prattki

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-7493-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Tag: Münster - Casablanca

CASABLANCA

Zweiter Tag: Casablanca - Rabat - Meknès

RABAT,

MEKNÈS

Dritter Tag: Meknès - Volubilis - Moulay Idriss - Fès

VOLUBILIS,

MOULAY IDRISS

FÈS

Vierter Tag: Fès

Fünfter Tag: Fès - Erfoud

ERFOUD

Sechster Tag: Erfoud - Tinerhir

Siebter Tag: Tinerhir – Ouarzazate

OUARZAZATE

Achter Tag: Ouarzazate - Marrakesch

MARRAKESCH

Neunter Tag: Marrakesch

Zehnter Tag: Marrakesch - Taroudant

TAROUDANT

Elfter Tag: Taroudant - Tafraoute

TAFRAOUTE

Zwölfter Tag: Tafraoute - Agadir - Essaouira

AGADIR

ESSAOUIRA

Dreizehnter Tag: Essaouira

Vierzehnter Tag: Essaouira - Casablanca

CASABLANCA

Quellenangaben:

Glossar:

Vorwort

Nach Fernreisen, die lange zurück liegen, wünschte ich mir, einmal Sanddünen-Wüste zu erleben. Ich hatte Bilder und Erzählungen von Marokkos verwinkelten Medinas, prachtvollen Moscheen und Palästen im Kopf und träumte mich auf orientalische Basare und in wild- romantische Bergwelten mit burgenähnlichen Wohnbauten, den Kasbahs.

Im Frühjahr 2011 flog ich nach Marokko und nahm an einer Rundreise teil. Neben dem Erträumten sah und erfuhr ich auch Kontraste zu den Schönheiten des Landes und notierte alles, wie es mir begegnete. Aufzeichnungen entstanden während der Fahrten im Bus sowie abends, nachts oder früh morgens in Hotelzimmern.

Im vorliegenden Buch werden Erlebnisse und Landschaftsbeobachtungen teilweise im Präsens dargestellt, um Leserinnen und Leser möglichst nah an das Geschehen heranzuführen.

Gedichte und Assoziationen, die ich in Münster hinzugefügt habe, sind im Buch kenntlich gemacht.

Quellenangaben und ein Glossar befinden sich am Ende des Buches.

Gabriele Prattki, Münster 2013

Erster Tag: Münster - Casablanca

CASABLANCA

22.30 Uhr

Angekommen in Marokko! Ich sitze auf dem Hotelbett und kann noch gar nicht fassen, dass ich wirklich in Casablanca bin. Der Anreisetag zieht an mir vorüber …

Um sechs Uhr stand ich auf, um acht fuhr der Zug. Verspätung in Köln, doch hatte ich Zeit genug für den nächsten Zug eingeplant. Im Frankfurter Flughafen kam es mir kilometerweit vor, bis ich Pass- und Gepäckkontrollen erreichte. In endlosen Warteschlangen nahm ich all die unterschiedlichen Menschen wahr, Hautfarben, Haarfarben, Frisuren, Kleidung und das Sprachengewirr. Ich liebe dieses Gefühl von „weite Welt ganz nah“.

FRANKFURT – FLUGHAFEN

13.30 Uhr: Gleich bin ich an der Reihe. Endlich Passkontrolle. Jemand zupft mich am Ärmel. “Excuse me.“ Eine kleine Frau in bodenlangem Gewand mit Kopftuch. “Where you go? When? When?“ Die junge Frau neben ihr hat ein auffallend schönes Gesicht. Sie trägt ein hautenges weißes Kleid über einer weißen langen Hose, einen goldenen Gürtel um die schmale Taille und ein großes weißes Kopftuch. Es ist eher ein Schleier.

“To Maroc. At three p.m.“

“In two hours, oh, we in thirty minutes to Djibouti, can we go before you?” Ich bin überrascht. Sie muss die ganze Schlange hinter mir schon gefragt haben. Die junge Frau spielt mit ihrem Schleier, zieht ihn fester ums Gesicht.

“Well, everybody else has been waiting for a long time.”

“Oh, please, you´re good woman, please.” Sie berührt mich am Arm. Ich mag es nicht. Als ich mich umdrehe, sehe ich hier und da ein Achselzucken. Eine Frau sagt: „Bei allen haben sie ´s versucht.“

„Na dann. Okay.“ Ich nicke der älteren Frau zu. Sie bedankt sich überschwänglich. Beide Frauen stellen sich vor mich und werfen sich vielsagende Blicke zu. Ich habe den Eindruck, dass sie gleich anfangen zu kichern und frage mich, ob ich ihr Verhalten frech oder mutig finde. Der Flug nach Djibouti wird auf der nächsten Anzeigetafel für 16 Uhr angekündigt.

15.30 Uhr: Im Flugzeug der Royal Air Maroc mit grünem Stern auf rotem Grund sitze ich neben zwei sehr attraktiven Marokkanerinnen, jung, intelligent und fröhlich, mit denen ich zeitweise ins Gespräch komme. Beide bestätigen, nachdem sie den Ablauf meiner Reise vernommen haben, dass ich eine tolle Reise mit den schönsten Seiten und Sehenswürdigkeiten Marokkos vor mir habe. Als wir über Länder sprechen, die wir bereist haben, erfahre ich, dass beide häufig Urlaub im Ausland machen - Frankreich, Türkei, Kroatien, Italien, - und dass die Ältere als Tochter eines Diplomaten einige Zeit in Kanada gelebt hat. Demnächst wird sie ein Jahr in China verbringen. Beide Frauen sind gerade für sechs Monate in Rumänien gewesen, “for a training“. Was das war, verraten sie mir nicht, weichen meiner Frage elegant aus und sagen, sie freuen sich sehr auf ihre Heimat und das Wiedersehen mit ihren Familien in Rabat. Fließend und mit großer Leichtigkeit sprechen sie Englisch, Französisch, Arabisch - wer weiß, was noch? “By the way, we´ve heard about racism in Germany. A friend - she is from Turkey - has left Germany because people treated her badly. It must have been very hard for her. Is it true that many Germans are racists?“ Die meisten Menschen bei uns seien keine Rassisten, sage ich, aber es gebe zu viele.

Ich erfahre, dass Arabisch von rechts nach links geschrieben und gelesen wird und stelle fest, dass man die arabische bzw. marokkanische Tageszeitung, die mir beim Einsteigen von den Stewards angeboten wurde, nach links aufblättern muss, wenn man nicht mit der letzten Seite anfangen will. Dort sehe ich Fußball, was sonst. Auf der ersten Seite den König von Marokko.

Im Laufe des Fluges verstärkt sich mein Eindruck, die beiden hübschen Marokkanerinnen neben mir könnten Stewardessen sein, da sie mit den Mitgliedern der Crew anscheinend gut bekannt sind. Meine Fantasie macht sie zu entfernten Verwandten des marokkanischen Königshauses, die inkognito in der Business Class fliegen, um einmal unter normalen Menschen und nicht nur bei ihren adligen Langweilern zu sitzen, mit denen sie verkuppelt werden sollen. Die eingeweihte Crew liest ihnen natürlich jeden Wunsch von den Augen ab. Oder sind sie Agentinnen, die in Rumänien eine gefährliche Mission erfüllt haben und nun erleichtert den Heimflug antreten?

Vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass Frauen mit langer Hose in einigen Gebieten Marokkos eine Beleidigung bedeuten. Touristinnen sollten sich grundsätzlich mit bedeckten Armen und Schultern zeigen und lange Kleider oder Röcke tragen. Das erzähle ich diesen jungen, modern gekleideten Frauen und frage sie nach angemessener Kleidung. Etwas ungläubig schauen sie mich an und lächeln nachsichtig: "You can wear everything you like.“

Beim Anflug sieht das Land für mich überraschend grün aus. Endlose Flächen in verschiedenen Grün- und Brauntönen, unterschiedlich in Größe und Form: Dreiecke, Rechtecke mit Schrägen, nichts Abgezirkeltes, nichts Gerades. Ein Flickenteppich, Patchwork. Interessant finde ich die andere Sicht auf die Weltkarte am Bordbildschirm: „Unser“ Norden liegt jetzt im Süden bzw. Afrika „oben“ und Europa „unten“ auf der Karte. Jeder Kontinent könnte sich auf diese Weise als Nabel der Welt fühlen.

CASABLANCA

Mein erster Eindruck auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel: Slums, dann Wohnhäuser, die von einer Mauer umgeben sind. Manchmal sind davor noch Wälle aus Bäumen oder Sträuchern. Durch Palmenalleen fahren wir, dann vorbei an verfallenden Häusern und Hochhäusern sowie riesigen Neubauten, die sehr dicht neben einander stehen. Quirlige Großstadt, die „weiße Stadt“, und wir sind mitten drin in diesem zehnstöckigen Hotel.

 

Um 20 Uhr speisen wir an einem festlich gedeckten Tisch des großen Speisesaals. Die jungen Kellner sind nicht nur höflich. Sie lächeln, auch mit den Augen, was ihre Gesichter noch hübscher macht. Sogar die schweren Stühle ziehen sie für uns zurück, wenn wir zum Buffet gehen. Dort warten viele bunte Salate, die zu essen ich mich aber nicht traue, weil ich gelesen habe, dass man nur Gekochtes oder Geschältes essen soll. Es gibt zwei Suppen, Hühnchen in einer köstlich gewürzten Soße, verschiedene Sorten warmes Gemüse und sehr bunt verzierten Nachtisch: Kuchen in winzigen Rechtecken und Pudding.

Über dem Hühnchen sage ich zu meiner Nachbarin: „Ist das lecker! Und alles so schön dekoriert! Ich würde gern wissen, was das alles ist, wie es heißt, was drin ist ...“

„Dann sollten Sie mal nachfragen.“

„Ich kann kaum drei Sätze auf Französisch. Doch unseren Reiseleiter werde ich später fragen.“

„Ja, tun Sie das. Mir kommt er sehr reserviert vor. Sind Sie schon mal mit diesem Reiseveranstalter, gereist?“

„Ja, das ist schon einige Jahre her. Und Sie?“

„Schon häufig. Wir waren vor einem Jahr in Indien. Das war die schönste Reise, die wir bisher erlebt haben. Spitzenmäßig organisiert, wunderbare Begegnungen. Und der Reiseleiter! So ein netter Mensch, herzlich und so fürsorglich! Also, wenn Sie mal ...“

„Ich weiß nicht ... Vor vielen Jahren war ich mal dort und habe mich gar nicht wohl gefühlt.“ „Ja, die extreme Armut, damit muss man zurecht kommen. Wenn einem das gelingt, dann ist Indien ein ganz besonderes Land mit ganz besonderen Menschen und außerordentlichen Schönheiten. Sehr empfehlenswerte Reise!“

Indien, noch immer mein Trauma - Land. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt bin ich in Marokko.

21.00 Uhr: Draußen höre ich pausenloses Hupen in verschiedenen Tonlagen. Konzert würde ich das trotzdem nicht nennen. Man merkt nicht, dass die Fenster geschlossen sind, so nah und laut sind die Straßengeräusche. Schwül ist es hier wie zuhause im Hochsommer. Mein Kopf brummt, das Leben draußen auch. Samstagabend. Ob solch eine Stadt überhaupt zur Ruhe kommt?

Unser Reiseleiter hat uns davon abgeraten, in die Altstadt von Casablanca zu gehen. Auch wenn wir in die Neustadt gehen, sollten wir keine Wertsachen mitnehmen. Ich habe ohnehin nichts dergleichen dabei. Dem Polyglott-Reiseführer entnehme ich, dass Casablanca das Wirtschaftszentrum Marokkos mit über drei Millionen Einwohnern und Traumstadt westlich orientierter Marokkaner ist. Die Reichen des Landes leben in Villen und besitzen Strandhäuser, während die Landflüchtlinge am Stadtrand in „Kanisterstädten“ leben. Diese bevölkerungsreichste Region des Landes ist auch die mit dem größten sozialen Konfliktpotential. Unter Jugendlichen ist die Arbeitslosigkeit hoch, was wachsende Kriminalität und Hinwendung zu fundamentalistischen Gruppierungen zur Folge hat.

Zweiter Tag: Casablanca - Rabat - Meknès

Zum Frühstück habe ich eine marokkanische, lecker gewürzte Gemüsesuppe mit etwas Reis darin probiert, dazu süßen Thé à la menthe - zuhause soll mir mal einer mit Pfefferminztee kommen, brrr - und ein leicht zimtiges braunes Brötchen. Völlig ungewohnt und überraschend gut.

In unserem Reisebus sitze ich hinter der mittleren Tür rechts. Kann es sein, dass die vordersten Plätze erkämpft wurden? Beim Einsteigen habe ich gefragt, ob wir zum Fotografieren aus dem Bus irgendwann die Plätze tauschen könnten. Oh, das geht aber gar nicht! Denn: „Wir legen doch unsere Sachen an diesem Platz ab, da müssten wir ja ständig umräumen.“ Und: „Da müsse Se sisch bei de nekste Reise frühe anstelle.“

Die Sonne hält sich zur Zeit bedeckt. Dichte graue Wolken begleiten uns. Auf der Fahrt von Casablanca zur etwa hundert Kilometer entfernten Hauptstadt Rabat fahren wir an Feldern und Wiesen vorbei. Das muss die Gegend sein, die ich aus dem Flugzeug gesehen habe: Patchwork. „Hier gibt es viel Landwirtschaft, ja?“, erklärt Mohamed, unser marokkanischer Reiseleiter in perfektem Deutsch, wobei er das „ja?“ ganz kurz ausspricht und die Stimme fragend anhebt. „Getreide, Gemüse, Zitrusfrüchte, Wein. Der Norden ist sehr fruchtbar.“ In geringer Entfernung zur Straße liegen viele ärmliche Behausungen im Regennebel.

Unser Busfahrer heißt - „Raten Sie mal.“ - auch Mohamed, wie die meisten Männer und Jungen im Land, und wird uns vom Reiseleiter als langjährig erfahren vorgestellt. Er lebt mit seiner Familie in Taroudant. Der dunkelhäutige Begleiter, zuständig für die Sauberkeit im Bus, heißt Mose und kommt ebenfalls aus dem Süden Marokkos. Er wird immer nachzählen, ob wir alle da sind, bevor er das Zeichen zur Weiterfahrt gibt. Wir erfahren, dass seine Vorfahren schwarzafrikanische Sklaven waren. Dann stellt sich unser Reiseleiter vor. „Also, ich bin Mohamed und komme aus Agadir, ja? Dort lebe ich mit meiner Frau und zwei kleinen Töchtern, zwei und vier Jahre alt ...“

„Eine Frau oder mehrere?“, ruft jemand aus der Gruppe.

„Eine. Ein Unheil reicht. Sagt man so bei Ihnen?“

„Häm, hm“, kommentiert vorn eine Frauenstimme, während einige Männer lachen.

„Aber das war jetzt ein Scherz, ja? Ich bin 45 Jahre alt, habe Germanistik und Deutsche Geschichte studiert und bin seit 1992 Reiseleiter. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen einiges über Marokko erzählen, ja? Also über Familie, Schulen, Wirtschaft, Islam und so weiter. Außerdem jeden Morgen einen Witz - zum Wachwerden.“

RABAT,

Regierungssitz des Landes. Mohamed erklärt, dass wir gerade an vielen Diplomatenvillen vorbeifahren. Wir sehen kaum etwas, da sie hinter Mauern liegen. Aha, denke ich, irgendwo hier freut sich eine der beiden Schönen aus dem Flugzeug, wieder bei ihrer Familie zu sein. An einem Tor, vor dem auf dunklen Araberpferden eine Garde in roter Uniform mit weißem Umhang Wache hält, steigen wir aus und begrüßen einen lokalen Fremdenführer. Ahmed, dessen Name wie auch „Mohamed“ auf der zweiten Silbe betont wird, begleitet uns durch Rabat. Wir besichtigen ein Grabmal, das Mausoleum von König Hassan V. Es wurde von 1961 bis 1971 zu Ehren des Großvaters von Mohamed VI., dem heutigen König, nach dem Vorbild traditioneller Grabstätten errichtet. Ahmed, dunkle Augen und feine Gesichtszüge, trägt ein langes, dunkelbraunes Gewand, eine Djeballah, und weist sich dadurch und mit einer Plakette an der Brust als offizieller Fremdenführer aus. Auf den Stufen zur Grabstätte erklärt er, dass die Außenmauern des Mausoleums aus Carrara-Marmor bestehen. Drinnen stehe und staune ich, überwältigt von der Schönheit und Pracht dieser Anlage. Von einer Galerie schauen wir auf die marmornen Sarkophage* des Königs und seiner beiden Söhne. Die Wände des Mausoleums sind mit kunstvollen Schnitzereien und Mosaiken verziert. Eine Tür aus Gold ist kostbar ziseliert. Schwere bunte Glaslampen hängen über den Sarkophagen.

MÜNSTER Nachgedanken:

Eine Viertelstunde

für die Besichtigung

einer maurischen Grabstätte

aus unfassbarer Schönheit

Touristen verlaufen sich

in Gott geweihten Hallen

keine Zeit zum Innehalten

Stille und Andacht

haben sie nicht

gebucht

RABAT

Draußen auf dem mit Marmor gepflasterten Vorplatz, den wir durch das Tor hinter der Ehrengarde betreten haben, erklärt Ahmed: „Der maurische Baustil, in dem diese Anlage erbaut wurde, hat sich in der Zeit der Almohaden* im zwölften bis dreizehnten Jahrhundert zu dieser prächtigen Ornamentik entwickelt und zwar aus andalusischen, berberischen und arabischen Einflüssen.“ Wir erreichen einen Platz mit vielen kleinen, weißen Säulen. „Schauen Sie, all die Stümpfe von Moscheesäulen - zweihundert sind es. Sie sollten eigentlich die Schiffe eines Betsaals tragen. Denn, meine Damen, meine Herren, der Gründer von Rabat, Abou Youssef Yacoub el-Mansour, (da hör ich Josef und Jakob heraus) wollte hier im 12. Jahrhundert die zweitgrößte Moschee der islamischen Welt errichten. Doch nach seinem Tod wurde der Bau nie vollendet.“ Wir gehen zu einem quadratischen Turm. „Der Tour Hassan, das Wahrzeichen von Rabat. Er sollte achtzig Meter hoch werden. Was Sie sehen, ist gerade mal die Hälfte.“ Das Minarett hat 2,50 m dicke Mauern, ist an den Außenfassaden reich verziert und gilt noch heute als Vorbild für marokkanische Minarette. Ich mag das Schlichte: die erdige Farbe, die Form und die aus dem rotbraunen Stein heraus gearbeiteten Reliefs.

In einigen Städten wird uns ein Fremdenführer begleiten, hat Mohamed uns erklärt. Damit sollen lokale Arbeitsplätze im Tourismusbereich gefördert werden. Unsere Begleiter können nach der Führung ein kleines Trinkgeld von uns erhalten. Mohamed gibt an, dass für einen halben Tag 5 Dirham* (50 Cent) und für einen Tag 10 Dirham angemessen seien. Er betont: „Trinkgeld ist immer eine freiwillige Angelegenheit, ja? Ganz wichtig, immer freiwillig.“

Ahmed aus Rabat spricht sehr gut Deutsch. Er erklärt, er habe die Sprache erst in einer weiterführenden Schule gelernt und sie sich im Lauf der Jahre mehr und mehr angeeignet. Wir fahren durch das monumentale Tor der Winde, Bab er-Rouah, aus dem 12. Jahrhundert. Ahmed erläutert, was wir so schnell nicht erkennen: In den roten Stein sind Koransuren*, Schmuckmuscheln und Arabesken* gemeißelt. Jenseits des Tores hält unser Bus, und wir spazieren zum Palast des heutigen Königs, vorbei an Steineichen und üppig blühenden Bougainvillen in Rot und Rosa auf der linken Seite. Rechts liegt der große Versammlungsplatz. Kurz bevor wir den Palast erreichen, fällt mir ein Straßenschild auf. In einem weißen Viereck leuchtet ein rotes Achteck mit weißen arabischen Schriftzügen - die arabische Variante des Stoppschildes.

Das Palais Royal, 1864 erbaut, ist mit lasierten grünen Ziegeln bedeckt. Rot gekleidet ist die Palastgarde, die vor dem maurischen Prunkportal patrouilliert. Aus ehrfürchtiger Entfernung schauen wir uns gerade das Portal an, da erfolgt die Wachablösung. „Ziemlich entspannt.“ - „Echt locker.“ - „Die haben keinen Stress“, kommentieren einige aus der Gruppe. Es geht auch anders als zackig.

Den ganzen Tag regnet es. „Sso hoab i mir Oafrika net voagstellt“, mault unsere wahrscheinlich älteste Mitreisende. „Keiner wird uns glauben, dass wir in Afrika waren“, folgt eine Bemerkung weiter vorn. Und: „Dann werd isch ja gar nisch braun.“ Sofort reagiert unser Reiseleiter: „Also, Regen ist ein Reichtum für unser Land, ja? Macht alles fruchtbar, ja?“

Auf dem Weg zur nächsten Station unseres Besichtigungsprogramms fällt uns ein großes Plakat mit Mohamed VI., dem König von Marokko, auf. „Warum hängt das Foto hier? Findet eine politische Veranstaltung statt?“, wird vorn im Bus gefragt. „Solche Fotos werden Sie oft sehen, einfach, weil er unser König ist.“

Wir erreichen ein Gräberfeld, die Nekropole von Chellah, 2300 Jahre alte Ruinen. „Meine Damen, meine Herren, im 3. Jahrhundert vor Christus haben die Karthager hier eine Handelsniederlassung gegründet. Später legten die Römer einen Flusshafen an. Und ab dem 13. Jahrhundert nutzten die Meriniden das verlassene Areal als Nekropole* für ihre Sultane“, erzählt Ahmed. „Die Meriniden sind wie Alaouiten und Almohaden Dynastien, die im Laufe der Zeit in Marokko geherrscht haben.“ Durch ein großes Tor in der Lehmmauer, die den Friedhof umschließt, gehen wir zu einem kleinen, viereckigen Bau mit runder Kuppel. Es ist die Grabstätte eines Sultans. Man nennt solche Gedenkstätten wie die heiligen Männer „Marabout“. Einst weiß gekalkt, ist das Grab heute stark verwittert. In bunter Vielfalt blühen Pflanzen. Störche leben hier, fliegen umher, klappern auf ihren Horsten. Mindestens dreißig sehen wir auf verschiedenen Türmchen, auf Ruinen und im Flug. Auch Kuhreiher bauen auf Mauervorsprüngen und Bäumen ihre Nester. Traurige Katzen schleppen sich herum; furchtbar mager sind sie. Mohamed sagt, es seien wilde Katzen, um die sich niemand kümmere. „In Marokko hält sich kaum jemand Katzen.“

 

MÜNSTER Nachgedanken:

Wie viele Menschen fielen über die Jahrtausende in andere Länder ein, eroberten sie, töteten dort, herrschten. Und doch verbündeten sich Eroberer und Besiegte, heirateten, vermehrten sich. In jedem Menschen verborgen ruht die Geschichte seiner Vorfahren aus Tausenden von Jahren. So ist jeder von uns eine bunte Mischung Mensch aus „Zutaten“ wie:

Deutscher Kaiser und indische Bettlerin,

Empire-Soldat und spanische Bäckerin,

Gladiator aus Rom und Flüchtlingsfrau aus Chile,

Zulu-Mörder und französischer Kriegsgefangener,

japanischer Kaufmann und Überfallsopfer aus Thailand,

polnische Christin und amerikanische Jüdin,

iranischer Moslem und Hindu aus Nepal,

kongolesischer Sektenführer und türkische Weltreisende …

RABAT

14.00 Uhr: Zum Mittagessen sind wir in einem Touristen-Restaurant angemeldet, wo viele aus der Gruppe marokkanische Fleischspezialitäten bestellen. Mohamed wünscht uns „Guten Appetit“ und auf Arabisch „Bismillah.“ Danach fahren wir am größten Korkeichenwald Nordafrikas entlang, der sich über 133 km² erstreckt. Die Korkeichen sind am unteren Stamm teilweise schwarz. Dort wurde der Kork abgezogen. Es dauert einige Jahre, bis er nachwächst. Viele Familien haben sich für ihr Sonntagspicknick eingefunden. Autos stehen daneben. Überall liegt Müll. Mohamed erwähnt, dass die Moslems in Marokko nach der französischen Kolonialzeit den Sonntag als Ruhetag beibehalten haben, während der Freitag in anderen islamischen Staaten Feiertag ist.

Auf der Fahrt: weite Ebene, hier und dort ein kleiner Hof in der Nähe der Straße, kastenförmige, ebenerdige Gebäude. Mal sind Kühe, mal Schafe oder ein paar kleine Pferde dabei. Dann folgt hügelige Landschaft mit Klatschmohnfeldern und Frühlingsblumen in Lila und Gelb, dazwischen frisches Grün.

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