Paulusstudien

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Friedrich W. Horn

Paulusstudien

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0049-2


Inhalt

  Dieses Buch widme ich ...

  Vorwort

  Einführung

  Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum* 1. Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage 2. Die Begründung des Verzichtes auf die Beschneidung 3. Jüdische und judenchristliche Reaktionen 4. Die Auswirkungen des Verzichts auf die Beschneidung

 Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer*1. Act 18,18–221.1 Die lukanischen Aussagen1.2 Das Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat1.3 Die historischen Zusammenhänge2. Act 21,15–272.1 Die lukanischen Aussagen und ihr Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat2.2 Die historischen Zusammenhänge3. Theologische Bewertung

 Kyrios und Pneuma bei Paulus*1. Zur Begriffsgeschichte2. Die direkten Zuordnungen von κύριος, υἱὸς θεοῦ, ἔσχατος Ἀδάμ bzw. Ἰησοῦς Χριστός und πνεῦμα in den paulinischen Briefen2.1 „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, ist dieser nicht sein“ (Römer 8,9c)2.2 „Der letzte Adam (wurde) zu einem lebenschaffenden Geist“ (1Kor 15,45b)2.3 „Der Herr aber ist der Geist“ (2Kor 3,17a)2.4 „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17b)2.5 „Wir werden verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit wie vom Geist des Herrn“ (2Kor 3,18)2.6 „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft Abba, Vater“ (Gal 4,6b)2.7 „Denn ich weiß, dass dieses mir zum Heil gereichen wird durch euer Gebet und die Unterstüzung des Geistes Jesu Christi“ (Phil 1,19)3. Ergebnisse und Folgerungen

 Die letzte Jerusalemreise des Paulus*1 Einleitung2 Die Kollektenreise des Paulus nach Jerusalem2.1 Die Absicht der Reise2.2 Die Aufforderung zur Fürbitte und die Situation des Paulus3 Folgerungen

  Ist Paulus der Begründer des Christentums?* I. Begründer oder zweiter Begründer des Christentums? Zur Forschungsgeschichte II. Der historische Standort des Paulus III. Paulus als Begründer des Christentums

  Zur Literarkritik der Paulusbriefe* 1. Der Weg zur Methode literarkritischen Arbeitens 2. Aufsätze zur Literarkritik der Paulusbriefe 3. Kritische Würdigung

  Die Kollektenthematik in der Apostelgeschichte* 1. Die Kollektenthematik im Kontext des Apostelkonvents 2. Die Anfänge der antiochenischen Kollekte 3. Die Vorgeschichte der antiochenischen Kollekte 4. Die Kollektendelegation der makedonischen und achaischen Gemeinden 5. Der Verbleib der Kollekte

  Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die vergänglichen Bilder der Menschen* 1. Röm 1,23 im Kontext des Römerbriefs 2. Der schlechte Tausch: Bilder eines vergänglichen Menschen, von Vögeln, Vierfüßlern und Kriechtieren (Röm 1,23) 3. Die Polemik gegen die Verehrung von Menschen- und Tierbildern im hellenistischen Judentum 4. Gottesverehrung, Bilder und Ethik

  Juden und Heiden – Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen 1. Der Widerspruch Ernst Käsemanns 2. Die Rechtfertigungslehre als Apologie der Heidenmission 3. Das Modell von zwei Bünden – Aufnahme und Kritik 4. Die Rechtfertigung des Gottlosen 5. Ausblick Summary

  Die Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik 1. Theologie und Ethik des Neuen Testaments. Das Verhältnis beider Disziplinen zueinander innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft 2. Glaubensüberzeugung und Lebensgestaltung, Zuspruch und Anspruch 3. Das Doppelgebot der Liebe 4. Besonderheiten der urchristlichen Gemeindeethik 5. Anfragen und Würdigung

  Paulus* und der Herodianische Tempel** 1. Einführung 2. Heidenchristliche Gemeinden als Tempel Gottes 3. Die Tempelfrömmigkeit des Paulus 4. Tempeltheologische Aspekte im Kontext der Kollektenreise

  Stephanas und sein Haus – die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia 1. Die Empfehlung des Stephanas und seiner Begleiter im Briefschluss des ersten Korintherbriefs 2. Die οἰκία Στεφανᾶ – ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας 3. Der Dienst an den Heiligen 4. Die stellvertretende Leistung der Hausgemeinde des Stephanas 5. Stephanas und Paulus

 Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15*I. Autobiographisches Reden in Röm 15,7–33II. Forschungspositionen1. Paulus als Diplomat2. Paulus als Ausleger und Erfüller der Schrift3. Paulus als Hermeneut existentieller TheologieIII. Die priesterliche Selbstvorstellung1. εἰς τὸ εἶναί με λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη (Röm 15,16a)2. ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ (Röm 15,16b)3. ἵνα γένηται ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος (Röm 15,16c)4. ἡγιασμένη ἐν πνεύματι ἁγίῳ (Röm 15,16d)IV. Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Röm 15

  Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective* 1. ‚Lutheran spectacles‘ 2. Indikativ und Imperativ 3. Rechtfertigung und Heiligung 4. Die jüdische Grundstruktur der paulinischen Ethik 5. ἔργα νόμου 6. Das Verhältnis zur Tora 7. Heiligung – ein ethischer Begriff? 8. Schluss

 

  Das Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen* 1. Sprachliche Voraussetzungen 2. Die Verwendung der Belege im Corpus Paulinum 3. Gal 3,27 4. Röm 13,14 5. Kol 3,10f 6. Zum religionsgeschichtlichen Kontext der Metapher 7. Die ethische Verwendung der Metapher

  Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger 1. Polemik im Römerbrief – Einführung 2. Die Polemik gegen pagane Lebensweise in Röm 1,18–32 3. Die Polemik gegen Juden in Röm 2,17–24 4. Die conclusio in Röm 3,9–20 5. Die ‚Ketzerpolemik‘ in Röm 16,17–20a 6. Auswertung

 Werke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis1 Einleitung2 Begriffsgeschichtliche Klärungen3 Werke des Gesetzes4 Werke im Glauben4.1 Der juridische Kontext4.2 Der sakramentale Kontext4.3 Die Heiligung der Gemeinde5 Fazit

 Wollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken?*1. Begriffsgeschichtliche Annäherungen2 Kor 10,12–18Gal 6,16Phil 3,16Ergebnis2. Die Briefe des Paulus als Kanon3. Das Anathema über ein anderes Evangelium4. Die Nicht-Einmischungsklausel im Römerbrief

  Ortsverschiebungen 1. Ortsverschiebung: Die Gemeinde als gegenwärtiger Tempel 2. Ortsverschiebung: Der wahre, jenseitige, himmlische Kult 3. Ortsverschiebung: Gott und Christus als der zukünftige Tempel

  Paulus und die Kardinaltugenden* 1. Traditions- und begriffsgeschichtlicher Befund zum Kanon der Kardinaltugenden 2. Die Kardinaltugenden als apostolischer Anspruch 3. Tapferkeit 4. Die Anthropologie des Paulus und die Kardinaltugenden

 Nicht wie die Heiden!1. Zur Sexualethik des Paulus2. Tabuzonen2.1 Inzest2.2 Πορνεία2.3 Prostitution2.4 Ehebruch2.5 Μαλακοί und ἀρσενοκοῖται2.6 Geschlechtsverkehr mit Engeln2.7 Ergebnis

  Sachregister

Dieses Buch widme ich Hannah, Emmalie, Jonna und Ella.

Vorwort

Die in diesem Buch abgedruckten Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Diese wurden in chronologischer Reihenfolge angeordnet, durchgehend korrigiert und an ganz wenigen Stellen um zwischenzeitlich notwendig gewordene Hinweise ergänzt.

Ich danke Jutta Nennstiel sehr herzlich für alle Arbeit an diesem Band. Sie hat Aufsätze, die nicht digital vorlagen, neu geschrieben, sodann alle Dateien in das NET-Format überführt und durchkorrigiert, sie hat das Register erstellt und den Band in der ihr eigenen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bis zur Abgabe an den Verlag betreut. Diesen Dank weite ich an dieser Stelle sehr gerne und von Herzen über dieses Buch hinaus aus auf die gesamte zurückliegende Zeit gemeinsamer Arbeit.

Mainz, im April 2017

Friedrich W. Horn

Einführung

Die in diesem Band vorliegenden Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Sie stehen in Verbindung mit meiner Lehrtätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und sind in der Abfolge ihrer Publikationsjahre hier erneut wiedergegeben. Der erste abgedruckte Aufsatz gibt den Probevortrag wieder, mit dem ich mich 1994 in Mainz beworben habe. Das von mir herausgegebene Paulus Handbuch, Tübingen 2013, ist der Darstellung der Person und des Werks des Apostels gewidmet. Drei inhaltliche Schwerpunkte sind in den ausgewählten Paulusstudien gesetzt:

1 Seit meiner Habilitationsschrift beschäftige ich mich mit der Frage nach Wandlungen innerhalb der paulinischen Theologie. Diese Fragestellung wurde für mich seinerzeit von Georg Strecker an der Georg-August-Universität in Göttingen angestoßen und sie wurde damals auch von meinen Vorgängern als Assistent Georg Streckers, von Gerd Lüdemann und Udo Schnelle, aber auch von weiteren Doktoranden aufgenommen. Es geht hierbei primär darum, Wandlungen innerhalb der Briefe des Paulus zwischen dem 1. Thessalonicherbrief als dem frühesten Brief und dem Römerbrief als dem vermutlich letzten Brief des Paulus zu erkennen und zu beschreiben. Darüber hinaus aber ist noch weiter zurückzufragen in die vor den Gemeindebriefen liegende antiochenische Zeit des Apostels und sogar in seine vorchristliche, jüdisch-pharisäische Vergangenheit. Hier liegen grundlegende jüdische und frühchristliche Prägungen des Paulus und sie sind in seinen Briefen unschwer zu erkennen. Der Frage nach Wandlungen liegt aber im engeren Sinn die Einsicht zugrunde, dass das Damaskuserlebnis oder die Berufung des Paulus nicht der archimedische Punkt ist, der alle weiteren theologischen Einsichten in sich schließt. Vielmehr setzt das Damaskuserlebnis, in dessen Zentrum wohl die als Offenbarung interpretierte Anerkennung des gekreuzigten Jesus als des Christus steht, die Notwendigkeit frei, diese Einsicht gedanklich zu bewältigen. Die Briefe des Paulus sind Dokumente dieses Reflexions- und Selbstfindungsprozesses christlicher Theologie. Man sollte jedoch nicht meinen, es sei ein gedanklicher Entwicklungsprozess des Apostels stimmig zu rekonstruieren. Die Ausführungen des Paulus in seinen Briefen sind in hohem Maße kontextuell eingebunden und bisweilen auch als Reaktion auf Strömungen in den Gemeinden oder als Auseinandersetzung mit weiteren Aposteln zu verstehen. Zu dem Thema der Wandlungen innerhalb der paulinischen Theologie gehört auch die seinerzeit von Georg Strecker betonte Einsicht, dass die in allen Briefen des Paulus begegnende ‚in Christus-Vorstellung‘ so etwas wie die Konstante im Denken des Paulus darstellt.

2 Auch der zweite Schwerpunkt verdankt sich einer Anregung Georg Streckers. Dieser war an allen ethischen Fragen des Neuen Testaments im Kontext seiner hellenistischen Umwelt interessiert und er arbeitete an einer monographischen Darstellung der Ethik des Neuen Testaments, die jedoch wegen seines frühen Todes nicht abgeschlossen werden konnte. Georg Strecker hatte mir in der Dissertation die Aufgabe gestellt, die Ethik des Evangelisten Lukas zu untersuchen (Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas, GTA 26, Göttingen 1983. 21986). Der Titel dieser Studie bewegt sich noch ganz in der seinerzeit bestimmenden Fragestellung nach dem theologischen Ort der Ethik. Damit jedenfalls war ein ethischer Schwerpunkt gesetzt, der hernach auch in der Beschäftigung mit Paulus erhalten blieb. Seit 1982 habe ich in der Theologischen Rundschau die Literatur zur Ethik des Neuen Testaments besprochen (ThR 60, 1995, 32–86; ThR 76, 2011, 1–36.180–221). Mit der Berufung von Ulrich Volp im Jahr 2008 (Kirchengeschichte/Patristik) und Ruben Zimmermann im Jahr 2009 (Neues Testament) konnte in Mainz das Zentrum für Ethik in Antike und Christentum (EAC) begründet werden. Neben regelmäßigen Tagungen, den Mainz Moral Meetings, und der Arbeit in Doktorandengruppen bzw. in einem Graduiertenkolleg konnten ab jetzt regelmäßig Publikationen zu ethischen Themen vorgelegt werden. Diese sind teilweise in einer Untergruppe der Reihe WUNT als ‚Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik‘ erschienen.

3 Der dritte Schwerpunkt liegt in dem facettenreichen Thema Paulus und das Judentum. Durch die Berufung an die Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg im Jahr 1992 wurde mir die Leitung des Forschungsschwerpunktes Geschichte und Religion des Judentums übertragen. Ich musste schnell erkennen, dass ich durch die Göttinger Studien- und Qualifikationszeit nicht auf die spezifischen Fragen vorbereitet war, die sich in Duisburg im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, wie er in der Evangelischen Kirche im Rheinland geführt wurde, vorbereitet war. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen Heike Omerzu und Claudia Büllesbach und mit meinem Mitarbeiter Hermut Löhr haben wir in diesen Jahren in Duisburg einen anderen Schwerpunkt gesucht und haben zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit gearbeitet. Das Bild des hellenistischen Diasporajuden Paulus, eines römischen Bürgers und jüdischen Denkers, erfuhr durch diese Studien eine differenzierte Betrachtung. Auch die gemeinsame Arbeit an historischen, rechtlichen und theologischen Fragen zum Ende des Paulus findet einen Niederschlag in etlichen Beiträgen dieses Bandes. Durch die New Perspective on Paul, die mit großer zeitlicher Verzögerung in Deutschland rezipiert wurde, sind etliche Fragestellungen zum Judentum, zur jüdischen Matrix des Paulus und zur Gestalt seiner Theologie neu erschlossen worden. Man konnte und durfte diesen Fragen nicht ausweichen, zu grundsätzlich waren die Anfragen etwa an die Bedeutung der Rechtfertigungslehre und an die Ekklesiologie in der älteren deutschen Exegese. Vor allem hat mich interessiert, wie Paulus mit den sogenannten identity markers oder boundary markers des Judentums gegenüber der heidnischen Welt umgeht und welche Ethik er entwirft, wenn er nun seinerseits Heidenmissionar wird und christliche, vorwiegend heidenchristliche Gemeinden begründet.

Hier in diesem Band nicht aufgenommen sind Aufsätze und Artikel zur Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte, die sich auf die Religionsgeschichtliche Schule und deren Nachwirkung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beziehen. Sie sollen dennoch erwähnt werden, weil es eine Grunderfahrung der Arbeit vergangener Jahre war, Wesentliches aus dem Studium der Arbeiten dieser Theologengeneration empfangen und gelernt zu haben.

Der Verzicht auf die BeschneidungBeschneidung im frühen Christentum*

* Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum“, pp. 479–505, New Testament Studies, (1996) ©, Cambridge University Press 1996, reproduced with permission.

Die neutestamentlichen Schriften blicken mehrheitlich mit erheblichem zeitlichem Abstand auf die Anfänge des frühen Christentums zurück. Dieser Blick ist in keinem Fall von einem ausschließlich historischen Interesse geleitet, er dient vielmehr durchgehend der Selbstvergewisserung der eigenen Gegenwart. So erscheint die Verhältnisbestimmung zum Judentum in fast allen Schriften durch eine klare Abgrenzung gekennzeichnet. Der weitgehend negative Verlauf der christlichen Mission an Juden einerseits und der Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. andererseits haben diese neutestamentliche Sicht im Wesentlichen geprägt.

 

Gleichwohl ist für die Ausbildung von christlichen Gemeinden ein spannungsvolles Verhältnis zum Judentum geradezu konstitutiv. Es impliziert Nähe und Distanz zugleich. Man wird diese Frage auf mehreren Ebenen verfolgen, zugleich um die Gefahren eines simplifizierenden Geschichtsbildes und einer einseitigen Fragestellung wissen müssen. Das Judentum der neutestamentlichen Zeit ist eine ausgesprochen komplexe Größe. Und die Frage nach den Anfängen hat neben den theologischen gleichfalls sozialgeschichtliche, juridische oder auch politische Aspekte zu bedenken.

Ich möchte versuchen, an einem klar begrenzten Aspekt jüdischer Lebenswirklichkeit – der Beschneidung der männlichen Juden – aufzuzeigen, wie und weshalb es zu einem eigenständigen, spezifisch anderen christlichen Weg kam. Ich möchte somit Ihren Blick auf die konkreten Formen gelebter Religion lenken. Parallel hierzu wäre etwa nachzudenken über die Bedeutung der jüdischen Speisegebote, des Sabbatgebotes, der Frömmigkeitsübungen wie Fasten und Almosen. Es sind dies die sog. ‚identity markersidentity markers‘1 jüdischer Existenz im Gegenüber zur heidnischen Welt. Werden sie, wie von einem Teil des entstehenden Christentums, nicht mehr eingehalten, so hebt man das Unterscheidungskriterium auf und dispensiert sich zugleich vom jüdischen Gemeindeverband. Wir wissen, dass vor allem das Heidenchristentum, aber auch gebürtige Juden wie der Apostel Barnabas und Paulus von den Christusgläubigen aus dem heidnischen Raum keine Beschneidung verlangten. Wie kam es zu dieser Entscheidung, was hat diesen Weg begünstigt? Den Stellenwert des Themas mag ein Zitat von M. Hengel präzise anzeigen: „Der Kampf des Paulus gegen die Beschneidung und das Gesetz war […] in den Augen seiner judaistischen Gegner ein ‚Verrat am Judentum.‘“2 Dem religiösen korrespondiert ein politischer Aspekt: Heidenchristen sind ab jetzt von der jüdischen Alltagswelt (Tempelbesuch, Ehe mit einem Juden/einer Jüdin, Anspruch auf jüdische Wohltätigkeit, relative Sonderrechte im römischen Staat) a limine ausgeschossen.

1. Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage

Es kann zunächst eine gewisse Eingrenzung getroffen werden. Die Frage der Beschneidung ist kein Thema der Verkündigung Jesu. Dieser Befund verdient Beachtung, weil Aussagen zu anderen sog. jüdischen ‚identity markersidentity markers‘, etwa das Verhalten am Sabbat, die Fastenpraxis, der Umgang mit Sündern, durchaus auf die Verkündigung Jesu zurückgehen und von der palästinischen Gemeinde in Apophthegmata aufgenommen worden sind. Allerdings ist sogleich zu sagen: die rechte Auslegung des Sabbatgebotes oder der Fastenpraxis stellt zur Zeit Jesu ein innerjüdisches Problem dar, in das Jesus eingreift. Die Beschneidung hingegen ist im palästinischen Judentum nahezu außerhalb jeder Diskussion.1 Dies bedeutet positiv: Wir müssen davon ausgehen, dass Jesus die Beschneidung selbstverständlich voraussetzt, gerade weil er sie nicht thematisiert.2

Die Abgrenzung – sozusagen nach hinten – ist andererseits mit dem ApostelkonventApostelkonvent gegeben, über den Gal 2,1–10$Gal 2,1–10 und Apg 15$Apg 15 berichten. Nach beiden Berichten war das Thema des Konvents allgemein die Heidenmission (Gal 2,2.9; Apg 15,12). Auf dem Konvent allerdings tritt eine Gruppierung – Lk nennt sie „einige von der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren“ (Apg 15,5); Paulus sagt rückblickend „die falschen Brüder“ (Gal 2,4) – mit der Forderung der Beschneidung der bekehrten Heidenchristen auf (Apg 15,5b).3 Dies bedeutet: die Frage der Beschneidung allein war wohl nicht der direkte Anlass des Apostelkonvents, wurde aber zu einem zentralen Diskussionspunkt durch das Auftreten der „falschen Brüder“.4 Sind die „falschen Brüder“ erst durch das Auftreten des unbeschnittenen Heidenchristen Titus auf das Problem aufmerksam gemacht worden?5 Wohl kaum. Da der Kontakt zwischen der Jerusalemer Gemeinde und der Gemeinde Antiochias, als deren Delegaten Barnabas, Paulus und Titus nach Jerusalem ziehen, eng war, ist vielmehr anzunehmen, dass die „falschen Brüder“ auf dem Konvent bewusst Informationen aus Antiochia in die Diskussion bringen.6 Die präzise Identifizierung der ialschen Brüder fällt nicht leicht.7 Sie stehen in einer Linie mit den Leuten des Jakobus, die bald in Antiochia auftauchen (Gal 2,12), sind aber nicht mit ihnen zu identifizieren. Dies alles besagt nun für unsere Fragestellung: Die Person des Titus (Gal 2,3) und die Erwähnung (weiterer) unbeschnittener Delegaten aus Antiochia (Apg 15,5) zum Konvent sind ein klarer Hinweis, dass hier in Antiochia – einer hellenistischen Großstadt mit einem Anteil von ca. 50000 Juden und zusätzlichen Phoboumenoi (Jos.Bell 7,46) – eine Gemeinde aus unbeschnittenen und beschnittenen Christen existiert. Dies ist freilich nur möglich, wenn die trennenden Faktoren des jüdischen Zeremonialgesetzes missachtet werden. Der sog. Antiochenische Streit Antiochenischer Streit, der nach dem ApostelkonventApostelkonvent stattfand8 und über den Paulus in Gal 2,11–14$Gal 2,11–14 berichtet, zeigt am Beispiel der Speisefragen recht deutlich, dass in AntiochiaAntiochia ehemalige Heiden und Juden, die sich jetzt gemeinsam zu Christus bekennen, Speisegemeinschaft haben. Deutlicher aus der Perspektive des Zeremonialgesetzes gesagt: Reine und unreine Menschen essen Speisen, die zu verzehren einem Juden untersagt sind.9 Nicht nur in der Frage der Beschneidung, ebenso in Speisefragen wird die bislang verbindliche Vorgabe der jüdischen Tora ignoriert.

Was ist in Antiochia dadurch eigentlich geschehen? Die Beschneidung der männlichen Juden war im babylonischen Exil zu einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden babylonischen Bevölkerung geworden, unter der die Beschneidung nicht üblich war. Die Beschneidung war gleichsam das äußerliche Zeichen der Zugehörigkeit zum Gott Israels. Die Priesterschrift hat diesem Brauch eine heilsgeschichtliche Verankerung gegeben, war doch nach Gen 17,11 die Beschneidung das „Zeichen des Bundes“. Hieran schließt sich der im Judentum gebräuchlich gewordene Ausdruck „Beschneidungsbund“ (berit mila) an. Es handelt sich also um mehr als nur um ein Abgrenzungszeichen in fremder Umwelt. Die Beschneidung erfuhr im Verlauf des Frühjudentums eine enorme theologische Aufwertung. Versuche, sie zurückzudrängen – so etwa durch die hellenistischen Reformer der Makkabäerzeit (1 Makk 1,15) oder aber das Verbot der Beschneidung durch den römischen Kaiser Hadrian10 – bewirkten letztlich eher das Gegenteil. Dass männliche Kinder einer jüdischen Mutter am achten Tag beschnitten werden, war – auch wenn positive Zeugnisse rar sind – wohl selbstverständliche Praxis in der Zeit des zweiten Tempels. Wenn männliche Heiden den Zugang zum Gott Jahwe und zum Volk Israel suchten, so haben sie als Proselyten u.a. die Bescheidung zu übernehmen. Und genau hier liegt der Punkt, wo die christliche Gemeinde in Antiochia sich abweichend verhalten hat. Dass Kinder aus jüdischen Familien, die Christen geworden waren, weiterhin mehrheitlich beschnitten wurden, ist wahrscheinlich. Allein die Heidenchristen, wie das Beispiel des Titus zeigt, haben diesem Brauch nicht mehr entsprochen. Ihr Zugang zur Heilsgemeinde verlief – drastisch gesprochen – nicht mehr über den Umweg einer vorgängigen Konversion zum Judentum. Ohne Beschneidung erfüllten sie nicht die an einen Proselyten gestellten Bedingungen. So aber befanden sich Beschnittene und Unbeschnittene in einer Heilsgemeinde, die nun nicht mehr durch die traditionellen „identity markers“ bestimmt war.

Wir besitzen keine direkten literarischen Zeugnisse aus der antiochenischen Gemeinde. Wenige wichtige Hinweise bietet wiederum die Apg. Hiernach sind die christlichen Hellenisten der Jerusalemer Urgemeinde nach der Verfolgung des Stephanus nach Phönizien, Zypern und AntiochiaAntiochia gezogen (11,19). Ein Teil dieser Hellenisten nimmt in Antiochia Predigttätigkeit gegenüber den Heiden auf (11,20). Der Jerusalemer Judenchrist BarnabasBarnabas kommt nach Antiochia (11,22). Er ist verantwortlich für die Übersiedlung des Paulus aus Tarsus, wohin er nach der Bekehrung zurückgegangen war, nach Antiochia (11,26). Beide bleiben ein Jahr (11,26) in Antiochia und werden sodann (13,1) von der Gemeinde förmlich zu einer Missionsreise ausgesandt (13–14), die sie bis in die Provinzen Pamphylien, Pisidien und Lykaonien führt. Aus dem Bericht der Apg, der in den Grundzügen historisch korrekt sein dürfte,11 wird deutlich, dass die antiochenische Gemeinde der eigentliche geistige Nährboden für die paulinische Theologie gewesen sein dürfte. Wenn die Paulusbriefe Formeln, Traditionsgut wiedergeben, dann wird unter den Texten Etliches mit gutem Grund als Erbe der antiochenischen Zeit zu verstehen sein. Die Gesprächslage auf dem Apostelkonvent setzt voraus, dass man nicht allein in Antiochia in einer Gemeinschaft von beschnittenen und unbeschnittenen Christen lebte, sondern diese Praxis auch auf der ersten Missionsreise zur Anwendung brachte. Hierbei werden Barnabas und Paulus die Anknüpfung an die SynagogeSynagoge gesucht,12 diejenigen aber, die sich zum christlichen Glauben, zu dem Gott Israels, der Jesus von den Toten auferweckt hat, bekehrten, nicht mehr als Proselyten mit der Beschneidung konfrontiert haben. Es ist denkbar, dass auch andere Hellenisten in ihrer Mission ähnlich verfahren sind.13

Diese Annahme wird belegt durch zwei unterschiedliche Aussagenreihen in den paulinischen Briefen, die zumindest in der Substanz nicht anders denn als Traditionen der antiochenischen Gemeinde zu verstehen sind. Die erste Reihe stellt zugleich die älteste christliche Aussage zur Beschneidungsfrage dar.

Die erste Reihe findet sich in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15:

 1 Kor 7,19: $1Kor 7,19ἡ περιτομὴ οὐδέν ἐστιν καὶ ἡ ἀκροβυστία οὐδὲν, ἀλλὰ τήρησις ἐντολῶν θεοῦ

 Gal 5,6: $Gal 5,6ἐν γὰρ Χριστῷ Ἰησοῦ οὔτε περιτομή τι ἰσχύει οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ πίστις δι ᾽ ἀγάπης ἐνεργουμένη

 Gal 6,15: $Gal 6,15οὔτε γὰρ περιτομή τί ἐστιν οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ καινὴ κτίσις

Diese drei Formeln stellen jeweils in gleichem dreigliedrigem Aufbau und in weitgehend gleicher Sprache (abstrakt-kollektive Redeweise) den Zustand des Beschnittenseins bzw. den Zustand des Unbeschnittenseins als wertlos (1 Kor 7,19),14 als bedeutungslos (Gal 5,6),15 als „nichts“ (Gal 6,15) dar. Eingeleitet mit ἀλλά ist dem jeweils entgegengesetzt das Halten der Gebote Gottes (1 Kor 7,19), der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6), die neue Schöpfung (Gal 6,15). Es ist deutlich, dass diese Formeln in der Ablehnung jeglicher Relevanz des Zustandes der Beschnittenheit bzw. der Unbeschnittenheit eindeutig sind. Heiden müssen nicht darauf hingewiesen werden, dass ihr Zustand des Unbeschnittenseins wertlos ist. Also wenden diese Reihen sich an diejenigen, die diesem Unterscheidungsmerkmal einen Wert beimessen bzw. an diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, sich dem Beschneidungsritual zu unterwerfen. Grundsätzlich schließen diese Formeln nicht den Weg der Beschneidung der heidnischen Konvertiten aus, allein kommt der Sache keinerlei Bedeutung mehr zu. Es würde sich gleichsam um einen profanen Akt handeln. Anders als Paulus in der galatischen Krise vertritt diese Reihe eine adiaphoristische Position. Da sie, wie die Nachsätze eindeutig zeigen, argumentativ im Rahmen jüdischen Denkens bleibt und keinesfalls mit der Nivellierung der Beschneidungsfrage die Tora insgesamt zur Diskussion stellt (vgl. nur 1 Kor 7,19: […] sondern das Halten der Gebote Gottes), so sprechen in ihr Judenchristen (und Heidenchristen, die diese Form von Toraobservanz akzeptieren) im Gegenüber zur Synagoge.16 In dieser Reihe werden sehr wahrscheinlich Grundsätze der antiochenischen Mission sichtbar.17

Die zweite Reihe findet sich in 1 Kor 12,13$1Kor 12,13; Gal 3,28$Gal 3,28; Kol 3,11. Hier allerdings kommt die Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittenheit und Unbeschnittenheit in dem Paar „nicht Jude und nicht Grieche“18 zum Ausdruck, und er ist darüber hinaus bereits zugeordnet der Aufhebung des Gegensatzes von Sklave und Freiem (1 Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11$Kol 3,11), von Mann und Frau (Gal 3,28). Schließlich ist diese Aufhebung deutlich einem spezifischen Ort zugewiesen worden, nämlich der Taufe in den Christus hinein (1 Kor 12,13; Gal 3,27). In alledem muss diese Reihe deutlich einem sekundären Interpretationsstadium zugewiesen werden. Diese Tauftheologie ist bei Paulus erst ab der Korintherkorrespondenz nachzuweisen, und es ist problematisch, sie bereits in früheste Zeit zurückzuführen. Allerdings bezeugen diese Tauftraditionen zugleich noch die ältere Formel der Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittensein und Unbeschnittenheit, ja in Kol 3,11 ist περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία neben Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος gleichsam verstärkend zusätzlich genannt.

Paulus ist mithin kaum der Begründer der beschneidungsfreien Mission, wohl aber wird er derjenige, der sie im heidenchristlichen Raum durchsetzt. Bleiben wir aber noch bei dem Paulus vor der galatischen Krise, die ihn zu beißender Polemik gegen jeglichen Versuch, die Beschneidung in den christlichen Gemeinden einzuführen, treibt – bei dem Paulus, der in der antiochenischen Mission mitwirkt. Die hier gültigen Grundsätze bestimmen auch seine eigene Position auf der zweiten Missionsreise. In Korinth reklamiert er den jeweiligen Stand zu einem Adiaphoron: jeder soll in dem Stand seiner Berufung bleiben, sei er beschnitten oder unbeschnitten. Niemand soll versuchen, eine Änderung herbeizuführen. Dies ist die grundsätzliche Sicht, die Paulus in allen seinen Gemeinden bislang anordnet (1 Kor 7,17). Ist es ein rhetorischer oder theoretischer Zusatz, wenn Paulus hinzufügt (1 Kor 7,18): Der als Beschnittener Berufene soll diesen Stand nicht operativ zu verändern suchen, der als Unbeschnittener Berufene soll sich nicht nachträglich beschneiden lassen? Der Satz ist kaum durch spezifisch korinthische Erfahrungen begründet. Eher will es scheinen, als wolle Paulus eben die zwei Möglichkeiten ausschließen, die den Grundsatz, dass der Stand des Beschnittenseins bzw. der Unbeschnittenheit nichts wert sei, ignorieren.19