Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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13.

Un­ter­schät­zen wir dies nicht: wir selbst, wir frei­en Geis­ter, sind be­reits eine »Um­wer­thung al­ler Wert­he«, eine leib­haf­te Kriegs- und Siegs-Er­klä­rung an alle al­ten Be­grif­fe von »wahr« und »un­wahr«. Die wert­h­volls­ten Ein­sich­ten wer­den am spä­tes­ten ge­fun­den: aber die wert­h­volls­ten Ein­sich­ten sind die Metho­den. Alle Metho­den, alle Voraus­set­zun­gen uns­rer jet­zi­gen Wis­sen­schaft­lich­keit ha­ben Jahr­tau­sen­de lang die tiefs­te Ver­ach­tung ge­gen sich ge­habt: auf sie hin war man aus dem Ver­keh­re mit »hon­net­ten« Men­schen aus­ge­schlos­sen, – man galt als »Feind Got­tes«, als Veräch­ter der Wahr­heit, als »Be­ses­se­ner«. Als wis­sen­schaft­li­cher Cha­rak­ter war man Tschan­da­la … Wir ha­ben das gan­ze Pa­thos der Mensch­heit ge­gen uns ge­habt – ih­ren Be­griff von Dem, was Wahr­heit sein soll, was der Dienst der Wahr­heit sein soll: je­des »du sollst« war bis­her ge­gen uns ge­rich­tet … Uns­re Ob­jek­te, uns­re Prak­ti­ken, uns­re stil­le. vor­sich­ti­ge, miß­traui­sche Art – Al­les das schi­en ihr voll­kom­men un­wür­dig und ver­ächt­lich. – Zu­letzt dürf­te man, mit ei­ni­ger Bil­lig­keit, sich fra­gen, ob es nicht ei­gent­lich ein äs­the­ti­scher Ge­schmack war, was die Mensch­heit in so lan­ger Blind­heit ge­hal­ten hat: sie ver­lang­te von der Wahr­heit einen pit­to­res­ken Ef­fekt, sie ver­lang­te ins­glei­chen vom Er­ken­nen­den, daß er stark auf die Sin­ne wir­ke. Uns­re Be­schei­den­heit gieng ihr am längs­ten wi­der den Ge­schmack … Oh wie sie das er­rie­chen, die­se Trut­häh­ne Got­tes – –

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14.

Wir ha­ben um­ge­lernt. Wir sind in al­len Stücken be­scheid­ner ge­wor­den. Wir lei­ten den Men­schen nicht mehr vom »Geist«, von der »Gott­heit« ab, wir ha­ben ihn un­ter die Thie­re zu­rück­ge­stellt. Er gilt uns als das stärks­te Thier, weil er das lis­tigs­te ist: eine Fol­ge da­von ist sei­ne Geis­tig­keit. Wir weh­ren uns and­rer­seits ge­gen eine Ei­tel­keit, die auch hier wie­der laut wer­den möch­te: wie als ob der Mensch die große Hin­ter­ab­sicht der thier­i­schen Ent­wick­lung ge­we­sen sei. Er ist durch­aus kei­ne Kro­ne der Schöp­fung: je­des We­sen ist, ne­ben ihm, auf ei­ner glei­chen Stu­fe der Voll­kom­men­heit … Und in­dem wir das be­haup­ten, be­haup­ten wir noch zu­viel: der Mensch ist, re­la­tiv ge­nom­men, das miß­rat­hens­te Thier, das krank­haf­tes­te, das von sei­nen In­stink­ten am ge­fähr­lichs­ten ab­ge­irr­te – frei­lich, mit al­le­dem, auch das in­ter­essan­tes­te! – Was die Thie­re be­trifft, so hat zu­erst Des­car­tes, mit ver­eh­rungs­wür­di­ger Kühn­heit, den Ge­dan­ken ge­wagt, das Thier als ma­china zu ver­stehn: uns­re gan­ze Phy­sio­lo­gie be­müht sich um den Be­weis die­ses Sat­zes. Auch stel­len wir lo­gi­scher Wei­se den Men­schen nicht bei Sei­te, wie noch Des­car­tes that: was über­haupt heu­te vom Men­schen be­grif­fen ist, geht ge­nau so weit, als er ma­chinal be­grif­fen ist. Ehe­dem gab man dem Men­schen, als sei­ne Mit­gift aus ei­ner hö­he­ren Ord­nung, den »frei­en Wil­len«: heu­te ha­ben wir ihm selbst den Wil­len ge­nom­men, in dem Sin­ne, daß dar­un­ter kein Ver­mö­gen mehr ver­stan­den wer­den darf. Das alte Wort »Wil­le« dient nur dazu, eine Re­sul­tan­te zu be­zeich­nen, eine Art in­di­vi­du­el­ler Re­ak­ti­on, die nothwen­dig auf eine Men­ge theils wi­der­spre­chen­der, theils zu­sam­men­stim­men­der Rei­ze folgt: – der Wil­le »wirkt« nicht mehr, »be­wegt« nicht mehr … Ehe­mals sah man im Be­wußt­sein des Men­schen, im »Geist«, den Be­weis sei­ner hö­he­ren Ab­kunft, sei­ner Gött­lich­keit; um den Men­schen zu vollen­den, rieth man ihm an, nach der Art der Schild­krö­te die Sin­ne in sich hin­ein­zu­ziehn, den Ver­kehr mit dem Ir­di­schen ein­zu­stel­len, die sterb­li­che Hül­le ab­zut­hun: dann blieb die Haupt­sa­che von ihm zu­rück, der »rei­ne Geist«. Wir ha­ben uns auch hier­über bes­ser be­son­nen: das Be­wußt­wer­den, der »Geist«, gilt uns ge­ra­de als Sym­ptom ei­ner re­la­ti­ven Un­voll­kom­men­heit des Or­ga­nis­mus, als ein Ver­su­chen, Tas­ten, Fehl­grei­fen, als eine Müh­sal, bei der un­nö­thig viel Ner­ven­kraft ver­braucht wird, – wir leug­nen, daß ir­gend Et­was voll­kom­men ge­macht wer­den kann, so lan­ge es noch be­wußt ge­macht wird. Der »rei­ne Geist« ist eine rei­ne Dumm­heit: rech­nen wir das Ner­ven­sys­tem und die Sin­ne ab, die »sterb­li­che Hül­le«, so ver­rech­nen wir uns – wei­ter nichts!« …

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15.

We­der die Moral noch die Re­li­gi­on be­rührt sich im Chris­tent­hu­me mit ir­gend ei­nem Punk­te der Wirk­lich­keit. Lau­ter ima­gi­näre Ur­sa­chen (»Gott«, »See­le«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wil­le« – oder auch »der un­freie«); lau­ter ima­gi­näre Wir­kun­gen (»Sün­de«, »Er­lö­sung«, »Gna­de«, »Stra­fe«, »Ver­ge­bung der Sün­de«). Ein Ver­kehr zwi­schen ima­gi­nären We­sen (»Gott«, »Geis­ter«, »See­len«); eine ima­gi­näre Na­tur­wis­sen­schaft (an­thro­po­cen­trisch; völ­li­ger Man­gel des Be­griffs der na­tür­li­chen Ur­sa­chen); eine ima­gi­näre Psy­cho­lo­gie (lau­ter Selbst-Miß­ver­ständ­nis­se, In­ter­pre­ta­tio­nen an­ge­neh­mer oder un­an­ge­neh­mer All­ge­mein­ge­füh­le, zum Bei­spiel der Zu­stän­de des ner­vus sym­pa­thi­cus, mit Hül­fe der Zei­chen­spra­che re­li­gi­ös-mo­ra­li­scher Idio­syn­kra­sie, – »Reue«, »Ge­wis­sens­biß«, »Ver­su­chung des Teu­fels«, »die Nähe Got­tes«); eine ima­gi­näre Te­leo­lo­gie (»das Reich Got­tes«, »das jüngs­te Ge­richt«, »das ewi­ge Le­ben«). – Die­se rei­ne Fik­ti­ons-Welt un­ter­schei­det sich da­durch sehr zu ih­ren Un­guns­ten von der Traum­welt, daß letz­te­re die Wirk­lich­keit wie­der­spie­gelt, wäh­rend sie die Wirk­lich­keit fälscht, ent­wert­het, ver­neint. Nach­dem erst der Be­griff »Na­tur« als Ge­gen­be­griff zu »Gott« er­fun­den war, muß­te »na­tür­lich« das Wort sein für »ver­werf­lich«, – jene gan­ze Fik­ti­ons-Welt hat ihre Wur­zel im Haß ge­gen das Na­tür­li­che (– die Wirk­lich­keit! –), sie ist der Aus­druck ei­nes tie­fen Miß­be­ha­gens am Wirk­li­chen … Aber da­mit ist Al­les er­klärt. Wer al­lein hat Grün­de, sich weg­zulü­gen aus der Wirk­lich­keit? Wer an ihr lei­det. Aber an der Wirk­lich­keit lei­den heißt eine ver­un­glück­te Wirk­lich­keit sein … Das Über­ge­wicht der Un­lust­ge­füh­le über die Lust­ge­füh­le ist die Ur­sa­che je­ner fik­ti­ven Moral und Re­li­gi­on: ein sol­ches Über­ge­wicht giebt aber die For­mel ab für dé­ca­dence

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16.

Zu dem glei­chen Schlus­se nö­thigt eine Kri­tik des christ­li­chen Got­tes­be­griffs. – Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch sei­nen eig­nen Gott. In ihm ver­ehrt es die Be­din­gun­gen, durch die es oben­auf ist, sei­ne Tu­gen­den, – es pro­ji­cirt sei­ne Lust an sich, sein Macht­ge­fühl in ein We­sen, dem man da­für dan­ken kann. Wer reich ist, will ab­ge­ben, ein stol­zes Volk braucht einen Gott, um zu op­fern … Re­li­gi­on, in­ner­halb sol­cher Voraus­set­zun­gen, ist eine Form der Dank­bar­keit. Man ist für sich sel­ber dank­bar: dazu braucht man einen Gott. – Ein sol­cher Gott muß nüt­zen und scha­den kön­nen, muß Freund und Feind sein kön­nen, – man be­wun­dert ihn im Gu­ten wie im Schlim­men. Die wi­der­na­tür­li­che Ca­stra­ti­on ei­nes Got­tes zu ei­nem Got­te bloß des Gu­ten läge hier au­ßer­halb al­ler Wünsch­bar­keit, Man hat den bö­sen Gott so nö­thig als den gu­ten: man ver­dankt ja die eig­ne Exis­tenz nicht ge­ra­de der To­le­ranz, der Men­schen­freund­lich­keit … Was läge an ei­nem Got­te, der nicht Zorn, Ra­che, Neid, Hohn, List, Ge­walt­t­hat kenn­te? dem viel­leicht nicht ein­mal die ent­zücken­den ar­deur­s des Siegs und der Ver­nich­tung be­kannt wä­ren? Man wür­de einen sol­chen Gott nicht ver­stehn: wozu soll­te man ihn ha­ben? – Frei­lich: wenn ein Volk zu Grun­de geht; wenn es den Glau­ben an Zu­kunft, sei­ne Hoff­nung auf Frei­heit end­gül­tig schwin­den fühlt; wenn ihm die Un­ter­wer­fung als ers­te Nütz­lich­keit, die Tu­gen­den der Un­ter­wor­fe­nen als Er­hal­tungs­be­din­gun­gen in’s Be­wußt­sein tre­ten, dann muß sich auch sein Gott ver­än­dern. Er wird jetzt Duck­mäu­ser, furcht­sam, be­schei­den, räth zum »Frie­den der See­le«, zum Nicht-mehr-has­sen, zur Nach­sicht, zur »Lie­be« selbst ge­gen Freund und Feind. Er mo­ra­li­sirt be­stän­dig, er kriecht in die Höh­le je­der Pri­vat­tu­gend, wird Gott für Je­der­mann, wird Pri­vat­mann, wird Kos­mo­po­lit … Ehe­mals stell­te er ein Volk, die Stär­ke ei­nes Vol­kes, al­les Ag­gres­si­ve und Macht­durs­ti­ge aus der See­le ei­nes Vol­kes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott … In der That, es giebt kei­ne and­re Al­ter­na­ti­ve für Göt­ter: ent­we­der sind sie der Wil­le zur Macht – und so lan­ge wer­den sie Volks­göt­ter sein –, oder aber die Ohn­macht zur Macht – und dann wer­den sie nothwen­dig gut …

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17.

Wo in ir­gend wel­cher Form der Wil­le zur Macht nie­der­geht, giebt es je­des­mal auch einen phy­sio­lo­gi­schen Rück­gang, eine dé­ca­dence. Die Gott­heit der dé­ca­dence, be­schnit­ten an ih­ren männ­lichs­ten Tu­gen­den und Trie­ben, wird nun­mehr nothwen­dig zum Gott der phy­sio­lo­gisch– Zu­rück­ge­gan­ge­nen, der Schwa­chen. Sie hei­ßen sich selbst nicht die Schwa­chen, sie hei­ßen sich »die Gu­ten« … Man ver­steht, ohne daß ein Wink noch noth thä­te, in wel­chen Au­gen­bli­cken der Ge­schich­te erst die dua­lis­ti­sche Fik­ti­on ei­nes gu­ten und ei­nes bö­sen Got­tes mög­lich wird. Mit dem­sel­ben In­stink­te, mit dem die Un­ter­worf­nen ih­ren Gott zum »Gu­ten an sich« her­un­ter­brin­gen, strei­chen sie aus dem Got­te ih­rer Über­win­der die gu­ten Ei­gen­schaf­ten aus; sie neh­men Ra­che an ih­ren Her­ren, da­durch daß sie de­ren Gott ver­teu­feln. – Der gute Gott, eben­so wie der Teu­fel: Bei­de Aus­ge­bur­ten der dé­ca­dence, – Wie kann man heu­te noch der Ein­falt christ­li­cher Theo­lo­gen so viel nach­ge­ben, um mit ih­nen zu de­cre­ti­ren, die Fort­ent­wick­lung des Got­tes­be­griffs vom »Got­te Is­raels«, vom Volks­got­te zum christ­li­chen Got­te, zum In­be­griff al­les Gu­ten, sei ein Fort­schritt? – Aber selbst Ren­an thut es. Als ob Ren­an ein Recht auf Ein­falt hät­te! Das Ge­gent­heil springt doch in die Au­gen. Wenn die Voraus­set­zun­gen des auf­stei­gen­den Le­bens, wenn al­les Star­ke, Tap­fe­re, Her­ri­sche, Stol­ze aus dem Got­tes­be­grif­fe eli­mi­nirt wer­den, wenn er Schritt für Schritt zum Sym­bol ei­nes Stabs für Müde, ei­nes Ret­tungs­an­kers für alle Er­trin­ken­den her­un­ter­sinkt, wenn er Arme-Leu­te-Gott, Sün­der-Gott, Kran­ken-Gott par ex­cel­lence wird, und das Prä­di­kat »Hei­land«, »Er­lö­ser« gleich­sam üb­rig bleibt als gött­li­ches Prä­di­kat über­haupt: wo­von re­det eine sol­che Ver­wand­lung? eine sol­che Re­duk­ti­on des Gött­li­chen? – Frei­lich: »das Reich Got­tes« ist da­mit grö­ßer ge­wor­den. Ehe­mals hat­te er nur sein Volk, sein »aus­er­wähl­tes« Volk. In­zwi­schen gieng er, ganz wie sein Volk sel­ber, in die Frem­de, auf Wan­der­schaft, er saß seit­dem nir­gends­wo mehr still: bis er end­lich über­all hei­misch wur­de, der große Kos­mo­po­lit, – bis er »die große Zahl« und die hal­be Erde auf sei­ne Sei­te be­kam. Aber der Gott der »großen Zahl«, der De­mo­krat un­ter den Göt­tern, wur­de trotz­dem kein stol­zer Hei­den­gott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Win­kel, der Gott al­ler dunklen Ecken und Stel­len, al­ler un­ge­sun­den Quar­tie­re der gan­zen Welt! … Sein Wel­treich ist nach wie vor ein Un­ter­welts-Reich, ein Ho­spi­tal, ein sou­ter­rain-Reich, ein Ghet­to-Reich … Und er selbst, so blaß, so schwach, so dé­ca­dent… Selbst die Blas­ses­ten der Blas­sen wur­den noch über ihn Herr, die Herrn Me­ta­phy­si­ker, die Be­griffs-Al­bi­nos. Die­se span­nen so lan­ge um ihn her­um, bis er, hyp­no­ti­sirt durch ihre Be­we­gun­gen, selbst Spin­ne, selbst Me­ta­phy­si­cus wur­de. Nun­mehr spann er wie­der die Welt aus sich her­aus – sub spe­cie Spi­no­zae –, nun­mehr trans­fi­gur­ir­te er sich in’s im­mer Dün­ne­re und Blas­se­re, ward »Ide­al«, ward »rei­ner Geist«, ward »Ab­so­lu­tum«, ward »Ding an sich« … Ver­fall ei­nes Got­tes: Gott ward »Ding an sich«…

 

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18.

Der christ­li­che Got­tes­be­griff – Gott als Kran­ken­gott, Gott als Spin­ne, Gott als Geist – ist ei­ner der cor­rup­tes­ten Got­tes­be­grif­fe, die auf Er­den er­reicht wor­den sind; er stellt viel­leicht selbst den Pe­gel des Tief­stands in der ab­stei­gen­den Ent­wick­lung des Göt­ter–Ty­pus dar. Gott zum Wi­der­spruch des Le­bens ab­ge­ar­tet, statt des­sen Ver­klä­rung und ewi­ges Ja zu sein! In Gott dem Le­ben, der Na­tur, dem Wil­len zum Le­ben die Feind­schaft an­ge­sagt! Gott die For­mel für jede Ver­leum­dung des »Dies­seits«, für jede Lüge vom »Jen­seits«! In Gott das Nichts ver­gött­licht, der Wil­le zum Nichts hei­lig ge­spro­chen! …

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19.

Daß die star­ken Ras­sen des nörd­li­chen Eu­ro­pa den christ­li­chen Gott nicht von sich ge­sto­ßen ha­ben, macht ih­rer re­li­gi­ösen Be­ga­bung wahr­lich kei­ne Ehre, – um nicht vom Ge­schma­cke zu re­den. Mit ei­ner sol­chen krank­haf­ten und al­ters­schwa­chen Aus­ge­burt der dé­ca­dence hät­ten sie fer­tig wer­den müs­sen. Aber es liegt ein Fluch da­für auf ih­nen, daß sie nicht mit ihm fer­tig ge­wor­den sind: sie ha­ben die Krank­heit, das Al­ter, den Wi­der­spruch in alle ihre In­stink­te auf­ge­nom­men, – sie ha­ben seit­dem kei­nen Gott mehr ge­schaf­fen! Zwei Jahr­tau­sen­de bei­na­he und nicht ein ein­zi­ger neu­er Gott! Son­dern im­mer noch und wie zu Recht be­ste­hend, wie ein ul­ti­ma­tum und ma­xi­mum der gott­bil­den­den Kraft, des crea­tor spi­ri­tus im Men­schen, die­ser er­bar­mungs­wür­di­ge Gott des christ­li­chen Mo­no­to­no-The­is­mus! Dies hy­bri­de Ver­falls-Ge­bil­de aus Null, Be­griff und Wi­der­spruch, in dem alle dé­ca­dence-In­stink­te, alle Feig­hei­ten und Mü­dig­kei­ten der See­le ihre Sank­ti­on ha­ben! – –

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20.

Mit mei­ner Ver­urt­hei­lung des Chris­tent­hums möch­te ich kein Un­recht ge­gen eine ver­wand­te Re­li­gi­on be­gan­gen ha­ben, die der Zahl der Be­ken­ner nach so­gar über­wiegt: ge­gen den Bud­dhis­mus. Bei­de ge­hö­ren als ni­hi­lis­ti­sche Re­li­gio­nen zu­sam­men – sie sind dé­ca­dence-Re­li­gio­nen –, bei­de sind von ein­an­der in der merk­wür­digs­ten Wei­se ge­trennt. Daß man sie jetzt ver­glei­chen kann, da­für ist der Kri­ti­ker des Chris­tent­hums den in­di­schen Ge­lehr­ten tief dank­bar. – Der Bud­dhis­mus ist hun­dert­mal rea­lis­ti­scher als das Chris­tent­hum, – er hat die Erb­schaft des ob­jek­ti­ven und küh­len Pro­ble­me-Stel­lens im Lei­be, er kommt nach ei­ner hun­der­te von Jah­ren dau­ern­den phi­lo­so­phi­schen Be­we­gung; der Be­griff »Gott« ist be­reits ab­ge­than, als er kommt. Der Bud­dhis­mus ist die ein­zi­ge ei­gent­lich po­si­ti­vis­ti­sche Re­li­gi­on, die uns die Ge­schich­te zeigt, auch noch in sei­ner Er­kennt­niß­theo­rie (ei­nem stren­gen Phä­no­me­na­lis­mus –), er sagt nicht mehr »Kampf ge­gen die Sün­de«, son­dern, ganz der Wirk­lich­keit das Recht ge­bend, »Kampf ge­gen das Lei­den«. Er hat – dies un­ter­schei­det ihn tief vom Chris­tent­hum – die Selbst-Be­trü­ge­rei der Moral-Be­grif­fe be­reits hin­ter sich, – er steht, in mei­ner Spra­che ge­re­det, jen­seits von Gut und Böse. – Die zwei phy­sio­lo­gi­schen That­sa­chen, auf de­nen er ruht und die er in’s Auge faßt, sind: ein­mal eine über­große Reiz­bar­keit der Sen­si­bi­li­tät, wel­che sich als raf­fi­nir­te Schmerz­fä­hig­keit aus­drückt, so­dann eine Über­geis­ti­gung, ein all­zu­lan­ges Le­ben in Be­grif­fen und lo­gi­schen Pro­ce­du­ren, un­ter dem der Per­son-In­stinkt zum Vort­heil des »Un­per­sön­li­chen« Scha­den ge­nom­men hat (– Nei­des Zu­stän­de, die we­nigs­tens Ei­ni­ge mei­ner Le­ser, die »Ob­jek­ti­ven«, gleich mir selbst, aus Er­fah­rung ken­nen wer­den). Auf Grund die­ser phy­sio­lo­gi­schen Be­din­gun­gen ist eine De­pres­si­on ent­stan­den: ge­gen die­se geht Bud­dha hy­gie­nisch vor. Er wen­det da­ge­gen das Le­ben im Frei­en an, das Wan­der­le­ben; die Mä­ßi­gung und die Wahl in der Kost; die Vor­sicht ge­gen alle Spi­ri­tuo­sa; die Vor­sicht ins­glei­chen ge­gen alle Af­fek­te, die Gal­le ma­chen, die das Blut er­hit­zen; kei­ne Sor­ge, we­der für sich, noch für And­re. Er for­dert Vor­stel­lun­gen, die ent­we­der Ruhe ge­ben oder er­hei­tern – er er­fin­det Mit­tel, die an­de­ren sich ab­zu­ge­wöh­nen. Er ver­steht die Güte, das Gü­tig-sein als ge­sund­heits­för­dernd. Ge­bet ist aus­ge­schlos­sen, eben­so wie die As­ke­se; kein ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv, kein Zwang über­haupt, selbst nicht in­ner­halb der Klos­ter­ge­mein­schaft (– man kann wie­der hin­aus –). Das Al­les wä­ren Mit­tel, um jene über­große Reiz­bar­keit zu ver­stär­ken. Eben dar­um for­dert er auch kei­nen Kampf ge­gen An­ders­den­ken­de; sei­ne Leh­re wehrt sich ge­gen nichts mehr als ge­gen das Ge­fühl der Ra­che, der Ab­nei­gung, des res­sen­ti­ment(– »nicht durch Feind­schaft kommt Feind­schaft zu Ende«: der rüh­ren­de Re­frain des gan­zen Bud­dhis­mus …). Und das mit Recht: ge­ra­de die­se Af­fek­te wa­ren voll­kom­men un­ge­sund in Hin­sicht auf die diä­te­ti­sche Haupt­ab­sicht. Die geis­ti­ge Er­mü­dung, die er vor­fin­det und die sich in ei­ner all­zu­großen »Ob­jek­ti­vi­tät« (das heißt Schwä­chung des In­di­vi­dual­in­ter­es­ses, Ver­lust an Schwer­ge­wicht, an »Ego­is­mus«) aus­drückt, be­kämpft er mit ei­ner stren­gen Zu­rück­füh­rung auch der geis­tigs­ten In­ter­es­sen auf die Per­son. In der Leh­re Bud­dha’s wird der Ego­is­mus Pf­licht: das »Eins ist noth«, das »wie kommst du vom Lei­den los« re­gu­lirt und be­grenzt die gan­ze geis­ti­ge Diät (– man darf sich viel­leicht an je­nen Athe­ner er­in­nern, der der rei­nen »Wis­sen­schaft­lich­keit« gleich­falls den Krieg mach­te, an So­kra­tes, der den Per­so­nal-Ego­is­mus auch im Reich der Pro­ble­me zur Moral er­hob).

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21.

Die Voraus­set­zung für den Bud­dhis­mus ist ein sehr mil­des Kli­ma, eine große Sanft­muth und Li­be­ra­li­tät in den Sit­ten, kein Mi­li­ta­ris­mus: und daß es die hö­he­ren und selbst ge­lehr­ten Stän­de sind, in de­nen die Be­we­gung ih­ren Herd hat. Man will die Hei­ter­keit, die Stil­le, die Wun­sch­lo­sig­keit als höchs­tes Ziel, und man er­reicht sein Ziel. Der Bud­dhis­mus ist kei­ne Re­li­gi­on, in der man bloß auf Voll­kom­men­heit aspir­irt: das Voll­komm­ne ist der nor­ma­le Fall. – Im Chris­tent­hu­me kom­men die In­stink­te Un­ter­worf­ner und Un­ter­drück­ter in den Vor­der­grund: es sind die nie­ders­ten Stän­de, die in ihm ihr Heil su­chen. Hier wird als Be­schäf­ti­gung, als Mit­tel ge­gen die Lan­ge­wei­le die Ca­suis­tik der Sün­de, die Selbst­kri­tik, die Ge­wis­sens-In­qui­si­ti­on ge­übt; hier wird der Af­fekt ge­gen einen Mäch­ti­gen, »Gott« ge­nannt, be­stän­dig auf­recht er­hal­ten (durch das Ge­bet); hier gilt das Höchs­te als un­er­reich­bar, als Ge­schenk, als »Gna­de«. Hier fehlt auch die Öf­fent­lich­keit: der Ver­steck, der dunkle Raum ist christ­lich. Hier wird der Leib ver­ach­tet, die Hy­gie­ne als Sinn­lich­keit ab­ge­lehnt; die Kir­che wehrt sich selbst ge­gen die Rein­lich­keit (– die ers­te christ­li­che Maaß­re­gel nach Ver­trei­bung der Mau­ren war die Schlie­ßung der öf­fent­li­chen Bä­der, von de­nen Cor­do­va al­lein 270 be­saß). Christ­lich ist ein ge­wis­ser Sinn der Grau­sam­keit, ge­gen sich und And­re; der Haß ge­gen die An­ders­den­ken­den; der Wil­le, zu ver­fol­gen. Düs­te­re und auf­re­gen­de Vor­stel­lun­gen sind im Vor­der­grun­de; die höchst­be­gehr­ten, mit den höchs­ten Na­men be­zeich­ne­ten Zu­stän­de sind Epi­lep­soi­den; die Diät wird so ge­wählt, daß sie mor­bi­de Er­schei­nun­gen be­güns­tigt und die Ner­ven über­reizt. Christ­lich ist die Tod­feind­schaft ge­gen die Her­ren der Erde, ge­gen die »Vor­neh­men« – und zu­gleich ein ver­steck­ter heim­li­cher Wett­be­werb (– man läßt ih­nen den »Leib«, man will nur die »See­le« …). Christ­lich ist der Haß ge­gen den Geist, ge­gen Stolz, Muth, Frei­heit, li­ber­ti­na­ge des Geis­tes; christ­lich ist der Haß ge­gen die Sin­ne, ge­gen die Freu­den der Sin­ne, ge­gen die Freu­de über­haupt …

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22.

Das Chris­tent­hum, als es sei­nen ers­ten Bo­den ver­ließ, die nied­rigs­ten Stän­de, die Un­ter­welt der an­ti­ken Welt, als es un­ter Bar­ba­ren-Völ­kern nach Macht aus­gieng, hat­te hier nicht mehr müde Men­schen zur Voraus­set­zung, son­dern in­ner­lich ver­wil­der­te und sich zer­rei­ßen­de, – den star­ken Men­schen, aber den miß­ra­th­nen. Die Un­zu­frie­den­heit mit sich, das Lei­den an sich ist hier nicht wie bei dem Bud­dhis­ten eine über­mä­ßi­ge Reiz­bar­keit und Schmerz­fä­hig­keit, viel­mehr um­ge­kehrt ein über­mäch­ti­ges Ver­lan­gen nach We­he–thun, nach Aus­las­sung der in­ne­ren Span­nung in feind­se­li­gen Hand­lun­gen und Vor­stel­lun­gen. Das Chris­tent­hum hat­te bar­ba­ri­sche Be­grif­fe und Wert­he nö­thig, um über Bar­ba­ren Herr zu wer­den: sol­che sind das Erst­ling­sop­fer, das Blut­trin­ken im Abend­mahl, die Ver­ach­tung des Geis­tes und der Cul­tur; die Fol­te­rung in al­len For­men, sinn­lich und un­sinn­lich; der große Pomp des Cul­tus. Der Bud­dhis­mus ist eine Re­li­gi­on für spä­te Men­schen, für gü­ti­ge, sanf­te, über­geis­tig ge­w­ord­ne Ras­sen, die zu leicht Schmerz emp­fin­den (– Eu­ro­pa ist noch lan­ge nicht reif für ihn –): er ist eine Rück­füh­rung der­sel­ben zu Frie­den und Hei­ter­keit, zur Diät im Geis­ti­gen, zu ei­ner ge­wis­sen Ab­här­tung im Leib­li­chen. Das Chris­tent­hum will über Raubt­hie­re Herr wer­den; sein Mit­tel ist, sie krank zu ma­chen, – die Schwä­chung ist das christ­li­che Re­cept zur Zäh­mung, zur »Ci­vi­li­sa­ti­on«. Der Bud­dhis­mus ist eine Re­li­gi­on für den Schluß und die Mü­dig­keit der Ci­vi­li­sa­ti­on, das Chris­ten­tum fin­det sie noch nicht ein­mal vor, – es be­grün­det sie un­ter Um­stän­den.

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23.

Der Bud­dhis­mus, noch­mals ge­sagt, ist hun­dert­mal käl­ter, wahr­haf­ter, ob­jek­ti­ver. Er hat nicht mehr nö­thig, sich sein Lei­den, sei­ne Schmerz­fä­hig­keit an­stän­dig zu ma­chen durch die In­ter­pre­ta­ti­on der Sün­de, – er sagt bloß, was er denkt, »ich lei­de«. Dem Bar­ba­ren da­ge­gen ist Lei­den an sich nichts An­stän­di­ges: er braucht erst eine Aus­le­gung, um es sich ein­zu­ge­stehn, daß er lei­det (sein In­stinkt weist ihn eher auf Ver­leug­nung des Lei­dens, auf stil­les Er­tra­gen hin). Hier war das Wort »Teu­fel« eine Wohl­that: man hat­te einen über­mäch­ti­gen und furcht­ba­ren Feind, – man brauch­te sich nicht zu schä­men, an ei­nem sol­chen Feind zu lei­den. –

Das Chris­tent­hum hat ei­ni­ge Fein­hei­ten auf dem Grun­de, die zum Ori­ent ge­hö­ren. Vor Al­lem weiß es, daß es an sich ganz gleich­gül­tig ist, ob Et­was wahr ist, aber von höchs­ter Wich­tig­keit, so­fern es als wahr ge­glaubt wird. Die Wahr­heit und der Glau­be, daß Et­was wahr sei: zwei ganz aus­ein­an­der­lie­gen­de In­ter­es­sen» Wel­ten, fast Ge­gen­satz-Wel­ten, – man kommt zum Ei­nen und zum An­dern auf grund­ver­schie­nen We­gen. Hier­über wis­send zu sein – das macht im Ori­ent bei­na­he den Wei­sen: so ver­stehn es die Brah­ma­nen, so ver­steht es Pla­to, so je­der Schü­ler eso­te­ri­scher Weis­heit. Wenn zum Bei­spiel ein Glück dar­in liegt, sich von der Sün­de er­löst zu glau­ben, so thut als Voraus­set­zung dazu nicht noth, daß der Mensch sün­dig sei, son­dern daß er sich sün­dig fühlt. Wenn aber über­haupt vor Al­lem Glau­be noth thut, so muß man die Ver­nunft, die Er­kennt­niß, die For­schung in Miß­cre­dit brin­gen: der Weg zur Wahr­heit wird zum ver­bot­nen Weg. – Die star­ke Hoff­nung ist ein viel grö­ße­res Sti­mu­lans des Le­bens, als ir­gend ein ein­zel­nes wirk­lich ein­tre­ten­des Glück. Man muß Lei­den­de durch eine Hoff­nung auf­recht er­hal­ten, wel­cher durch kei­ne Wirk­lich­keit wi­der­spro­chen wer­den kann, – wel­che nicht durch eine Er­fül­lung ab­ge­than wird: eine Jen­seits-Hoff­nung. (Gera­de we­gen die­ser Fä­hig­keit, den Un­glück­li­chen hin­zu­hal­ten, galt die Hoff­nung bei den Grie­chen als Übel der Übel, als das ei­gent­lich tücki­sche Übel: es blieb im Faß des Übels zu­rück). – Da­mit Lie­be mög­lich ist, muß Gott Per­son sein; da­mit die un­ters­ten In­stink­te mit­re­den kön­nen, muß Gott jung sein. Man hat für die In­brunst der Wei­ber einen schö­nen Hei­li­gen, für die der Män­ner eine Ma­ria in den Vor­der­grund zu rücken. Dies un­ter der Voraus­set­zung, daß das Chris­tent­hum auf ei­nem Bo­den Herr wer­den will. wo aphro­di­si­sche oder Ado­nis-Cul­te den Be­griff des Cul­tus be­reits be­stimmt ha­ben. Die For­de­rung der Keusch­heit ver­stärkt die Ve­he­menz und In­ner­lich­keit des re­li­gi­ösen In­stinkts – sie macht den Cul­tus wär­mer, schwär­me­ri­scher, see­len­vol­ler. – Die Lie­be ist der Zu­stand, wo der Mensch die Din­ge am meis­ten so sieht, wie sie nicht sind. Die il­lu­so­ri­sche Kraft ist da auf ih­rer Höhe, eben­so die ver­sü­ßen­de, die ver­klä­ren­de Kraft. Man er­trägt in der Lie­be mehr als sonst, man dul­det Al­les. Es galt eine Re­li­gi­on zu er­fin­den, in der ge­liebt wer­den kann: da­mit ist man über das Schlimms­te am Le­ben hin­aus, – man sieht es gar nicht mehr. – So viel über die drei christ­li­chen Tu­gen­den Glau­be, Lie­be, Hoff­nung: ich nen­ne sie die drei christ­li­chen Klug­hei­ten. – Der Bud­dhis­mus ist zu spät, zu po­si­ti­vis­tisch dazu, um noch auf die­se Wei­se klug zu sein. –

 

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24.

Ich be­rüh­re hier nur das Pro­blem der Ent­ste­hung des Chris­ten­tums. Der ers­te Satz zu des­sen Lö­sung heißt: das Chris­tent­hum ist ein­zig aus dem Bo­den zu ver­stehn, aus dem es ge­wach­sen ist, – es ist nicht eine Ge­gen­be­we­gung ge­gen den jü­di­schen In­stinkt, es ist des­sen Fol­ge­rich­tig­keit selbst, ein Schluß wei­ter in des­sen furcht­ein­flö­ßen­der Lo­gik. In der For­mel des Er­lö­sers: »das Heil kommt von den Ju­den«. – Der zwei­te Satz heißt: der psy­cho­lo­gi­sche Ty­pus des Ga­li­lä­ers ist noch er­kenn­bar, aber erst in sei­ner voll­stän­di­gen Ent­ar­tung (die zu­gleich Ver­stümm­lung und Über­la­dung mit frem­den Zü­gen ist –) hat er dazu die­nen kön­nen, wozu er ge­braucht wor­den ist, zum Ty­pus ei­nes Er­lö­sers der Mensch­heit. – Die Ju­den sind das merk­wür­digs­te Volk der Welt­ge­schich­te, weil sie, vor die Fra­ge von Sein und Nicht­sein ge­stellt, mit ei­ner voll­kom­men un­heim­li­chen Be­wußt­heit das Sein um je­den Preis vor­ge­zo­gen ha­ben: die­ser Preis war die ra­di­ka­le Fäl­schung al­ler Na­tur, al­ler Na­tür­lich­keit, al­ler Rea­li­tät, der gan­zen in­ne­ren Welt so gut als der äu­ße­ren. Sie grenz­ten sich ab ge­gen alle Be­din­gun­gen, un­ter de­nen bis­her ein Volk le­ben konn­te, le­ben durf­te; sie schu­fen aus sich einen Ge­gen­satz-Be­griff zu na­tür­li­chen Be­din­gun­gen, – sie ha­ben, der Rei­he nach, die Re­li­gi­on, den Cul­tus, die Moral, die Ge­schich­te, die Psy­cho­lo­gie auf eine Un­heil­ba­re Wei­se in den Wi­der­spruch zu de­ren Na­tur-Wert­hen um­ge­dreht. Wir be­geg­nen dem­sel­ben Phä­no­me­ne noch ein­mal und in un­säg­lich ver­grö­ßer­ten Pro­por­tio­nen, trotz­dem nur als Co­pie: – die christ­li­che Kir­che ent­behrt, im Ver­gleich zum »Volk der Hei­li­gen«, je­des An­spruchs auf Ori­gi­na­li­tät. Die Ju­den sind, eben­da­mit, das ver­häng­niß­volls­te Volk der Welt­ge­schich­te: in ih­rer Nach­wir­kung ha­ben sie die Mensch­heit der­maa­ßen falsch ge­macht, daß heu­te noch der Christ an­ti­jü­disch füh­len kann, ohne sich als die letz­te jü­di­sche Con­se­quenz zu ver­stehn.

Ich habe in mei­ner »Ge­nea­lo­gie der Moral« zum ers­ten Male den Ge­gen­satz-Be­griff ei­ner vor­neh­men Moral und ei­ner res­sen­ti­ment-Moral psy­cho­lo­gisch vor­ge­führt, letz­te­re aus dem Nein ge­gen die ers­te­re ent­sprun­gen: aber dies ist die jü­disch-christ­li­che Moral ganz und gar. Um Nein sa­gen zu kön­nen zu Al­lem, was die auf­stei­gen­de Be­we­gung des Le­bens, die Wohl­ge­rat­hen­heit, die Macht, die Schön­heit, die Selbst­be­ja­hung auf Er­den dar­stellt, muß­te hier sich der Ge­nie ge­w­ord­ne In­stinkt des res­sen­ti­ment eine and­re Welt er­fin­den, von wo aus jene Le­bens-Be­ja­hung als das Böse, als das Ver­werf­li­che an sich er­schi­en. Psy­cho­lo­gisch nach­ge­rech­net, ist das jü­di­sche Volk ein Volk der zä­he­s­ten Le­bens­kraft, wel­ches, un­ter un­mög­li­che Be­din­gun­gen ver­setzt, frei­wil­lig, aus der tiefs­ten Klug­heit der Selbs­t­er­hal­tung, die Par­tei al­ler dé­ca­dence-In­stink­te nimmt, – nicht als von ih­nen be­herrscht, son­dern weil es in ih­nen eine Macht er­rieth, mit der man sich ge­gen »die Welt« durch­set­zen kann. Die Ju­den sind das Ge­gen­stück al­ler dé­ca­dents: sie ha­ben sie dar­stel­len müs­sen bis zur Il­lu­si­on, sie ha­ben sich, mit ei­nem non plus ul­tra des schau­spie­le­ri­schen Ge­nie’s, an die Spit­ze al­ler dé­ca­dence Be­we­gun­gen zu stel­len ge­wußt (– als Chris­ten­tum des Pau­lus –), um aus ih­nen Et­was zu schaf­fen, das stär­ker ist als jede Ja-sa­gen­de Par­tei des Le­bens. Die dé­ca­dence ist, für die im Ju­den- und Chris­ten­tum zur Macht ver­lan­gen­de Art von Mensch, eine pries­ter­li­che Art, nur Mit­tel: die­se Art von Mensch hat ein Le­bens-In­ter­es­se dar­an, die Mensch­heit krank zu ma­chen und die Be­grif­fe »gut« und »böse«, »wahr« und »falsch« in einen le­bens­ge­fähr­li­chen und welt­ver­leum­de­ri­schen Sinn um­zu­drehn. –

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25.

Die Ge­schich­te Is­rael’s ist un­schätz­bar als ty­pi­sche Ge­schich­te al­ler Ent­na­tür­li­chung der Na­tur-Wert­he: ich deu­te fünf That­sa­chen der­sel­ben an. Ur­sprüng­lich, vor Al­lem in der Zeit des Kö­nigt­hums, stand auch Is­rael zu al­len Din­gen in der rich­ti­gen, das heißt der na­tür­li­chen Be­zie­hung. Sein Ja­veh war der Aus­druck des Macht-Be­wußt­seins, der Freu­de an sich, der Hoff­nung auf sich: in ihm er­war­te­te man Sieg und Heil, mit ihm ver­trau­te man der Na­tur, daß sie giebt, was das Volk nö­thig hat – vor Al­lem Re­gen. Ja­veh ist der Gott Is­rael’s und folg­lich Gott der Ge­rech­tig­keit: die Lo­gik je­des Volks, das in Macht ist und ein gu­tes Ge­wis­sen da­von hat. Im Fest-Cul­tus drücken sich die­se bei­den Sei­ten der Selbst­be­ja­hung ei­nes Vol­kes aus: es ist dank­bar für die großen Schick­sa­le, durch die es oben­auf kam, es ist dank­bar im Ver­hält­niß zum Jah­res­kreis­lauf und al­lem Glück in Vieh­zucht und Acker­bau. – Die­ser Zu­stand der Din­ge blieb noch lan­ge das Ide­al, auch als er auf eine trau­ri­ge Wei­se ab­ge­than war: die An­ar­chie im In­nern, der As­sy­rer von Au­ßen. Aber das Volk hielt als höchs­te Wünsch­bar­keit jene Vi­si­on ei­nes Kö­nigs fest, der ein gu­ter Sol­dat und ein stren­ger Rich­ter ist: vor Al­lem je­ner ty­pi­sche Pro­phet (das heißt Kri­ti­ker und Sa­ti­ri­ker des Au­gen­blicks) Je­saia. – Aber jede Hoff­nung blieb un­er­füllt. Der alte Gott konn­te nichts mehr von dem, was er ehe­mals konn­te. Man hät­te ihn fah­ren las­sen sol­len. Was ge­sch­ah? Man ver­än­der­te sei­nen Be­griff, – man ent­na­tür­lich­te sei­nen Be­griff: um die­sen Preis hielt man ihn fest. – Ja­veh der Gott der »Ge­rech­tig­keit«, – nicht mehr eine Ein­heit mit Is­rael, ein Aus­druck des Volks-Selbst­ge­fühls: nur noch ein Gott un­ter Be­din­gun­gen … Sein Be­griff wird ein Werk­zeug in den Hän­den pries­ter­li­cher Agi­ta­to­ren, wel­che al­les Glück nun­mehr als Lohn, al­les Un­glück als Stra­fe für Un­ge­hor­sam ge­gen Gott, für »Sün­de« in­ter­pre­ti­ren: jene ver­lo­gens­te In­ter­pre­ta­ti­ons-Ma­nier ei­ner an­geb­lich »sitt­li­chen Wel­t­ord­nung«, mit der, ein für alle Mal, der Na­tur­be­griff »Ur­sa­che« und »Wir­kung« auf den Kopf ge­stellt ist. Wenn man erst, mit Lohn und Stra­fe, die na­tür­li­che Cau­sa­li­tät aus der Welt ge­schafft hat, be­darf man ei­ner wi­der­na­tür­li­chen Cau­sa­li­tät: der gan­ze Rest von Un­na­tur folgt nun­mehr. Ein Gott, der for­dert, – an Stel­le ei­nes Got­tes, der hilft, der Rath schafft, der im Grun­de das Wort ist für jede glück­li­che In­spi­ra­ti­on des Muths und des Selbst­ver­trau­ens … Die Moral nicht mehr der Aus­druck der Le­bens- und Wachst­hums­be­din­gun­gen ei­nes Volks, nicht mehr sein un­ters­ter In­stinkt des Le­bens, son­dern ab­strakt ge­wor­den, Ge­gen­satz zum Le­ben ge­wor­den, – Moral als grund­sätz­li­che Ver­schlech­te­rung der Phan­ta­sie, als »bö­ser Blick« für alle Din­ge. Was ist jü­di­sche, was ist christ­li­che Moral? Der Zu­fall um sei­ne Un­schuld ge­bracht; das Un­glück mit dem Be­griff »Sün­de« be­schmutzt; das Wohl­be­fin­den als Ge­fahr, als »Ver­su­chung«; das phy­sio­lo­gi­sche Übel­be­fin­den mit dem Ge­wis­sens-Wurm ver­gif­tet …