Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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2.6 Verlauf und Gesamtaufbau der Studie

Das folgende Ablaufschema bietet einen Überblick über den spiralförmigen Verlauf des Forschungsprozesses der Studie:


Forschungsphase Forschungskontext und Materialbezug
Januar 2006 Zugang zum Feld (1): erste Feldbeobachtungen in der Weiterbildung und der Schule Erzählperformances der Erzählerin Marie-Célie Agnant in Berliner Schulen, Interviews mit Marie-Célie Agnant
SoSe 2006 erste Konzeption und Durchführung eines Erzählcurriculums im ersten Weiterbildungsstudiengang (Pilotstudie) erster Weiterbildungskurs Französisch (2004-2007)
Reflexion der Ergebnisse der Pilotstudie Entwicklung narrationstheoretischer und -praktischer Vorannahmen, erste Literaturrecherche
2006-2007 Theoriebildungsphase (1) funktionale Aufarbeitung literaturwissenschaftlicher, linguistischer und fachdidaktischer Narrationstheorie
Überarbeitung und Durchführung des Erzählcurriculums zweiter Weiterbildungskurs Französisch (2005-2008)
2007-2008 Theoriebildungsphase (2) Aufarbeitung von forschungsmethodologischer Literatur und von Aktionsforschungsliteratur
erste Forschungsentscheidungen Überlegungen zur Datenerhebung, Verabredungen mit den Akteuren
Durchführung des Erzählcurriculums Planung der Erzählprojekte durch die Lehrkräfte
Zugang zum Feld (2): Unterrichtsbeobachtung der Forscherin, Datenerhebung Videoaufnahmen der Erzählstunden, Interviews mit den Akteuren
2008-2009 Datenaufbereitung (1) Transkription der Interviews, erste Entwürfe von Videotranskriptionen
Datenauswertung (1): erste Durchsicht des Materials wiederholtes Anschauen der Videofilme, punktuelle Analyse von Filmsequenzen, erste Durchsicht der Interviewtexte
2009 Theoriebildungsphase (3) Aufarbeitung forschungsmethodologischer Literatur
Datenauswertung (2): zweite Durchsicht des Materials Interaktionsanalyse des Falls EZ / 1, punktuelle Analyse des Falls EZ / 2
Theoriebildungsphase (4) Aufarbeitung von gesprächsanalytischer Erzähltheorie und Mündlichkeitsforschung
Verfassen einiger Theoriekapitel in vorläufiger Fassung Analyse von Erzähltexten, Entwurf eines Kommunikationsmodells
2010-2011 Theoriebildungsphase (5) Aufarbeitung von Aspekten der Theatersemiotik, suprasegmentaler Phonologie, Intermedialitätsforschung und Theorie des Performativen
2012 Datenauswertung (3): erneute Durchsicht des Materials Erarbeitung der Analysemodelle unter Einbeziehung semiotischer, phonologischer, intermedialer, interaktionaler und performativer Aspekte
Datenaufbereitung (2)systematische Datenauswertung (4) Überarbeitung der Videografie, erneute, erweiterte Analyse der Erzählstunden mithilfe der Analysemodelle
2013 Verfassen des Theorieteils A Kapitel 1-7
2014-2015 Verfassen des empirischen Teils B Kapitel 8-9
Datenauswertung (5) Inhaltsanalyse der Interviews
Schreiben des empirischen Teils B Kapitel 10
2016 Theoriebildungsphase Auswertung der Ergebnisse der Studie, Erarbeitung der Konzepte für die Unterrichtspraxis
Formulieren der Ergebnisse der Studie, Verfassen von Teil C der Arbeit Kapitel 11, 12, 13
Überarbeitung des Manuskripts

Tab. 2:

Ablaufschema der Studie

Die Ergebnisse des Forschungsprozesses werden in der vorliegenden Studie in einem Dreierschritt dargestellt.

Der konzeptionelle Teil A (Kap. 3-7) erkundet die Potenziale mündlichen Erzählens als Performance in den vorgesehenen vier Dimensionen. Verbunden mit der Potenzialrecherche werden in diesen Kapiteln die für die Analyse der Erzählperformances und der narrativen Aktivitäten der Lernenden relevanten Kriterien entwickelt und in Analysemodellen dargestellt. Kapitel 7 führt in einem Zwischenfazit die Ergebnisse des konzeptionellen Teils zusammen und erstellt ein mehrdimensionales Potenziale-Modell.

Der empirische Teil B (Kap. 8-10) enthält die detaillierten Analysen der Videografien der beiden ausgewählten Erzählstunden und die Analysen der Interviews mit ihren Akteuren. Kapitel 10.3 führt die empirischen Analyseergebnisse zusammen. Es vergleicht die in den Erzählstunden sichtbar gewordenen Potenziale mit den von den Akteuren entdeckten Potenzialen. Die in Teil A erstellten Modelle werden überarbeitet.

Im abschließenden Teil C werden die Ergebnisse des konzeptionellen und des empirischen Teils der Studie zusammengeführt und Impulse zur performativen Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht formuliert. Kapitel 11 erläutert die in der Analyse der Erzählstunden ermittelten Gelingensbedingungen zur Ausschöpfung der Potenziale mündlichen Erzählens und entwickelt auf dieser Basis praxisorientierte Konzepte. Kapitel 12 reflektiert den Forschungsprozess der Studie, erläutert ihre Gütekriterien und diskutiert ihre Reichweite. Kapitel 13 gibt einen Ausblick auf Möglichkeiten, die Ergebnisse der Studie für den kompetenzorientierten und performativen Fremdsprachenunterricht zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Teil A: Mündliches Erzählen als Performance: konzeptionelle Grundlagen

3 Erzählen in Mündlichkeit: die Dimension des Narrativen

In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkseitigen, narrativen Dimension mündlichen Erzählens als Performance erforscht. Ausgehend von dem intermedialen Erzählmodell Werner Wolfs (Kap. 3.1) werden zunächst die Natur des Narrativen als kognitives Schema, die Konstituenten des Modells, die Funktionen des Narrativen sowie seine prototypischen Elemente und damit die Graduierbarkeit des Narrativen erläutert. Die intermediale Konzeptualisierung des Narrativen liefert zum einen die konzeptionellen Voraussetzungen zu einer mehrperspektivischen Recherche des Erzählpotenzials, zum andern die strukturellen Potenziale der narrativen Diskursform. Nach der intermedialen Öffnung der Perspektiven wird in einem zweiten Schritt (Kap. 3.2) eine mediale Realisierung, das verbale Erzählen, in den Blick genommen und aus der Diskursform mündlich-verbales Erzählen dessen kommunikatives und interaktives Potenzial ermittelt. Der dritte Schritt (Kap. 3.3) fokussiert auf das Potenzial fiktionaler Erzählungen und der vierte auf das Potenzial des Märchens als Genre der Allgemein- und der Kinder- und Jugendliteratur (Kap. 3.4). In einem letzten Schritt (Kap. 3.5) wird das Potenzial der Medialität mündlichen Erzählens erkundet. Dabei wird unterschieden zwischen der medialen und der konzeptio­nellen, werkinternen Mündlichkeit. Strategien der Modellierung konzeptio­neller Mündlichkeit werden erläutert. In Kapitel 3.6 werden aus den zuvor erörterten Merkmalen des Narrativen und des mündlich-verbalen Erzählens Kriterien zur funktionalen Interpretation mündlich-verbaler Erzählungen entwickelt und der erste Teil des Fünf-Dimensionen-Modells zur Analyse von Erzählperformances wird erstellt. Kapitel 3.7 stellt die Potenziale der narrativen Dimension im Gesamtzusammenhang dar.

 

3.1 Intermediale, grenzüberschreitende Konzeptualisierung des Narrativen

In diesem Kapitel (3.1) werden die strukturalistische Modellbildung und davon abgegrenzt die intermediale Modellierung des Narrativen erörtert und daraus die konstitutiven (Kap. 3.1.1) und prototypischen (Kap. 3.1.2) Elemente des Erzählmodells entwickelt.

Die systematischen Modellbildungen der textwissenschaftlich orientierten, strukturalistischen Narratologie beschränken sich überwiegend auf das verbale Erzählen (Scheffel 2010: 328f., Nünning 2004b: 160, Fludernik 2010: 118f.). Eine Forschungsrichtung dieser Narratologie pflegt einen weiten Begriff des Erzählens, in dem „als notwendig die Darstellung der zeitlichen Sequenzialität eines Geschehens, nicht aber der Entwurf von Geschichten“ (Scheffel 2010: 329) angesehen wird. Eine zweite Forschungsrichtung fasst den Begriff enger und fordert als zusätzliches Kriterium das der Kausalität (a.a.O.) ein. Bei beiden Richtungen, d.h. in „jeder Art von narratologischer Modellbildung“ (a.a.O.), gilt die Unterscheidung zwischen der Tätigkeit Erzählen und ihrem Produkt, der Erzählung, sowie die Unterscheidung zwischen histoire und discours als grundlegend. Zentral für die textwissenschaftlich ausgerichtete Narratologie ist darüber hinaus die Annahme einer erzählerischen Vermittlungsinstanz1. Die bisher genannten, „als kanonisch“ (a.a.O.) angesehenen Konstituenten strukturalistischer Erzähltheorie, das Zwei-Ebenen-Modell und die Annahme der Erzählinstanz sowie ein weiter Begriff des Erzählens, werden in der vorliegenden Studie der narratologischen Konzeption des Forschungsgegenstandes Erzählen zugrunde gelegt. Da ich mich nicht auf die Untersuchung rein verbaler Vermittlungsformen beschränken möchte, werde ich weitere Modellierungen des Narrativen heranziehen. Dazu gehören narratologische Forschungsrichtungen, die der postklassischen Phase der Narratologie (Scheffel 2010: 330) zugerechnet werden, einen kognitivistischen Ansatz verfolgen und die pragmatische Dimension des Erzählens (Nünning 2004b: 160) in ihre Modellbildungen einbeziehen2.

Postklassische narratologische Ansätze sehen das Erzählen als ein intermediales, grenzüberschreitendes Phänomen an (u.a. Nünning / Nünning 2002d: 1-22, Wolf 2002a: 23). Ansgar und Vera Nünning versuchen, von der in der klassischen Phase der Narratologie vertretenen monomedialen zu einer transgenerischen, intermedialen und interdisziplinären Auffassung des Narrativen (Nünning / Nünning 2002d: 1-22) zu gelangen und, anknüpfend an die Ergebnisse der klassischen Phase, neue Modelle für eine grenzüberschreitende Erzähltheorie zu entwickeln, die sich nicht auf das verbale Erzählen beschränkt. Erzählen, so Nünning / Nünning, habe Hochkonjunktur (2002b: 2) in vielen Gattungen und Medien3. Die sich darin repräsentierenden narrativen Formen und deren unterschiedliche Funktionen sind „seit einigen Jahren zu einem zentralen Anliegen unterschiedlicher Disziplinen geworden (a.a.O.)“. Zu diesen Disziplinen ist auch die Fremdsprachenforschung zu rechnen, in der Erzählungen einerseits als Untersuchungsobjekte, andererseits als Darstellungsmodi genutzt werden.

Die von Werner Wolf (Wolf 2002a, 2002b) entwickelte Konzeptualisierung des Narrativen stellt einen ersten systematischen Versuch narratologischer Neukonzeptualisierung dar, die sich in besonderer Weise dazu eignet, einem grenzüberschreitenden Potenzial des Erzählens auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund lege ich meiner eigenen Konzeptualisierung das grenzüberscheitende Wolfsche Modell zugrunde und ziehe das kanonische Modell zur Lösung verbalspezifischer Problemfelder heran. Letzteres als bekannt voraussetzend, erläutere ich im Folgenden lediglich die Basisentscheidungen und Strukturelemente des Wolfschen Konzepts unter dem Aspekt ihrer Brauchbarkeit für die Recherche grenzüberschreitender Erzählpotenziale.

Die Konzeptualisierung einer grenzüberschreitenden Erzähltheorie geht, so Wolf, von einer „bislang hauptsächlich intramediale[n]“ (Wolf 2002a: 26) zu einer intermedialen Narratologie“ (a.a.O.) und muss in einem notwendig ersten Schritt das Phänomen des Narrativen ausleuchten. Um die „Einäugigkeit“ (a.a.O.) intramedialer Narratologie4 zu vermeiden, die das Narrative vornehmlich aus der Perspektive verbal-literarischer Medien untersucht, eröffnet Wolf neue Perspektiven dadurch, dass er in einem dreistufigen Modell das Konzept des Narrativen von dessen Vermittlungsformen in unterschiedlichen Medien und von dessen Erscheinung in Gestalt konkreter Werke konzeptionell trennt und das Narrative selbst als ein medienunabhängiges Phänomen definiert. Im Rekurs auf einen „kognitiven, funktionalen und prototypischen approach“ (a.a.O.) macht Wolf zur Definition des Phänomens drei Fragenbereiche aus: „die Frage nach der Natur des Narrativen“ (2002a: 28), „die Frage nach den Funktionen“ (a.a.O.) und „die Frage nach seinen werkinternen Faktoren, d.h. seiner werkinternen Organisation“ (a.a.O.).

3.1.1 Konstituenten des intermedialen Erzählmodels: das Narrative und die Narreme

Die erste Frage, die Frage nach der Natur des Narrativen, löst Wolf im kognitiven approach. Er legt sich in Abwägung von drei unterschiedlichen Positionen zum ontologischen Status des Narrativen auf „die für eine intermediale Narratologie brauchbarste Variante“ (2002a: 29) fest, auf das Narrative als kognitives Schema:

Ich fasse also das Narrative (und damit auch den Akt seiner Realisierung, das Erzählen) als kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne der frame theory auf, d.h. also als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungsgesteuertes Konzeptensemble, das als solches medienunabhängig ist und gerade deshalb in verschiedenen Medien und Einzelwerken realisiert, aber auch auf lebensweltliche Erfahrung angewandt werden kann.“(a.a.O.)

Die Konzeptualisierung des Narrativen als kognitives Schema schließt eine interaktive Vorstellung des Rezeptionsprozesses ein. Danach enthält das narrative Werk Signale des Narrativen, sog. Narreme, die als Stimuli (a.a.O.: 43ff.) des Narrativen fungieren und von den Rezipienten des Werks zu erfassen sind. Auf dieser Grundlage können sie das gespeicherte kognitive Schema aufrufen und aktivieren. Das Narrative setzt also einen beidseitigen (produzenten- und rezipientenseitigen) Narrativierungsprozess voraus (Wolf 2002a: 52f.).

Der funktionale approach führt zur zweiten Frage, der Frage nach den Funktionen des Narrativen. Wolf kann sich zur Diskussion dieses Aspekts auf eine umfangreiche Literatur stützen, die mit ihm als Grundfunktion des Narrativen die „Bedeutung für und die Wirkung auf bestimmte Bedürfnisse des Menschen“ (a.a.O.: 32) sieht. Drei „anthropologische Grundbedürfnisse des Menschen“ (a.a.O.), auf die das Narrative antworten kann, lassen sich herausschälen:

 „die Sinngebungs- oder ‚philosophische’ Funktion“ (a.a.O.) des Narrativen, das für den Empfänger Sinnangebote bereitstellt und Impulse zur Konstitution des eigenen Ich und zur Fremdwahrnehmung gibt,

 „die repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion“ (a.a.O.: 33) des Narrativen, das für den Rezipienten Konstruktionen von Fiktivem in kohärenter Form bereit hält und ihm als Produzenten die (Re-)Konstruktion von eigenem und fremdem Erlebtem ermöglicht, wobei hier (im Gegensatz zur nächsten Funktion) auf innersubjektive Vorgänge abgehoben wird, und

 „die kommunikative, soziale und unterhaltende Funktion“ (a.a.O.) des Narrativen, das zur Mitteilung von eigenem oder fremden Erlebtem aus unterschiedlichen Anlässen, zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden kann, wobei hier auf intersubjektive Vorgänge abgehoben wird1.

Der funktionale approach ergänzt den kognitiven approach dadurch, dass er pragmatische Aspekte ins Spiel bringt und mit der Frage ‚Wozu und mit welchen Wirkungen wird erzählt?‘ den Blick über die intermedialen Aspekte des Narrativen hinaus auf werkexterne, kulturelle und soziale Aspekte richtet.

Die dritte Frage, die Frage nach den werkinternen Faktoren des Narrativen, löst Wolf in Auseinandersetzung mit drei verschiedenen Forschungsansätzen, wozu erstens die Minimaldefinition des Narrativen (bei der Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit als die bestimmenden Faktoren fungieren), zweitens der Versuch einer Maximaldefinition (in Gestalt einer umfassende Liste von narrativen Merkmalen) und drittens der prototypische approach gehören. Letzteren hält er für geeignet, um der Frage nach denjenigen Elementen nachzugehen, die notwendig sind, „um das Schema des Narrativen in einem Text, einem Artefakt zu realisieren“(Wolf 2002a: 34).

Der prototypische Ansatz hat den Vorteil, dass das Narrative mit einer „Pluralität von Faktoren, die der Prototyp besitzt“ (a.a.O.: 35), er erfasst werden kann, dass aber „ein konkret dem Prototypen zuzuordnendes Phänomen nicht alle diese Faktoren […] aufweisen muss und trotzdem noch eine ‚Familienähnlichkeit’ mit diesen haben kann.“ (a.a.O.). Das Narrative ist demzufolge graduierbar, was bedeutet, dass ein konkretes Werk eine mehr oder eine weniger große Nähe zum Prototypen haben und trotz größerer Ferne immer noch als Realisierung des Narrativen angesehen werden kann. In der Graduierbarkeit des Narrativen liegen letztlich seine intermedialen Fähigkeiten begründet, denn die Möglichkeit eines großen Abstandes zwischen dem Prototypen und einem ‚fernen Verwandten’ bietet die Chance, unter dem Begriff des Narrativen vielfältige Realisierungsformen zu subsummieren. Die Graduierbarkeit des Narrativen ist auch Voraussetzung dafür, dass das Narrative nicht nur als intermediales Phänomen angesehen werden kann, das sich von einem Medium ins andere überführen lässt (z.B. aus dem verbal-literarischen ins theatralische), sondern dass es auch ein „transmediales Phänomen innerhalb einer Typologie intermedialer Formen“ (Wolf 2002a: 36) darstellt, das sich, weil grundsätzlich medienunabhängig, in unterschiedlichen medialen Formen realisieren kann2.

Aus den bisher erläuterten Basiselementen des Wolfschen Erzählmodells ergeben sich folgende Qualitäten des Narrativen:

 Das Narrative wird als kognitives Schema definiert, das „auf lebensweltliche Erfahrung wie Artefakte verbaler und nicht-verbaler Art anwendbar ist.“ (a.a.O.: 42)

 Das Narrative „ist […] funktional determiniert.“ (a.a.O.: 38)

 Das Narrative wird als transmediales und graduierbares Phänomen aufgefasst.

 Das Narrative ist „wesentlich formaler Natur, d.h. inhaltsunspezifisch und daher […] unzähligen Inhalten offen stehend.“ (a.a.O.)

 Die Grundqualitäten des Narrativen lassen sich auf einen Prototypen beziehen.

Das Narrative als kognitives Schema ist Bestandteil der Konstituenten des intermedialen Erzählmodells3, das seinerseits drei Ebenen umfasst: die Konstituenten des Erzählens, die narrativen Vermittlungsformen und die Resultate des Erzählens4, worunter konkrete narrative Werke bzw. Werkteile zu verstehen sind. Von zentraler Bedeutung für die Recherche des Erzählpotenzials sind neben der Auffassung des Narrativen als kognitivem Schema die Charakterisierung und Kategorisierung der Narreme als Konstituenten des Erzählens. Sie sind Grundlage für die Ausarbeitung des Prototypischen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Narreme fungieren im Wolfschen Modell als werkinterne Faktoren des Narrativen. Sie sind zugleich „Stimuli, die innerhalb des Textes das Schema des Narrativen indizieren.“ (a.a.O.: 43) Wolf teilt sie ein in qualitative, inhaltliche und syntaktische Narreme (Wolf 2002a: 44).

1 Zu den qualitativen Narremen gehören die aus der Funktion des Narrativen resultierenden, d.h. erzählerische Elemente, die „auf eine insbesondere die Zeitlichkeit involvierende Sinndimension“ (a.a.O.) zielen, ferner repräsentierende und rekonstruierende Elemente, die seine Darstellungsqualität und diejenigen, die seine „Erlebnisqualität […] bzw. die Qualität des Miterleben-Lassens des Erzählten“ (a.a.O.) ausmachen.

2 Zu den inhaltlichen Narremen rechnet Wolf die in der strukturalistischen Erzähltheorie vornehmlich zur histoire gehörenden Elemente Zeit, Ort, anthropomorphe Wesen als Figuren einer Geschichte und „de[n] Kern des Narrativen, die äußere Handlung bzw. das Geschehen“ (2002a: 45), den er als das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (2002a: 46) bezeichnet.

 

3 Unter syntaktischen Narremen versteht Wolf die für das Erzählerische typischen Gestaltungsprinzipien, mit deren Hilfe die inhaltlichen Narreme zusammengefügt werden. Das sind die Prinzipien der textinternen Relevanz und der formalen Einheitsbildung (2002a: 47), die realisiert werden durch:narrationstypische Verknüpfungsformen wie die Chronologie der erzählten Zeit,eine begrenzte Wiederholung von Ähnlichem oder Identischem“ (a.a.O.),die „vorwärts gewandte“ (Wolf 2002a: 49) Teleologie, d.h. ein Erzählen auf den (Höhe-)Punkt hin, und das Gegenstück, die rückwärts gerichtete Kausalität, wobei Teleologie und und Kausalität von Wolf als typische, nicht aber notwendige Narreme angesehen werden (2002a: 50),die „intellektuelle wie emotionale Spannung“ (2002a: 48),die thematische Einheitsstiftung, wozu Wolf auch die Erzählwürdigkeit, die Tellability (2002a: 50) rechnet.

Zu den syntaktischen Narremen werde ich auch die (prototypische) Makrostruktur narrativer Diskurseinheiten rechnen und mich dabei auf das von Larivaille (1974: 387) entwickelte und von Reuter (1991: 46)5 aufgenommene schéma quinaire mit den fünf großen Etappen stützen.

Ebenfalls zu den syntaktischen Narremen werde ich die von Becker (2013a) im Rekurs auf Boueke / Schülein (1991) entwickelte Kategorie des Planbruchs zählen. Der Planbruch bewirkt im Gegenzug zum Prinzip der Teleologie, „daß der ursprüngliche ‚Plan‘ der Aktanten durch ein nicht zu erwartendes Geschehen durchbrochen wird.“ (2013a: 37) Im Zusammenwirken von Zielorientheit des Geschehens und der damit verbundenen Aufgabe des Helden, Hindernisse zu überwinden, sieht Becker „ein Kriterium zur eindeutigen Definition der Erzählung.“ (a.a.O.) Zum Prinzip der Spannung, die durch Hindernisüberwindung, Planbruch, Erwarten der Lösung hervorgerufen wird, gehört für Becker als weiteres Merkmal des Narrativen die Affektmarkierung – Textelemente, die die Emotionalität der Geschichte hervorbringen. Dazu gehören u.a. die Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen und die emotionale Bewertung der Ereignisse durch den Erzähler.

Die Kategorien des Planbruchs und der Affektmarkierung können durch die von Ahrenholz (2006b: 95, 106) im Rekurs auf das Quaestio-Modell entwickelten Kategorien der Haupt- und Nebenstrukturen ergänzt werden. In diesem narrationstheoretischen Bezugsrahmen gilt als Hauptstruktur das Handlungsgerüst der Geschichte, das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46). Als Nebenstrukturen werden die den „Kern des Narrativen“ (a.a.O.: 45) erweiternden Elemente wie z.B. Beschreibungen von Figuren, Stimmungen, Gefühlen angesehen. Nebenstrukturen stellen wie die Prinzipien der Teleologie und Kausalität typische, aber nicht notwendige narrative Narreme dar.

Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenstrukturen wird in die Liste sowohl der inhaltlichen als auch der sytaktischen Narreme aufgenommen: als Erweiterung des ‚prototypischen Rückgrats des Narrativen‘ und als Beispiel zur Herstellung semantischer Kohärenz. In dieser Funktion werden sie im Kontext der Erarbeitung von Kriterien zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen eine wichtige Rolle spielen.