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Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch Fuer Freie Geister

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556

Fleiss und Gewissenhaftigkeit. – Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.

557

Verdächtigen. – Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich zu verdächtigen.

558

Die Umstände fehlen. – Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.

559

Mangel an Freunden. – Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat.

560

Gefahr in der Vielheit. – Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Füssen steht.

561

Den Andern zum Vorbild. – Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, – was die Menschen lieben.

562

Zielscheibe sein. – Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen.

563

Leicht resignirt. – Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen.

564

In Gefahr. – Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist.

565

Je nach der Stimme die Rolle. – Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen Auditorium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. – Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.

566

Liebe und Hass. – Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.

567

Mit Vortheil angefeindet. – Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe – und dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre Geltung ist.

568

Beichte. – Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht.

569

Selbstgenügsamkeit. – Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche.

570

Schatten in der Flamme. – Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise.

571

Eigene Meinungen. – Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.

572

Herkunft des Muthes. – Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.

573

Gefahr im Arzte. – Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.

574

Wunderliche Eitelkeit. – Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.

575

Beruf. – Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.

576

Gefahr persönlichen Einflusses. – Wer fühlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.

577

Den Erben gelten lassen. – Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.

578

Halbwissen. – Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.

579

Nicht geeignet zum Parteimann. – Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.

580

Schlechtes Gedächtniss. – Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst.

581

Sich Schmerzen machen. – Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.

582

Märtyrer. – Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.

583

Rückständige Eitelkeit. – Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze einbettelten.

584

Punctum saliens der Leidenschaft. – Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft das Gefäss über.

585

Gedanke des Unmuthes. – Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. – Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia?

586

Vom Stundenzeiger des Lebens. – Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer – Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.

587

Angreifen oder eingreifen. – Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, – vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.

588

Bescheidenheit. – Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.

589

Des Tages erster Gedanke. – Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.

590

Anmaassung als letztes Trostmittel. – Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.

591

Vegetation des Glückes. – Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, – überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst finden – und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.

 
592

Die Strasse der Vorfahren. – Es ist vernünftig, wenn jemand das Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: "Welche Strasse sollst du reiten? – die deiner Vorfahren."

593

Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. – So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.

594

Philosophische Neulinge. – Hat man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.

595

Durch Missfallen gefallen. – Die Menschen, welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und indirect, vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. – Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber kräftiges, wenngleich spät wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen.

596

Casus belli und Aehnliches – Der Fürst, welcher zu dem gefassten Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu führen, einen casus belli ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?

597

Leidenschaft und Recht. – Niemand spricht leidenschaftlicher von seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.

598

Kunstgriff des Entsagenden. – Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten, gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will.

599

Lebensalter der Anmaassung. – Zwischen dem sechsundzwanzigsten und dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fühlt, von Mensen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel zu sein und so wenig zu scheinen. Später scheint man wirklich mehr, – aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit.

600

Trügerisch und doch haltbar. – Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran festzuhalten, – denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen, sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken, – so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen; es ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stützen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in der Nähe (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei, gewöhnlich sind).

601

Lieben lernen. – Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfindungen liebevoller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden, wenn Einer ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu allmählich absterben.

602

Die Ruine als Schmuck. – Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.

603

Liebe und Ehre. – Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein Zustand ist Ehrfurcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was trennt, abhebt, über- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden widerspänstig.

604

Vorurtheil für die kalten Menschen. – Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder sich so stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen und es lange festhalten.

605

Das Gefährliche an freien Meinungen. – Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art jucken; giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt.

606

Begierde nach tiefem Schmerz. – Die Leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust.

607

Unmuth über andere und die Welt. – Wenn wir, wie so häufig, unsern Unmuth an Anderen auslassen, während wir ihn eigentlich über uns empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen verlieren. – Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig wie jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt.

608

Ursache und Wirkung verwechselt. – Wir suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen unseren Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben hätten: während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nachträglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. – Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Komödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen und Macht.

609

Lebensalter und Wahrheit. – junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt.

610

Die Menschen als schlechte Dichter. – So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres früheren Lebens passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden.

611

Langeweile und Spiel. – Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück.

612

Lehre aus Bildern. – Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge: dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemässer, – und diese innere Thatsache spricht sich in der erwähnten äusseren aus.

 
613

Stimmklang der Lebensalter. – Der Ton, indem Jünglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfällt dem Aelter gewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, als die Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, mässig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch.

614

Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. – Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, – das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wüthet und heult.

615

Trost für Hypochonder. – Wenn ein grosser Denker zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, überhaupt die Stimmung des bellum omnium contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht.

616

Der Gegenwart entfremdet. – Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als Die, welche sie nie verlassen haben.

617

Auf persönlichen Mängeln säen und ernten. – Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn jener die Verdorbenheit und Entartung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist.

618

Philosophisch gesinnt sein. – Gewöhnlich strebt man darnach, für alle Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemüthes, eine Gattung von Ansichten zu erwerben, – das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt.

619

Im Feuer der Verachtung. – Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch vielmehr selber an.

620

Aufopferung. – Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir für die grosse uns durch Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich ist.

621

Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.

622

Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. – Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. – Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.

623

Tiefe Menschen. – Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben – man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen – sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben.

624

Verkehr mit dem höheren Selbst. – Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.

625

Einsame Menschen. – Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. – Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.