Koppelgeschichten - von und mit Pferd

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Koppelgeschichten - von und mit Pferd
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Gabi Lohmann

Koppelgeschichten - von und mit Pferd

13 Pferdegeschichten zum Miterleben, Genießen und Entspannen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Einleitung

Firlefanz

Calimero

Peter / Donatello

Ilias

Sandra

Schneewittchen

Debbie

Luna

Casper

Prof. Dr. Schiwago

Gipsy / Chamberly

Don Rubico / Trouble

Farina

Nachspann

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Impressum neobooks

Kapitel 1

Vorwort:

Einige Teile dieser Geschichten mögen bekannt vorkommen und doch möchte ich hier noch einmal ausdrücklich festhalten:

Alle Geschichten, Personen und Tiere sind frei erfunden! Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig. Im Laufe eines Reiterlebens erlebt man viel, hört und liest noch mehr. Dazu eine blendende Fantasie und fertig sind die

Koppelgeschichten“

Ausdrücklich möchte ich mich auf diesem Wege bei meinen Freundinnen Petra, Anne und Birgit bedanken. Petra, für die Beisteuerung ihrer Geschichte und Birgit und Anne, für ihr unermüdliches Kontrolllesen, sowie die konstruktive Kritik. Rückmeldungen zu diesem Buch sind erwünscht. Schreiben Sie mir Ihre Kommentare einfach unter: glohmann@rocketmail.com

Und nun – viel Spaß beim Lesen!

Einleitung

Die Sonne steht hoch am Himmel und wärmt mit ihren Strahlen die Felder und Wiesen. So weit das Auge reicht, sieht man das kräftige Grün frischen Grases durchzogen von den gelben Tupfen des Löwenzahns. Die Vögel zwitschern und die Bienen sammeln mit Fleiß die ersten Pollen. Und davon gibt es hier reichlich. Weide an Weide reiht sich, durch stabile Koppelzäune und zusätzlichen Elektrodraht getrennt: ein Paradies für Pferde!

In diesem Jahr hat der Frühling ungewohnt früh Einzug gehalten. Es ist erst Mitte April, doch die Menschen tragen kurzärmlige T-Shirts, einige sogar kurze Hosen. Überhaupt, die Menschen: Sie stehen zum Teil dicht gedrängt an den Weidezäunen, den Blick fest auf den etwas höher gelegenen Hof am Anfang der Weiden gerichtet. Einige von ihnen halten Fotoapparate in der Hand, deren Objektive aber noch auf den Boden zeigen. Es liegt eine nervöse Spannung in der Luft. Selbst die Spaziergänger scheinen es zu spüren. Familien mit Kinderwagen halten inne und folgen mit ihren Köpfen der Blickrichtung der anderen. Aus der Ferne hört man das Wiehern eines Pferdes.

„Jetzt gib schon Ruh’ Farina!“ Oben auf dem Hof schimpft eine resolute ältere Frau mit ihrem Pferd, das an seinem Führstrick zappelt und dabei immer wieder fordernd wiehert. „Man sollt’ nicht glauben, dass du schon dreißig Jahre auf dem Buckel hast!“

„Ja, ja, in Ehren ergraut und dabei nichts dazu gelernt“, stichelt ein junges Mädchen. Sie unterbricht kurz ihre Arbeit – das Eindecken des Kaffeetisches – und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber du hast Recht, Anita. Deiner Farina sieht man ihr Alter wirklich nicht an. Wart ihr spazieren?“

„Ja, eine Runde durch den Wald.“ Anita zieht den Kopf ihres Pferdes energisch zu sich. „Wenn gleich die Koppelsaison eröffnet wird, soll die alte Dame sich ihre Muskeln vorher besser etwas aufgewärmt haben! Du hast deine Luna doch auch eben noch geritten, oder?“

Karin schiebt die letzten Teller zurecht. „Klar. Wir sind zwar neu hier, aber ich kann mir gut vorstellen, was gleich los sein wird. Die Pferde lechzen geradezu nach Freiheit und Gras. Die Winterkoppel ist da nur ein kleiner Ersatz. Und wenn ich dann noch die ganzen anderen Pferdebesitzer mit ihren Fotoapparaten unten an der Weide stehen sehe. Doch, ich gehe davon aus, dass gleich einiges geboten ist!“ Karin lacht und geht zu Anita und Farina hinüber. Sie streichelt der alten Fuchsstute über die Stirn, was die aber gar nicht zu bemerken scheint.

„Und warum bist du nicht bei den anderen?“ Anita zupft versuchsweise an dem Führstrick, um die Aufmerksamkeit ihres Pferdes wieder auf sich zu lenken, aber erst der Griff in die Jackentasche durchbricht die Starre ihrer Stute. „Wie gut, dass die Viecher so verfressen sind“, brummt sie vor sich hin.

„Luna darf als zweite auf die Weide, direkt nach Farina. Ich führe sie bis zum Koppeltor und bleibe dann zum Zuschauen unten.“ Karin klopft auf die Tasche ihrer Reitweste. „Meinen kleinen Fotoknips habe ich auch dabei. Da wird der eine oder andere Schnappschuss bestimmt drin sein!“ Sie lacht fröhlich. „Schau mal. Da kommt Eugen. Ich glaube, es geht los.“

Eugen, der Mann fürs Grobe auf dem Hof, nähert sich fröhlich pfeifend. „Wie schaut es aus? Seit ihr soweit?“ Er wirft einen prüfenden Blick auf Anitas aufgeregte Stute. Farina hat damit begonnen, ihre Besitzerin mit schnellen Schritten zu umkreisen. „Soll ich sie dir abnehmen?“

Anita zuckt unter Eugens mitfühlendem Blick zusammen. „Ähm, nein. Geht schon.“ Sie seufzt, zieht noch einmal an dem Führstrick, dann wird ihre Stimme energisch. „Und du, junge Dame, pass jetzt mal auf!“ Farina zuckte zusammen. Sie stoppt abrupt und wendet ihren Kopf mit gespitzten Ohren zu ihrer Besitzerin. „Welche Koppel ist für uns gedacht?“

„Sandra meinte, die ganz hinten. Ist zwar die kleinste, aber eure Gruppe besteht ja nur aus vier Pferden.“

Sandra, die Besitzerin des Hofes, hat vorab die Koppelherden zusammengestellt.

Anita nickt zustimmend. „Dann wollen wir mal. Und du, Mädel, benimmst dich jetzt!“ Anita dreht sich um und geht mit festen Schritten auf den Wiesenweg zu. Farina weiß scheinbar, dass mit ihrem Frauchen jetzt nicht mehr zu scherzen ist. Zwar schnaubt sie noch aufgeregt und tänzelt immer wieder etwas seitwärts, aber der Halfterstrick zwischen ihr und Anita hängt durch.

„Schau mal. Da kommt Farina“, erklingt es unten von der Weide. „Super, es geht los!“ Die ersten Fotoapparate klicken. Farina trabt jetzt vor Anspannung neben ihrer Herrin. Ein herrliches Bild: Im Fell des Goldfuchses spiegelt sich die Sonne, im Hintergrund das satte Grün der Weide, unterbrochen von zahlreichen gelben Tupfen, dazu der strahlend blaue Himmel – einfach atemberaubend!

Für Anita zieht sich der Weg endlos hin. Sie vertraut zwar auf die gute Erziehung ihres Pferdes, weiß aber auch, dass sie ihrem Tier hier einiges abverlangt. Der Geruch des frischen Grases, die deutlich spürbare Anspannung der Menschen, das Klicken der Fotoapparate, das alles belastet die Nerven ihrer sonst recht ruhigen Stute sichtbar. Als sie das Koppeltor passiert, atmet Anita hörbar auf. Sie dreht ihr Pferd wieder Richtung Hof, steckt Farina ein Leckerli zu und wartet.

Karin hat mit ihrer Luna schon den halben Weg hinter sich. Im Gegensatz zu Farina scheint Luna die Aufmerksamkeit der Menschen geradezu zu genießen. Sie trägt ihren Hals stolz gewölbt, ihre Trabschritte sind langsam und gesetzt mit leicht abgekippter Hinterhand, damit die Hinterbeine tief unter den Körper greifen können. Dieses Pferd trabt nicht – es schwebt! Frei und ungezwungen, taktrein und ohne eine ersichtliche Anspannung – wunderschön!

Karin lacht Anita entgegen. „Sie ist ein ganz schöner Angeber, nicht wahr?“ Auch sie dreht ihr Pferd Richtung Koppelausgang. „Bist du fertig, kann ich loslassen?“

Auf ein Nicken Anitas lassen beide ihre Pferde zeitgleich los und bringen mit ein paar schnellen Schritten Abstand zwischen sich und die Tiere. Und das ist auch gut so. Kaum sind sich die beiden Stuten ihrer Freiheit bewusst, schwingen sie auf der Hinterhand herum und schießen wild buckelnd davon.

„Wie alt, sagtest du, ist dein Pferd?“ Karin schaut fassungslos hinter Farina her. Anita lacht.

„Tja, Alter schützt vor Torheit nicht – selbst nicht bei Pferden!“ Farina liegt inzwischen auf dem Rücken und strampelt mit allen Vieren in der Luft. „Dreißig ist die Dame inzwischen und kein bisschen müde. Aber schau’n wir, dass wir hier wegkommen. Schneewittchen und Gipsy kommen als nächste – und denen möchte ich nicht im Weg stehen!“

Anita zieht Karin mit sich. Beide ducken sich durch den Koppelzaun und stellen sich auf die angrenzende Weide. Farina und Luna haben das Toben und Wälzen eingestellt und widmen sich dem hohen Gras. Selbst die Unruhe oben auf dem Hof kann sie nicht ablenken. Karin zückt ihren Fotoapparat. Oben auf dem Hof klinken Sandra und Eugen die Stricke aus den Halftern der nächsten beiden Pferde. Schneewittchen, die Haflingerstute stutzt nur kurz, dann schießt sie den Weideweg hinunter, wild nach ihren Kollegen wiehernd. Bei Gipsy siegt dagegen die Verfressenheit gegenüber dem Herdendrang. ‚Wieso soweit laufen, liegt das Gute doch so nah’, scheint sie zu denken und versenkt ihre Nase sofort in das duftende Gras auf dem Wiesenweg.

 

Sandra lacht, als Eugen frustriert durchatmet. „Was hast du nur, du musst sie doch am besten verstehen können.“ Sandra deutet auf die dralle Tinker-Stute. „Sie weiß halt, was Hungern bedeutet und was sie einmal im Bauch hat, kann ihr keiner mehr nehmen!“

„Ist trotzdem frustrierend, so langsam sollte sie doch wissen, dass sie es bei mir gut hat! Auf jetzt!“ Eugen lässt den Halfterstrick durch die Luft wirbeln. „Mach, dass du zu deinen Freunden kommst. Die anderen wollen auch noch raus.“ Die Luftgeräusche des Strickes scheinen Gipsy aufzuwecken. Sie keilt einmal in Richtung der Menschen und galoppiert dann zu ihrer kleinen Herde.

Anita schlüpft durch den Koppelzaun und verschließt die Weide hinter dem Pferd. Die vier Stuten haben sich schnell beruhigt und grasen jetzt um die Wette. Karin hilft Anita das Absperrband so zu spannen, dass die nächste Pferdegruppe auf die benachbarte Weide geleitet wird. Sie öffnet noch schnell das Koppeltor und schlüpft dann unter dem Absperrband hindurch auf die vor Pferden sichere Seite.

„Wie viele kommen insgesamt heute in der Gruppe raus. Weiß du das?“

„Ich meine, Sandra hätte etwas von vierundzwanzig gesagt. Genau weiß ich es nicht. Warten wir es mal ab.“

„Bleibst du hinterher auch noch zum Kaffeeklatsch und hilfst die Pferde wieder rein zu holen? Wobei, wieso müssen die nach zwei Stunden schon wieder rein? Meine Luna habe ich die letzten Wochen schon bis zu zwei Stunden an der Hand grasen lassen!“ Karin greift sich einen Grashalm und beginnt, darauf herumzukauen.

„Du bist da ja auch richtig vorbildlich. Aber überleg mal, wie viele von den anderen du beim Grasen getroffen hast: Zehn, wenn’s hochkommt! Die meisten haben entweder keine Lust oder keine Zeit, so lange mit ihrem Pferd an der Hand zu laufen – zusätzlich zum Reiten. Und für diese Pferde sind zwei Stunden für den Anfang schon ziemlich lang. Futterumstellung sollte schließlich immer langsam erfolgen!“

Karin nickt. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen, jeden Tag nur zum Reiten herzukommen. Für mich ist Luna mein Ein und Alles. Naja, vielleicht ändert sich das, wenn ich selbst Familie habe.“

Es dauert nicht lang, dann grasen alle Pferde zufrieden auf der Koppel. Die Fotografen packen begeistert ihre Kameras ein und die Pferdebesitzer treffen sich zum Kaffeetrinken auf dem großen Vorplatz. Wie jedes Jahr wird sich durch Kuchen, Torte und die eine oder andere Geschichte die Zeit vertrieben, bis die Pferde wieder hereingeholt werden müssen.

Schnell sind Kaffee und Kuchen verteilt. Vom Tisch hat man einen guten Blick auf die Pferdeherde weiter unten im Tal. „Schaut mal“, Sandra, die Eigentümerin des Hofes, nickt mit dem Kopf in Richtung der Wallache. „Firlefanz ist heute wieder besonders gut drauf!“

Es stimmt: Ein kleiner Fuchs mischt gerade mit wilden Bocksprüngen die Herde auf.

„Wie alt ist dein Pferd eigentlich, Mareike?“

„Firlefanz ist jetzt siebzehn! Und seit sieben Jahren gehört er mir.“ Zufrieden beißt Mareike in ihren Napfkuchen.

„Schickes Tierchen. Wie bist du denn an den gekommen?“ Martina beugt sich neugierig vor, um das Toben der Pferde besser beobachten zu können.

„Ja, erzähl, wie kommt man zu einem Pferd, das so gut zu einem passt. Wenn man euch beide zusammen sieht, das ist einfach genial. Ihr seid ein tolles Team!“ Lotte, die älteste Reiterin am Stall, nickt bestätigend.

„Seid ihr sicher, dass ihr wissen wollt, wie ich zu meinem kleinen Roten gekommen bin?“ Mareike blickt zweifelnd in die Runde. „Der Anfang ist so gar nicht lustig.“

Die anderen schauen sie nur erwartungsvoll an. Mareike seufzt. Ihre Augen gleiten zu dem Fuchs auf der Koppel.

„Ich kannte Firlefanz schon eine ganze Zeit, sozusagen ‚aus der Ferne‘ “, beginnt sie.

Firlefanz

„Mareike bist du endlich so weit? Wir müssen los!“ Heike schloss die Verriegelungen an der Transporterklappe. Ich suchte noch schnell die letzten Sachen zusammen: Kopfnummer, Fellhandschuh fürs Blankpolieren und ein paar Zuckerstücke als Belohnung. Ein kurzer prüfender Blick durch die Sattelkammer – nein, nichts vergessen. Als ‚TT‘ = Turniertrottel, war ich für die Ausrüstung von ‚Topgun‘ verantwortlich. ‚Turniertrottel‘ klang so herrlich abwertend! Dabei machte es mir Spaß, Heike auf ihre Turniere zu begleiten. Topgun war Heikes Pferd und ich seit inzwischen sieben Jahren ihre Reitbeteiligung.

Topgun, dieser herrliche einzigartige Hannoveraner. Ein Schimmel, erst grau jetzt fast schneeweiß, von 14 Jahren. Mit seinen 173cm Stockmaß eigentlich viel zu groß für mich. Aber irgendwie hatten wir uns immer arrangiert. Er war ein Herr, wie er im Buche steht: keinerlei Unarten und immer bereit zur Arbeit. In den sieben Jahren, seit ich ihn kannte, war er nicht einmal ernstlich krank gewesen.

Schnell schlüpfte ich zu Heike ins Auto. „Denn man los. Immerhin brauchen wir mindestens eine Stunde.“ Heike fuhr vorsichtig an.

Heike – sie hatte Topgun fünfjährig als Freizeitpferd erworben. Ein paar kleine Turniere vielleicht mal dann und wann waren geplant gewesen. Und dann hatte sich Topgun als ‚Schleifengarant‘ entpuppt. Dressur wie Springen: Beides lag ihm und inzwischen ritten Heike und ich auf M-Niveau! Nie hätte ich mir das träumen lassen!

Für Heike war Reiten nur ein Hobby. Mit ihren 50 Jahren war sie in ihrem Beruf sehr erfolgreich und hatte eigentlich gar keine Zeit für ein eigenes Pferd. Aber da Geld bei ihr reichlich vorhanden war, entschied sie sich damals für Topgun und einen Komplett-Beritt.

Der Bereiter war gleichzeitig auch mein Reitlehrer, und als mein Reitabzeichen-Pferd kurz vor der Prüfung lahm ging, fragte er kurzerhand Heike, ob wir Topgun ausleihen dürften. So begann meine Zeit mit dem wunderschönen Tier.

Mein Reitabzeichen bestand ich mit Bravur. Topgun und ich harmonierten wunderbar zusammen – und Heike gefiel, was sie sah. Sie bot mir eine kostenlose Reitbeteiligung, wenn ich bereit war, das gesparte Geld für Einzelstunden zu investieren. Wie war ich froh, als meine Eltern zustimmten! Mit meinen damals 15 Jahren hätte ich mir so eine Entwicklung nie träumen lassen.

Sieben Jahre später staunte ich im Rückblick immer noch, was mir sozusagen ‚in den Schoß gefallen‘ war. Am Anfang hatten Heike und ich beide an den Turnieren teilgenommen. Aber bald machte es mir einfach nicht mehr so richtig Spaß. Lieber ‚tanzte‘ ich daheim allein oder unter Aufsicht unseres Reitlehrers mit Topgun durch die Halle oder ging einfach mal ins Gelände.

Bei Heike war das anders: Sie genoss den unerwarteten Erfolg. Sie ritt an ein bis zwei Tagen in der Woche und ging am Wochenende Turnier. An den turnierfreien Wochenenden hatte ich Topgun für mich. Es war nicht so, dass Heike Topgun nicht schätzte, aber für sie war er halt ‚nur‘ ein Pferd. Eine richtige Beziehung hatte sie nie zu ihm aufgebaut. Am Anfang hatte ich es nicht verstanden – nein, ich habe es bis heute nicht kapiert: Wie kann man ein Lebewesen besitzen, es aber gefühlsmäßig nicht an sich heranlassen? Andererseits hatte es den Vorteil, dass Heike nie eifersüchtig wurde, wenn Topgun mir entgegen wieherte. Sie konnte darüber lächeln.

Die Fahrt verlief wortkarg wie meistens. Aber das störte mich nicht. Nach sieben Jahren waren Heike und ich ein eingespieltes Team. Jeder wusste, was er von dem anderen zu erwarten hatte.

Den Turnierplatz kannten wir vom vorangegangenen Tag. Gestern war Topgun in einer L-Dressur und einem L-Springen gestartet und war beide Male platziert worden. Das Springen hatte er sogar gewonnen! Für heute stand eine M-Dressur morgens und ein M-Springen nachmittags auf dem Plan. Heike suchte einen Platz ganz am Ende der zum Parkplatz degradierten Wiese. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, ein kleines Stück ‚Parkplatz‘ neben dem Transporter mit Stangen und Litze abzustecken, sodass Topgun zwischen den Prüfungen etwas grasen konnte. Bisher hatte sich noch keiner beschwert, zumal wir, wie gesagt, ganz hinten parkten.

Heike machte sich auf den Weg zur Meldestelle, während ich Topgun auslud und für die Prüfung sattelte. Wir hatten noch etwas Zeit und so ritt ich mit Topgun außen um den Turnierplatz zwischen den Feldern die Wege auf und ab. Ich genoss die beginnende Wärme der Sonne auf meinen Beinen. Topgun schnaubte zufrieden und ließ den Kopf hängen. Nie würde er versuchen schnell einen Grashalm zu naschen – Trense im Maul hieß ‚Arbeiten‘ - und nicht ‚Fressen‘. Mein Blick strich aufmerksam über den Weg vor mir. Leichte Unebenheiten waren für Topgun kein Problem, aber ich wollte nicht auf dem unbekannten Weg unversehens in ein Loch geraten. Es war ein wunderschöner Morgen: Das Gras glänzte noch feucht vom Morgentau, die Luft war kühl und frisch. Vögel strichen auf der Suche nach Futter über die abgeernteten Felder. Ich spürte unter mir die kraftvolle Bewegung meines Pferdes. Ich schloss kurz die Augen und genoss die friedliche Umgebung.

Rechtzeitig eine halbe Stunde vor Prüfungsbeginn traf ich mit Topgun am Abreiteplatz ein. Heike wartete bereits dort, in eine Unterhaltung mit einem befreundeten Reiter vertieft. Ich grübelte kurz, während ich mich aus Topguns Sattel gleiten ließ. Richtig, Stefan hieß er. Mit Menschen-Namen hatte ich es einfach nicht so. Aber sein Pferd, ein kleiner quirliger Fuchs namens Firlefanz, war mir noch gut im Gedächtnis. Ich verharrte kurz, mein Gesicht in Topguns Mähne verborgen und atmete den Duft des Wallaches. Firlefanz hatte gestern auch an den beiden Prüfungen teilgenommen. Während Topgun – wie soll ich sagen – die Prüfung wie ein ‚Erwachsener‘, der sich seiner Verantwortung voll bewusst ist, absolviert hatte, jagte Firlefanz wie ein übermütiger Jugendlicher durch den Parcours. Viel hatte er nicht ganz gelassen. Andererseits konnte ich mich an Tage erinnern, an denen es uns der kleine Fuchs verdammt schwer gemacht hatte. Wenn Firlefanz wollte, konnte er ein harter Konkurrent sein. Nur wollte er, sehr zum Ärger seines Reiters, nicht sehr häufig.

Ich schmunzelte vor mich hin. „Na, Stefan“, neckte ich ihn. „Meinst du, dein Pferd hat es sich über Nacht anders überlegt und nimmt diesmal an der Prüfung teil?“

Stefan lachte trocken. „Klar! Ich habe es ihm auf der Hinfahrt noch einmal deutlich erklärt: Kleine weiße Stangen auf dem Boden sind Dressurplatzbegrenzungen und dürfen nicht übersprungen werden. Ich glaube, er hat es verstanden. Und wenn er so springt wie gestern – und die Stangen liegen bleiben, habt ihr es heute Nachmittag ganz schön schwer!“

Ein Junge kam auf Firlefanz angeritten und übergab ihn an Stefan. Heike saß schon auf Topgun und richtete sich die Bügel. Stefan und Heike ritten nebeneinander auf den Abreiteplatz. Der große Schimmel mit dem ruhigen Blick und den aufmerksam gespitzten Ohren und der kleine zappelige Fuchs mit den wachen Augen und dem unruhig schlagenden Schweif. Zwei Pferde, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten!

In der Prüfung später überraschte Firlefanz uns alle. Als hätte er es sich von Topgun abgeschaut, spulte er die Dressuraufgabe ruhig und souverän ab. Nichts war mehr von der Anspannung am Abreiteplatz zu spüren. Was immer Stefan getan hatte: Er hatte ganze Arbeit geleistet.

Topgun zeigte sich zuverlässig wie immer. Aber bei gleicher Leistung verfügte der kleine Fuchs über einen Hauch mehr Ausstrahlung als unser großer Schimmel, und das brachte Firlefanz an diesem Morgen den Sieg.

Während Stefan und Heike ihren Erfolg im Esszelt feiern gingen, übernahmen der unbekannte Junge und ich nach der Siegerehrung die Pferde. Topgun ging gelassen neben mir her. Er schien mit sich und der Welt zufrieden, während der Junge alle Hände voll zu tun hatte: Firlefanz war nach der Ehrenrunde, die er hatte anführen dürfen, total aufgedreht. Ich schmunzelte vor mich hin und lehnte meinen Kopf an Topguns Hals. Wie liebte ich dieses große zuverlässige Pferd!

Nachdem ich Topgun auf seine Mini-Weide entlassen hatte, genoss ich den Schnitzel-Weck und die Cola, die Heike mir vorbeibrachte. Während sie sich mit Freunden traf, genoss ich die Abgeschiedenheit hier am Ende des Parkplatzes. Dies war für mich die pure Erholung zwischen meinen anstrengenden Studientagen: Auf einem Stuhl sitzend, die Sonne im Gesicht und das Pferd neben mir auf der Weide – was gab es Schöneres?

 

Zum Nachmittag hin richtete ich Topgun für das anstehende Springen. Der Turnierplatz füllte sich nach und nach mit Zuschauern, denn das Springen war als letzte Prüfung auch der Höhepunkt des Turniers. Ich nahm mir wieder die Zeit zwischen den Feldern herumzureiten, denn der Abreiteplatz war den Turnierteilnehmern vorbehalten und zudem sicherlich schon gut gefüllt. Am Abreiteplatz wiederholte sich der Pferdewechsel wie am Vormittag. Nur hatte Stefan diesmal mehr als gute Laune. Sein Pferd hatte seinen ‚guten Tag‘ und seine Chancen, auch im Springen eine Schleife zu gewinnen, standen gut.

Stefan war einer der ersten Starter und zeigte allen, wie man so einen Parcours anging. Ohne einen einzigen Fehler zu machen, hüpfte der kleine Fuchs über die für ihn doch recht hohen Hindernisse. Nach dem letzten Sprung gönnte er sich noch einen kräftigen Buckler, der Stefan fast aus dem Sattel katapultierte. Nach einer kurzen Schrecksekunde bekam Stefan sein Pferd wieder unter Kontrolle. Lachend klopfte er ihm den Hals und ritt strahlend an uns vorbei.

Heike hatte noch viel Zeit. Topgun war einer der letzten Starter. Zwischen Firlefanz und Topgun hatten es bisher nur zwei andere mit einer fehlerfreien Runde geschafft. Topgun enttäuschte Heike nicht. Ruhig und souverän nahm er alle Hindernisse und war damit der vierte und letzte Teilnehmer im Stechen.

Und dann ging alles irgendwie ganz schnell. Ich sehe das Ganze heute immer noch wie einen Film vor mir ablaufen: Firlefanz geht motiviert in das Stechen, verliert aber am letzten Sprung die Lust und zerlegt das gesamte Hindernis. Die beiden andern Teilnehmer reiten wie der Teufel, um eine gute Zeit zu erzielen. Das hilft ihnen aber nicht viel, denn vor der Zeit, zählt die Fehlerfreiheit und beide machen zwei Fehler, also acht Fehlerpunkte. Bisher führt Firlefanz. Stefan stellt sich, sein Pferd am Zügel haltend neben mich. Dann betritt Topgun den Parcours, mein geliebter Topgun. Die Sonne lässt sein weißes Fell schimmern. Er mustert den Parcours wie ein Großer. Ganz ruhig und gelassen galoppiert er auf Heikes Signal an. An jedem Hindernis zieht er an, um mit einem weiten Sprung sicher auf der andern Seite aufzukommen. Dann der Galoppsprung durchs Ziel. Der Film in meinem Kopf wechselt auf Zeitlupe. Heikes Faust reckt sich im Triumph nach oben, Topguns Hinterbeine greifen im Galopp kraftvoll unter seinen Körper, die Muskeln an seiner Hinterhand spielen eindrucksvoll – und plötzlich verschwindet das Pferd aus dem Film. Ich schaue auf den Boden: Topguns Vorderhand ist weggebrochen, der Vorderhuf steht in einem merkwürdigen Winkel zum Vorderbein. Heike löst sich vom Pferd und fliegt durch die Luft. Sie rollt sich zusammen und schlägt ein Stück vom Pferd auf. Topgun wird vom eigenen Schwung weitergetragen und überschlägt sich. Mit einem laut knackenden Geräusch bricht sein Genick. Die Hinterhand schlägt auf und trägt das gesamte Pferd noch ein Stück weiter. Dann liegt es still. Der Staub senkt sich langsam und ich sehe, wie Heike sich langsam aufrappelt. Ihr ist nichts geschehen - nur Topgun liegt so still, so unfassbar still!

***

Mareike wischt sich die Tränen aus den Augen. Dann erzählt sie weiter.

***

Ich weiß noch, wie ich mich von Stefan losriss und zu Topgun stürzte. Ich hielt seinen Kopf und streichelte seine Stirn. Während für mich die Zeit stillstand, handelten die Menschen um mich herum. Fremde Menschen versuchten, mit Decken Topgun und mich vor neugierigen Blicken zu schützen. Heike trat zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter, aber ich schüttelte sie ab. Tränen rannen lautlos über mein Gesicht. Nur nebenbei nahm ich den Tierarzt wahr, der kurz zu Topgun trat, aber mit einem Kopfschütteln signalisierte, dass nichts mehr zu machen sei. Heike redete auf mich ein, aber ich hörte kein Wort. Topgun, eben noch so lebendig, konnte einfach nicht tot sein!

Stefan war es, der mich letztlich mit leichter Gewalt von Topgun trennte. Er hielt mich fest im Arm und führte mich zu Firlefanz, dessen Zügel er locker um einen Pfosten geschlungen hatte. Während er die Zügel löste, klammerte ich mich an Firlefanz‘ Hals und schluchzte hemmungslos – und der unruhige kleine Kerl hielt still, als ob er verstand, wie sehr ich das jetzt brauchte.

Keine Ahnung, wie ich an dem Tag nachhause kam. Stefan hatte sich um alles gekümmert. Und so blieb es auch die nächste Zeit. Heike rief in der Woche nach dem tragischen Unfall an und bat mich, meine Sachen aus dem Spind zuholen. Für sie stand ein längerer Auslandaufenthalt an und sie hatte die Box für diese Zeit ‚untervermietet‘. Nach ihrer Rückkehr wollte sie nach einem neuen Pferd schauen und sie würde sich dann bei mir melden. Was sie, nebenbei gesagt, nie getan hat.

Ich konnte nicht zum Stall gehen. Irgendetwas in mir wollte nicht wahrhaben, dass Topgun nicht mehr da war. Den Anblick seiner leeren Box hätte ich nicht ertragen können! So fuhr Stefan für mich dorthin und nahm meine Sachen in Empfang. Er räumte alles in einen Karton und verstaute ihn auf meine Bitte in den tiefsten Tiefen meines Kellers.

Plötzlich hatte ich viel Zeit. Ich stürzte mich mit vollem Elan auf mein Studium, und wenn Stefan nicht gewesen wäre – ich wäre total vereinsamt!

Er rief immer wieder an und überredete mich zu ein bisschen Abwechslung: Sei es zu einem Kinobesuch oder zu einem Stadtbummel. Gern ließ ich mich ablenken und langsam kamen wir uns näher – nur in den Pferdestall begleitete ich ihn nie. Es wäre mir wie ein Verrat an Topgun erschienen!

So verging fast ein halbes Jahr. Inzwischen waren Stefan und ich fest zusammen. Ich wohnte fast bei ihm – nur zum Lernen zog ich mich in meine Wohnung zurück. Wir verstanden uns hervorragend, nur meine Weigerung den Stall zu betreten, stieß immer mehr auf Stefans Unverständnis. An einem Wochenende kam es dann zum großen Streit.

„Schatz, ich hab da eine kleine unangenehme Neuigkeit“, leicht zerknirscht trat Stefan an das Sofa, auf dem ich ausgestreckt vor mich hin faulenzte. Skeptisch schaute ich zu ihm auf.

„Guten Abend, erst mal!“ Ich setzte mich auf, schlang meine Arme um Stefans Hals und zog in zu mir hinunter. Lachend ließ er sich auf mich fallen, vorsorglich aber sein Gewicht auf den Händen abstützend. Mit Stefan zu kuscheln, ließ mich die Welt um mich herum vergessen! Nach einer Weile löste sich Stefan von mir.

„Du, da ist wirklich etwas, was ich dir sagen muss.“ Stefan setzte sich neben mich und strich sich mit beiden Händen durch sein volles Haar. „Auf der Baustelle in China geht gerade alles Drunter und Drüber. Das lässt sich nicht mehr am Telefon regeln und so haben wir heute beschlossen, dass ich am Sonntagabend runter fliege und es mir vor Ort mal anschaue.“

Ich zuckte mit den Schultern. Es kam immer mal vor, dass Stefan für ein paar Tage geschäftlich verreisen musste – also keine große Neuigkeit. Ich legte meinen Arm um seine Schultern und schmiegte mich an ihn. „Ok. Dann haben wir diesmal nur ein kurzes Wochenende. Wann kommst Du zurück?“

Stefan seufzte. „Das ist das Unangenehme: Diesmal muss ich deutlich mehr Zeit einplanen. In der Firma gehen wir von circa vier Wochen aus.“

Ich drehte seinen Kopf zu mir und küsste ihn sanft. „Aber das ist doch kein Problem! Bei mir beginnt jetzt auch der Prüfungsstress und ich wäre in der Zeit bestimmt unausstehlich.“ Ich lächelte über seine bekümmerte Miene. „Außerdem klappt es doch mit dem Skypen in China ganz prima. Im Hotel und auf der Baustelle hattest du doch bisher immer WLAN Zugang. Ach komm.“ Ich knuffte ihn in die Seite. „Jetzt mach nicht so ein bekümmertes Gesicht. Vier Wochen gehen auch vorbei!“

„Tja, das Geschäft ist auch nicht das Problem – Firlefanz ist es! Ich bin auf dem Rückweg direkt am Stall vorbei. Horst kann den Kleinen für die nächsten vier Wochen in Teilberitt nehmen, aber für Voll-Beritt fehlt ihm einfach die Zeit!“

Horst, seines Zeichens der Reitlehrer an Stefan Stall, übernahm es sonst immer, nach Firlefanz zu schauen.

„Und was nun?“ Ich richtete mich auf. „Horst hat doch bestimmt jemanden unter seinen Reitschülern, der Firlefanz für die Zeit übernehmen kann.“ Vorsichtig löste ich mich von Stefan. Eine Ahnung stieg in mir hoch – und ich sollte Recht behalten!

„Mareike, du weißt genau, wie ungern ich Fremde an Firlefanz heranlasse! Selbst Horst gebe ich ihn ungern. Wir reiten einfach zu unterschiedlich, obwohl er mein Reitlehrer ist. Ich brauche hinterher immer Wochen, bis Firlefanz wieder richtig mit mir ‚funktioniert‘.“Stefans vorwurfsvoller Blick fiel auf mich. „Ist es wirklich zu viel verlangt, wenn du dich dreimal die Woche um den Kleinen kümmerst. Du musst ihn ja nicht reiten. Häng ihn an die Longe oder geh mit ihm spazieren. Dreimal die Woche ist doch wirklich machbar!“