Es giebt Handlungen, die unser unwürdig sind: Handlungen, die, als typisch genommen, uns in eine niedrigere Gattung herabdrücken würden. Hier hat man allein diesen Fehler zu vermeiden, daß man sie typisch nimmt. Es giebt die umgekehrte Art Handlungen, deren wir nicht würdig sind: Ausnahmen, aus einer besondern Fülle von Glück und Gesundheit geboren, unsere höchsten Fluthwellen, die ein Sturm, ein Zufall einmal so hoch trieb: solche Handlungen und »Werke« sind ebenfalls nicht typisch. Man soll einen Künstler nie nach dem Maaße seiner Werke messen.
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236.
A. In dem Maaße, in dem heute das Christenthum noch nöthig erscheint, ist der Mensch noch wüst und verhängnißvoll …
B. In anderem Betracht ist es nicht nöthig, sondern extrem schädlich, wirkt aber anziehend und verführend, weil es dem morbiden Charakter ganzer Schichten, ganzer Typen der jetzigen Menschheit entspricht … sie geben ihrem Hange nach, indem sie christlich aspiriren – die décadents aller Art –
Man hat hier zwischen A und B streng zu scheiden. Im Fall A ist Christenthum ein Heilmittel, mindestens ein Bändigungsmittel (– es dient unter Umständen, krank zu machen: was nützlich sein kann, um die Wüstheit und Roheit zu brechen). Im Fall B ist es ein Symptom der Krankheit selbst, vermehrt die décadence; hier wirkt es einem corrobortrenden System der Behandlung entgegen, hier ist es der Kranken-Instinkt gegen Das, was ihm heilsam ist –
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237.
Die Partei der Ernsten, Würdigen, Nachdenklichen: und ihr gegenüber die wüste, unsaubere, unberechenbare Bestie –: ein bloßes Problem der Thierbändigung, – wobei der Thierbändiger hart, furchtbar und schreckeneinflößend sein muß für seine Bestie.
Alle wesentlichen Forderungen müssen mit einer brutalen Deutlichkeit, d. h. tausendfach übertrieben gestellt werden
die Erfüllung der Forderung selbst muß in einer Vergröberung dargestellt werden, daß sie Ehrfurcht erregt, z. B. die Entsinnlichung seitens der Brahmanen.
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Der Kampf mit der Canaille und dem Vieh. Ist eine gewisse Bändigung und Ordnung erreicht, so muß die Kluft zwischen diesen Gereinigten und Wiedergeborenen und dem Rest so furchtbar wie möglich aufgerissen werden …
Diese Kluft vermehrt die Selbstachtung, den Glauben an Das, was von ihnen dargestellt wird, bei den höheren Kasten, – daher der Tschandala. Die Verachtung und deren Übermaaß ist vollkommen psychologisch correct, nämlich hundertfach übertrieben, um überhaupt nachgefühlt zu werden.
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238.
Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es kann selbst ein Mittel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank zu machen. Die psychologische Behandlung im Christenthum läuft oft darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Thier zu machen.
Der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich …
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239.
Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich décadent), wie es die Zeit Buddha’s war … Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichsten Ausgeburten des antiken Hybridismus).
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240.
Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß selbst, wenn er ein Irrthum wäre, man zeitlebens doch den großen Vortheil und Genuß dieses Irrthums habe: – es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrecht erhalten werden solle, – also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus Dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Thatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christenthum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christenthum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat, noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurtheilten«. Aber ein Christenthum, das vor Allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nöthig: weshalb im Stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.
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241.
Der Humor der europäischen Cultur: man hält Das für wahr, aber thut Jenes. Z. B. was hilft alle Kunst des Lesens und der Kritik, wenn die kirchliche Interpretation der Bibel, die protestantische so gut wie die katholische, nach wie vor aufrecht erhalten wird!
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242.
Man giebt sich nicht genug Rechenschaft darüber, in welcher Barbarei der Begriffe wir Europäer noch leben. Daß man hat glauben können, das »Heil der Seele« hänge an einem Buche! … Und man sagt mir, man glaube das heute noch.
Was hilft alle wissenschaftliche Erziehung, alle Kritik und Hermeneutik, wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung, wie ihn die Kirche aufrecht erhält, noch nicht die Schamröthe zur Leibfarbe gemacht hat?
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243.
Nachzudenken: Inwiefern immer noch der verhängnißvolle Glaube an die göttliche Providenz – dieser für Hand und Vernunft lähmendste Glaube, den es gegeben hat – fortbesteht; inwiefern unter den Formeln »Natur«, »Fortschritt«, »Vervollkommnung«, »Darwinismus«, unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend, von Unglück und Schuld immer noch die christliche Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. Jenes absurde Vertrauen zum Gang der Dinge, zum »Leben«, zum »Instinkt des Lebens«, jene biedermännische Resignation, die des Glaubens ist, Jedermann habe nur seine Pflicht zu thun, damit Alles gut gehe – dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung der Dinge sub specie boni. Selbst noch der Fatalismus, unsre jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist eine Folge jenes längsten Glaubens an göttliche Fügung, eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht auf uns ankomme, wie Alles geht (– als ob wir es laufen lassen dürften, wie es läuft: jeder Einzelne selbst nur ein Modus der absoluten Realität –).
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244.
Es ist der Gipfel der psychologischen Verlogenheit des Menschen, sich ein Wesen als Anfang und »An-sich« nach seinem Winkel-Maaßstab des ihm gerade gut, weise, mächtig, werthvoll Erscheinenden herauszurechnen – und dabei die ganze Ursächlichkeit, vermöge deren überhaupt irgendwelche Güte, irgendwelche Weisheit, irgendwelche Macht besteht und Werth hat, wegzudenken. Kurz, Elemente der spätesten und bedingtesten Herkunft als nicht entstanden, sondern als »an sich« zu setzen und womöglich gar als Ursache alles Entstehens überhaupt … Gehen wir von der Erfahrung aus, von jedem Falle, wo ein Mensch sich bedeutend über das Maaß des Menschlichen erhoben hat, so sehen wir, daß jeder hohe Grad von Macht Freiheit von Gut und Böse ebenso wie von »Wahr« und »Falsch« in sich schließt und Dem, was Güte will, keine Rechnung gönnen kann: wir begreifen dasselbe noch einmal für jeden hohen Grad von Weisheit – die Güte ist in ihr ebenso aufgehoben als die Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Tugend und andere Volks-Velleitäten der Werthung. Endlich jeder hohe Grad von Güte selbst: ist es nicht ersichtlich, daß er bereits eine geistige Myopie und Unfeinheit voraussetzt? insgleichen die Unfähigkeit, zwischen wahr und falsch, zwischen nützlich und schädlich auf eine größere Entfernung hin zu unterscheiden? gar nicht davon zu reden, daß ein hoher Grad von Macht in den Händen der höchsten Güte die unheilvollsten Folgen (»die Abschaffung des Übels«) mit sich bringen würde? – In der That, man sehe nur an, was der »Gott der Liebe« seinen Gläubigen für Tendenzen eingiebt: sie ruiniren die Menschheit zu Gunsten des »Guten«. – In praxi hat sich derselbe Gott angesichts der wirklichen Beschaffenheit der Welt als Gott der höchsten Kurzsichtigkeit, Teufelei und Ohnmacht erwiesen: woraus sich ergiebt, wie viel Werth seine Conception hat.
An sich hat ja Wissen und Weisheit keinen Werth; ebensowenig als Güte: man muß immer erst noch das Ziel haben, von wo aus diese Eigenschaften Werth oder Unwerth erhalten, – es könnte ein Ziel geben, von wo aus ein extremes Wissen einen hohen Unwerth darstellte (etwa wenn die extreme Täuschung eine der Voraussetzungen der Steigerung des Lebens wäre; insgleichen wenn die Güte etwa die Sprungfedern der großen Begierde zu lähmen und zu entmuthigen vermöchte) …
Unser menschliches Leben gegeben, wie es ist, so hat alle »Wahrheit«, alle »Güte«, alle »Heiligkeit«, alle »Göttlichkeit« im christlichen Stile bis jetzt sich als große Gefahr erwiesen, – noch jetzt ist die Menschheit in Gefahr, an einer lebenswidrigen Idealität zu Grunde zu gehn.
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245.
Man überlege sich die Einbuße, welche alle menschlichen Institutionen machen, falls überhaupt eine göttliche und jenseitige höhere Sphäre angesetzt wird, welche diese Institutionen erst sanktionirt. Indem man sich gewöhnt, den Werth dann in dieser Sanktion zu sehen (z. B. in der Ehe), hat man ihre natürliche Würdigkeit zurückgesetzt, unter Umständen geleugnet … Die Natur ist in dem Maaße mißgünstig beurtheilt, als man die Widernatur eines Gottes zu Ehren gebracht hat. »Natur« wurde so viel wie »verächtlich«, »schlecht« …
Das Verhängniß eines Glaubens an die Realität der höchsten moralischen Qualitäten als Gott: damit waren alle wirklichen Werthe geleugnet und grundsätzlich als Unwerthe gefaßt. So stieg das Widernatürliche auf den Thron. Mit einer unerbittlichen Logik langte man bei der absoluten Forderung der Verneinung der Natur an.
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246.
Damit, daß das Christenthum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwerthig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis in’s Extrem (– bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der Einzelne wurde durch das Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer … Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Werthschätzungen! Setzt man die Einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christenthum ist das Gegenprincip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel Werth haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr, nach Pascal’s Urtheil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht … Diese allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerirten: sie hat thatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Werthmaaßes nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das Christenthum concedirte und selbst anrieth, hat, vom Standpunkte der Gesammt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgend welche Einzelne sich selbst opfern (– sei es in mönchischer und asketischer Manier oder, mit Hülfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten, als »Märtyrer« des Irrthums). Die Gattung braucht den Untergang der Mißrathenen, Schwachen, Degenerirten: aber gerade an sie wendete sich das Christenthum, als conservirende Gewalt; sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu hallen. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe« im Christenthum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher erräth, daß, wenn Alle für einander sorgen, jeder Einzelne am längsten erhalten bleibt? … Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte … Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung, – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß Niemand geopfert wird …
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247.
Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern, als ein consequenter Nihilismus der That. – So wie ich alle die Phänomene des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein«. Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur.
Was über alle Begriffe dagegen zu verurtheilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermuthigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht –
Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen contagiösen Nihilismus erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt (– und nicht das schwächliche Fortvegetiren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz –)?
Man kann das Christenthum nicht genug verurtheilen, weil es den Werth einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwerthet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der That des Nihilismus, dem Selbstmord … Es substituirte den langsamen Selbstmord: allmählich ein kleines, armes, aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches, bürgerliches, mittelmäßiges Leben u. s. w.
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248.
Die christlichen Moral-Quacksalber. – Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrthum zur Pflicht gemacht – zur Tugend –, der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisirt als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und besten Falls wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht … Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Creatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch …
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht. Alles, was über ihn Herr werden und ihn zu Grunde lichten kann, ist böse, ist verwerflich, – ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und Andre, schwach, niedergeworfen in Demuth und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«, – das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann …
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249.
Wogegen ich protestire? Daß man nicht diese kleine friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maaß des Menschen.
Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admitratio, supremarum sensus nullus. Das Christenthum aber gehört, als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn.
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250.
Sehen wir, was »der echte Christ« mit Alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerräth: – die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen – in summa der ganzen Cultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen …
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251.
Man hat bisher das Christenthum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christenthums als Capitalverbrechen am Leben empfindet, haben dessen Vertheidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christenthums – sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Werthfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christenthums Etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es giebt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmiren – nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (– dieser Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kriticismus«).
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252.
Man soll es dem Christenthum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zu Grunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben Dies am Christenthum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies Eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christenthum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen, sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns Nichts an; er könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs-Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet – und die Stärksten haben müde Stunden –, wie als ob alles Das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seines Gleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittsthier und Heerdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und darum hundertfach gefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maaß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bisher die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker gerathenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachsthum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts thut, der Untergang; mit seinen Werthen sollte das Wachsthum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebensosehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christenthum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnoth verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts lehrt, gegen sich selber kehrt, – bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zu Grunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt.