Die Wahrheit ist immer anders

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Die Wahrheit ist immer anders
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Über das Buch

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, die drei Protagonisten dieses Romans, und doch sind sie schicksalhaft miteinander verbunden: Franz Eschenburg, der seine Lobbyistentätigkeit von der Staatsanwaltschaft als Bestechung angeklagt sieht, Jan Perkhuis, Vorstandsvorsitzender einer großen Privatbank, die in der Wirtschaftskrise in Gefahr gerät und Thomas Hellmann, der Alkoholiker, der sich aus eigener Kraft von seiner Sucht befreit und zur charismatischen Leitfigur einer Protestbewegung gegen Banken in der Krise wird.

Mit großer erzählerischer Kraft entwirft der Autor anhand dieser drei Personen und ihrer Familien ein lebendiges Bild unserer Zeit, vom Ende des ersten Weltkrieges bis heute.

Der Autor

Geboren 18.08.1946 aufgewachsen in Emlichheim, Grafschaft Bentheim, Niedersachsen. Gymnasium in Nordhorn, 1966 Abitur.

Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, 2. Juristische Staatsprüfung in Hamburg 1976. Von 1976 bis 2017 Rechtsanwalt, von 1979 an selbständig in Bremerhaven, wo er auch lebt. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.

Anfänge schriftstellerischer Tätigkeit etwa 2004.

Bisher sind folgende Romane erschienen:

„Rudolf Mittelbach hätte geschossen“ (2012)

„David, König der Israeliten“ (2012)

„Der Lauf der Zeit“ (2014)

„Moses, der Wanderer“ (2016)


Impressum:

©Copyright 2017: Friedrich von Bonin

Epubli Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Gebhardt Binder (www.gebinder.de)

ISBN: 978-3-746705

Friedrich v. Bonin

Die Wahrheit ist immer anders

Roman

Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten

(Albert Camus in: der Mythos des Sisyphos)

Erstes Buch: Eschenburg

I.

1.

Das Wartezimmer war klein und kalt. Ich saß darin und fror und dachte über den Winter nach, der in diesem Jahr viel zu früh kam. Es war erst Mitte November und schon lagen zehn Zentimeter Schnee in Königsfeld in den Hauptstraßen, in denen die Stadtverwaltung mit Salz nicht gespart hatte, grau, matschig und rutschig und in den Nebenstraßen und außerhalb der Stadt weiß, klar und sehr kalt. Zehn Grad unter null hatte ich gestern Nacht gemessen. Ich verstand nicht, warum man dieses Wartezimmer nicht mehr heizte, die Mitarbeiterinnen mussten doch den Wintereinbruch ebenfalls mitbekommen haben.

Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging durch die schmale Tür hinaus zur Anmeldung, wo die junge hübsche Gehilfin des Anwaltes saß, die mich auch schon empfangen hatte.

„Können Sie bitte im Wartezimmer die Heizung höherstellen, es ist sehr kalt darin“, sagte ich und bemühte mich um einen höflichen bescheidenen Ton.

„Herr Dr. Dragon wird sowieso gleich zu Ihnen kommen, es dauert nur einen Moment, aber natürlich stelle ich trotzdem die Heizung höher ein“, sie lächelte mich freundlich an und dann hörte ich auch schon die Schritte des Anwaltes, der sich über den Flur näherte und auf mich zukam.

„Herr Eschenburg, kommen Sie bitte mit mir, guten Tag, wie geht es Ihnen?“ Nach Art der Anwälte schüttelte er mir die Hand und ging langsam vor mir her den ganzen langen Flur entlang bis in sein Arbeitszimmer, das ich schon kannte. Für ein Anwaltsbüro war es erstaunlich behaglich eingerichtet, mit einem riesigen Schreibtisch an den großen Fenstern, durch die jetzt aber, es war später Nachmittag, kaum Licht hereinkam, mit einer Sitzgruppe gegenüber, einem Eichentisch mit lederbezogenen Stühlen darum. Der Eindruck der Behaglichkeit wurde nur gestört durch Berge von Papieren, die scheinbar ungeordnet auf dem Schreibtisch lagen. Dr. Dragon wies mich an den Eichentisch, der ebenfalls mit dicken Akten übersät war, das waren vermutlich die Unterlagen, die meinen Fall betrafen. Und tatsächlich:

„Das sind die Ermittlungsakten in Ihrem Fall, dem Fall Eschenburg“, sagte er, mir meinen Platz zuweisend und sich setzend.

„Wie Sie sehen, haben die Ermittlungen einen großen Umfang angenommen, aber lassen Sie sich von der Masse nicht schrecken. Zum einen kommt es nicht auf die Dicke der Akten an, sondern darauf, was drinsteht, und zum anderen gibt es ja viele Beschuldigte, Sie sind nicht der einzige.“

„Aber doch wohl der Hauptbeschuldigte?“ fragte ich vorsichtig und Dragon nickte.

„Ja, der Staatsanwalt hat sich hauptsächlich auf Sie eingeschossen, der größte Teil der Untersuchungen beschäftigt sich mit Ihnen. Aber genau habe ich die Akten natürlich auch noch nicht durchgearbeitet, ich habe sie erst seit drei Tagen. Aber hier“, er griff in den obersten Ordner und gab mir ein Bündel Papiere, „hier ist die Anklageschrift, das ist das, was die Justiz bisher aus den Ermittlungen herausgefischt hat. Diese Anklageschrift sollten Sie sich zunächst einmal ansehen und wir reden dann in drei Tagen wieder miteinander, dann kennen Sie die Anklage und ich habe die Akten durchgearbeitet.“ Dr. Dragon lehnte sich zurück und vertiefte sich in einen Abschnitt der obersten Akte, die er aufgeschlagen hatte. Ich betrachtete ihn.

Das war nun also mein Anwalt in diesem Verfahren, ein etwas fülliger Mann in den Fünfzigern, also so alt wie ich, mit vollen grauen Haaren, die rechts gescheitelt waren und an beiden Seiten über die Ohren fielen. Das Gesicht war blass, mit einem leichten Doppelkinn, einer hohen breiten Stirn und dichten Augenbrauen, unter denen grünbraune, kühle und kluge Augen lagen, die jetzt auf die Akten sahen. Ich war am Anfang nicht gut mit ihm zurechtgekommen, er hatte extrem langsame Bewegungen und sprach ebenso langsam, sehr deutlich artikuliert, als wäre jeder Satz, der seine schmalen Lippen verließ, zu Ende formuliert und es gebe danach nichts mehr zu sagen. Mich reizte das geradezu zum Widerspruch, den er aber dadurch erstickte, dass er noch langsamer wurde. Wenn er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich mindestens schon vier Antworten durchdacht und erwogen.

Aber dieser Anwalt war nun einmal als der beste Strafverteidiger in der Hauptstadt und sogar im ganzen Land bekannt und die Vorwürfe, die gegen mich erhoben wurden, waren so bedrohlich, dass ich weniger als den Besten nicht akzeptieren wollte.

Nun sah er auf.

„Wollen Sie die Anklage hier in meinem Büro lesen oder die Kopie, die ich Ihnen gegeben habe, mit nach Hause nehmen?“, fragte er und sah mich an. „Wenn Sie sie hier lesen, kann ich Ihnen vielleicht die eine oder andere Frage beantworten, die Sie haben.“

„Danke, Ihr Wartezimmer ist mir zu kalt“, versuchte ich zu scherzen, merkte dann aber, dass ich schon damit seinen Sinn für Humor weit überforderte und ergänzte: „Nein danke, wirklich nicht, ich werde schon nicht umkippen, wenn ich sie lese. Ich nehme sie mit nach Hause und melde mich dann wegen eines Termins. Haben wir es denn eilig?“

„Nein“, sagte er, „eilig haben wir es nicht, sehen Sie, das Gericht hat mir eine Frist von vier Wochen gesetzt, um Anträge zu stellen, eine Frist, die ich ohne weiteres auf acht Wochen verlängern lassen kann. Andererseits sollten wir die Dinge auch nicht auf die lange Bank schieben.“

Damit erhob er sich und gab mir die Hand. „Wir sehen uns dann in drei Tagen wieder“, sagte er zum Abschied und ich verließ, die Anklageschrift in der Tasche verborgen, sein Büro.

2.

Draußen war die Kälte immer noch beißend, nicht mehr zehn Grad unter null wie die Tage vorher, aber immer noch frostig, es taute nicht, obwohl der Wetterbericht Tauwetter für diesen Nachmittag angekündigt hatte. Vielleicht kam die Temperaturerhöhung erst morgen. Was sollte ich mit dem Rest des Nachmittags anfangen? In mein Büro zurückgehen wollte ich nicht, aber auch nach Hause gehen kam für mich nicht in Frage. Dort waren meine Frau und meine Tochter, die wussten, dass ich heute beim Anwalt gewesen war und die mich mit Fragen bestürmen würden. Meine Frau war von der Situation fast mehr beunruhigt als ich, obwohl, da machte ich mir etwas vor: Seit einem Jahr, seit diese Geschichte angefangen hatte, schlief ich nicht mehr ruhig, ich konnte auch nicht mehr konstant und konzentriert arbeiten, wie das sonst meine Gewohnheit war.

Und natürlich sind wir beunruhigt, meine Familie und ich. Seit fünf Generationen leben wir Eschenburgs in Königsfeld, meine Vorfahren waren ursprünglich Handwerker, aber mein Großvater Eduard Eschenburg, den ich noch gekannt habe, hat die Tradition der Juristen in der Familie begründet, er war ebenso Jurist wie mein Vater und ich. Er war Finanzstadtrat in Königsfeld gewesen und zwar zu einer Zeit, als das nicht ganz einfach gewesen sein kann. Ich habe ihn als Kind sehr geliebt. Gerne saß ich auf seinem Schoß und ließ mir von ihm mit einer Stimme, zu deren Beschreibung nur das Wort „gemütlich“ in Betracht kommt, Geschichten erzählen. Großvater kannte große Teile des Werkes von Wilhelm Busch auswendig und trug mir mit unendlicher Geduld Buschs Ballade von Max und Moritz vor, immer und immer wieder, sooft ich das wünschte.

Ich beschloss, in das nahegelegene Café Kröger zu gehen, mich dort in eine Ecke zu setzen in der Hoffnung, dass mich niemand erkannte, damit ich in Ruhe meinen Erinnerungen nachhängen könnte. Es war jetzt nach der Kaffeezeit, für die Abendgäste zu früh, so dass ich, im Café angekommen, tatsächlich keinen Bekannten dort sah. Ich setzte mich in eine dunkle Nische, bestellte mir ein Kännchen heiße Schokolade und sinnierte weiter.

Großvater. Was hätte der jetzt wohl gesagt, wenn er mich während der Arbeitszeit in einem Kaffeehaus heiße Schokolade trinkend sehen würde. Ich wusste, er würde lächeln, wie er immer lächelte, mit der Weisheit des Alters. Er würde sich freuen, dass ich dem Müßiggang huldigte. „Du bist ein Streber, mein Enkel“, hatte er immer gesagt, wenn ich für die Schularbeiten den ganzen Nachmittag brauchte.

 

Eduard Eschenburg, so hieß er, wurde 1896 geboren. Er war Anfang siebzig, als ich zehn war. Ich erinnere mich an ihn als uralten Mann, von der Warte meines kindlichen Alters aus gesehen. Er schaukelte mich, den Zehnjährigen, auf seinen Knien, ich sah ihn an: schlohweißes Haar, ein glattrasiertes faltiges Kinn mit einem tiefen Grübchen und einem freundlichen, gutmütigen Lächeln auf dem Gesicht. Dieses Lächeln blieb fast immer, ich habe ihn nie ungeduldig oder gar unwirsch erlebt. „Warum sollte ich böse werden, Franz“, fragte er, als ich ihn darauf ansprach, „die meisten Menschen tun ja, was ich möchte, und sollten sie es einmal nicht tun, kann ich immer noch energisch werden.“

Mein Vater war da anders. Er war im Gegensatz zu Großvater hochgewachsen, ebenso wie mein Bruder Hans, während ich klein war wie mein Großvater. Bei meinem Vater war die Größe noch durch seine sehr gerade Haltung verstärkt. Vater war Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Königsfeld gewesen, ein Beruf, der bei ihm auch im Privatleben immer wieder durchkam. Wir fürchteten meinen Vater so, wie wir den Großvater liebten. Wenn wir sonntags beim Mittagstisch saßen, war er es immer, der das Tischgebet sprach und darauf achtete, dass wir sorgfältig die Hände falteten, die Köpfe senkten und beteten, bevor wir zu essen anfingen. Nie gab es bei meinem Vater etwas zu naschen, immer war es der Großvater, der uns kleine Stücke Schokolade oder Bonbons zusteckte, heimlich, damit sein Sohn das nicht sah, der ihn, seinen eigenen Vater, tadelte, weil er uns angeblich verwöhnte.

Und so sah ich uns beim Tisch sitzen, meinen Vater an der Stirnseite als das Oberhaupt der Familie, neben ihm meine Mutter, daneben Großvater, mein Bruder und ich ihnen gegenüber. Streng achtete mein Vater darauf, dass wir Messer und Gabel ordentlich handhabten, dass wir die Kartoffeln nicht mit dem Messer schnitten, dass wir die Ellbogen am Körper hielten, wenn wir die Gabel an den Mund führten und aufrecht saßen. Und nicht nur wir mussten diese Sitten wahren, auch bei meiner Mutter achtete er sehr auf Haltung. Nur mein Großvater setzte sich darüber hinweg. „Habe ich dich als Kind nicht erzogen, so erziehe du mich bitte nicht im hohen Alter“, pflegte er zu sagen, wenn mein Vater ihn zu kritisieren versuchte, immer mit seinem freundlichen Lächeln.

Wir wohnten schon damals in der alten Villa, die den Erzählungen nach mein Urgroßvater hatte errichten lassen, kurz nach der Wende in das zwanzigste Jahrhundert, einem ausladenden Gebäude mit Stuckverzierungen außen an den Fassaden und riesigen, hohen Räumen im Inneren. Im Erdgeschoss lebten wir, es enthielt Wohnzimmer, Küche und zwei kleine Räume mit Bad für meinen Großvater, dem das Treppensteigen schwerfiel. Er litt zu Zeiten an starkem Gelenkrheuma, wie er das nannte, ohne sich aber von den Schmerzen unterkriegen zu lassen. In der ersten Etage, die man über eine geräumige, weit schwingende Treppe erreichte, war das Schlafzimmer meiner Eltern und das luxuriöse Bad, das sie sich nachträglich hatten einrichten lassen. Neben dem Schlafzimmer hatte mein Vater sich ein Arbeitszimmer eingerichtet, mit dunklen, schweren Möbeln und dunkelgrünen rauschenden Seidenvorhängen vor den großen Fenstern.

Oben unter dem Dach schliefen und arbeiteten wir, Hans und ich. Mein Bruder Hans ist zwei Jahre jünger als ich, wir gingen aber schon als Kinder meistens getrennte Wege, er ist, anders als ich, ein sehr sportlicher Mensch, der auch heute noch Marathon läuft und in seiner Altersklasse sogar Preise gewinnt. Ich konnte schon in unserer Jugend mit dieser Sportlichkeit nicht viel anfangen und heute geht es mir nicht anders. Ich saß lieber bei Großvater im Zimmer und betrachtete mit ihm alte vergilbte Fotografien, die er gerne vorzeigte. „Erzähl doch von früher, Großpapa“, sagte ich oft und nur zu gerne holte er die Bilder hervor, die ihn und meine Großmutter zeigten, die vier Jahre nach meiner Geburt gestorben war, eine schöne stolze Frau.

„Sie war eine geborene de Hourot“, pflegte er zu sagen, „sie kam aus einer sehr vornehmen Familie, alter Hugenottenadel.“

„Was ist das, Hugenottenadel?“ fragte ich.

Und Großvater erzählte von den Hugenotten, wie sie in Frankreich um ihren protestantischen Glauben gekämpft hatten und nicht nur in Frankreich hatten Protestanten und Katholiken Krieg geführt, weil sie sich über den richtigen Weg zu Gott und zu Christus nicht einigen konnten.

„In Deutschland dauerte dieser Krieg dreißig Jahre mit Unterbrechungen, nach der Dauer hat er seinen Namen, Dreißigjähriger Krieg“, erzählte er. „In Frankreich war der König sehr brutal mit den Andersgläubigen umgegangen, sie hatten abschwören müssen oder sie wurden ermordet, einen dritten Weg gab es nicht. Nun gab es aber in Deutschland in einigen Ländern Fürsten, die den gleichen Glauben hatten, dorthin konnten die französischen Protestanten, eben die Hugenotten, fliehen und waren willkommen. Und noch heute erkennt man sie bei uns an ihren französischen Namen. Sie waren tüchtig, fromm und fleißig und gewannen daher in Deutschland schnell an Ansehen und Reichtum. Und ein bisschen von diesem Blut fließt auch in dir, über deine Großmutter.“

Viel lernte ich in diesen Tagen von meinem Großvater, Dinge, die nicht in den Schulbüchern standen und über die unsere Lehrer, wenn überhaupt, nur sehr langweilig erzählten.

„Großvater, erzähl von früher.“

„Ja, mein Junge, du mochtest heute die Kartoffeln nicht, die deine Mutter gekocht hat, weil sie hart waren? Es hat Zeiten gegeben, Franz, da haben wir die Kartoffeln roh gegessen, Hauptsache, wir hatten welche. Als der erste Weltkrieg zu Ende war, war ich zweiundzwanzig Jahre alt, ich habe den Krieg von Anfang an mitgemacht. Als junger Mann war ich Feuer und Flamme, ich wollte helfen, die Feinde Deutschlands zu besiegen, aber dazu kam es nicht, weil der Kaiser vorher floh und die deutsche Armee kapitulierte. Wie haben wir gehungert, in den ersten Jahren nach dem Krieg. Wir haben uns um rohe Kartoffeln geprügelt, ich und die Bauern auf den Äckern da draußen. Zum Glück war unser Haus hier unbeschädigt geblieben, wir hatten anders als die meisten wenigstens ein Dach über dem Kopf. Aber zu essen hatten wir nichts, wir nicht und unsere Nachbarn auch nicht. Kannst du dir vorstellen, dass dein alter Großvater damals ein Dieb war? Nein? Franz, ich habe damals geklaut, ich habe alles gestohlen, was auch nur irgend zum Essen geeignet war, wenn nämlich jemand so dumm war, es für mich erreichbar liegen zu lassen. Hier in der Stadt gab es nichts, wenn wir nicht die Ratten essen wollten, die es massenhaft gab, und viele haben sie gegessen. Wir, meine Schwester Kathrin und ich, sind damals aufs Land getigert, da, wo die Bauern wenigstens ihre Tiere hatten, die sie schlachten und essen konnten. Und auf den Feldern fanden wir im Herbst und im Frühjahr Früchte, Kartoffeln und Rüben. Aber wehe, wir wurden erwischt, wenn wir die spärliche Ernte ausgruben. Die Bauernsöhne waren besser genährt als wir und stärker, und sehr oft sind wir mit unseren alten Fahrrädern gerade eben entkommen, aber einige Male eben nicht, und dann hat es Prügel gegeben, für uns beide.“

Atemlos und staunend hörte ich zu. Gerade in der vorigen Woche hatte ich von meinem Vater, dem Oberstaatsanwalt, eine Standpauke über mich ergehen lassen. Der Nachbar hatte sich beschwert, weil ich über die Grenze des Grundstückes an seinen Apfelbaum gegriffen und mehrere Äpfel geklaut hatte.

„Mein Sohn ein Dieb“, hatte er ausgerufen, „was muss ich mit dir erleben! Klaust du heute die Äpfel aus Nachbars Garten, gehst du morgen an Mutters Portemonnaie und übermorgen stiehlst du Schokolade im Supermarkt. Wo soll das enden, mein Sohn?“

Er hatte mir ein wirklich schlechtes Gewissen gemacht, die Äpfel aus Nachbars Garten quälten mich nicht, aber Mutters Geld, ob er das wusste? Tatsächlich hatte ich schon zweimal aus der Geldbörse meiner Mutter, die sie hatte liegen lassen, je einen Zwanzigmarkschein genommen. Ich kam nun einmal mit dem spärlichen Taschengeld, das mein Vater mir zugestand, auf keinen Fall aus. Beide Male hatte ich bittere Gewissensbisse empfunden und tatsächlich auch selbst schon gedacht, aus mir würde einer der Kriminellen werden, denen mein Vater täglich begegnete und von denen er ab und zu erzählte.

Und nun gestand ich dem Großvater, auch ich hätte gestohlen, wie er nach dem Krieg und erzählte ihm von den Gewissensbissen.

Er sah mich ernst an.

„Nein, ein Krimineller bist du deshalb nicht, aber an das Geld deiner Mutter darfst du nicht wieder gehen. Sieh mal, Äpfel klauen vom Baum des Nachbarn, das finde ich nicht schlimm. Du bist ein Junge, die Aufgabe der Jungen im Leben ist es, Dummheiten zu machen, Grenzen auszutesten, aber die Aufgabe deines Vaters ist es, dich dafür zu bestrafen. Später einmal, wenn du selbst Kinder hast, wirst du das einsehen und sie selbst tadeln. Aber Geld von deiner Mutter nehmen, das ist keine einfache Dummheit, gut, dass du mir das erzählt hast, aber tu es nicht wieder. Wenn du wirklich so dringend Geld brauchst, dass du meinst, du müsstest es stehlen, komm zu mir. Das ist etwas umständlicher, weil du mir erklären musst, was du damit willst, aber du hast später kein schlechtes Gewissen.“

Lange dachte ich darüber nach. Ich verstand damals den Unterschied zwischen dem Klauen von Äpfeln und dem von Geld nicht und, dachte ich, ich konnte zum Großvater gehen und ihn bitten, aber was machten die armen Kinder?

3.

Königsfeld hieß die Stadt, in der ich seit meiner Geburt lebte und meine Vorfahren vor mir. Die Stadt war und ist Hauptstadt des Bundeslandes und beherbergt also nicht nur die Behörden der Stadtregierung, sondern auch der Landesregierung und die damit verbundenen Institutionen. Sie liegt als einzige Großstadt in weitem Umkreis, umgeben von ländlichen Gebieten. Ihre Gewerbetreibenden haben daher einen weiten Einzugsbereich und eigentlich hätte man meinen sollen, sie sei aufgrund ihrer Lage und Funktion eine wohlhabende Stadt, die sich und ihre mehr als 550.000 Einwohner wohl zu ernähren verstünde.

Indessen, die Stadt ist arm und überschuldet. Erst vor einem Monat gab die Stadtregierung den geplanten Etat für das nächste Jahr bekannt, die Behörden gehen von Einnahmen der Stadt von rund 2,1 Milliarden Euro aus, dagegen stehen aber notwendige, und, wie der Finanzstadtrat nicht müde wurde zu betonen, nicht zu kürzende Ausgaben von rund 2,3 Milliarden Euro, so dass im nächsten Jahr die Stadt ihre schon bestehenden Verbindlichkeiten von über 600 Millionen Euro um 200 Millionen Euro erhöhen werde. Mir hatte geschwindelt, als ich diese Zahlen hörte. Ich bin zwar Jurist, kann aber auch rechnen: Die Stadt trägt dann Schulden von 800 Millionen Euro. Bei dieser Summe und bei den derzeit äußerst günstigen Kreditbedingungen von 4 % Zinsen fallen jährlich allein Zinszahlungen von 32 Millionen Euro an, schon das eine unvorstellbare Summe. Ich wage nicht an Zinserhöhungen zu denken, bei 5 % Zinsen müsste die Stadt 40 Millionen jährlich aufbringen, ohne ihre Schuldenlast auch nur um einen Cent getilgt zu haben.

Aber schön ist die Stadt, wenigstens in einigen Bezirken. Wir, das heißt meine Frau Hanna, meine Tochter Mara und ich, wohnen an ihrem Rande, weit im Westen, da, wo ausgedehnte Grünanlagen, die das Gartenbauamt als Erholungsgebiet für die Einwohner pflegt, den Übergang von der Stadt auf das flache Land bilden. Hinter diesen Grünanlagen gibt es weite Ackerflächen. Wenn man den Wald des Grüngürtels hinter sich lässt, sieht man die Landschaft ganz leicht abfallen und dahinter ebenso sanft ansteigen. Im Tal und auf der Anhöhe liegen kleine Dörfer, in denen die Bauern wohnen, die die Äcker bewirtschaften. Oft bin ich mit meiner Familie von unserem Haus durch den Wald hinausgefahren, geruhsam, mit dem Fahrrad. In fünf Minuten hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und konnten die frische Luft da draußen genießen.

Wir wohnen seit dem Tode meiner Mutter vor fünf Jahren in der Villa, in der ich aufgewachsen bin. Mein Bruder hatte kein Interesse an dem Haus, er wohnte in Süddeutschland. Mein Vater zog, als er Witwer geworden war, in die Wohnung, die vor ihm mein Großvater innehatte und die seit seinem Tod leer stand. Er lebte dort allein, ohne wirkliche Beschäftigung, er war in den neunziger Jahren pensioniert worden. Mittlerweile war er einundachtzig Jahre alt, aber immer noch hart, klar und streng, die blauen Augen blickten durchdringend wie eh und je. Hanna und Mara fürchteten ihn geradezu, und auch ich ging ihm aus dem Weg, wenn ich konnte.

 

In die Innenstadt war es von uns aus weit. Wir konnten entweder mit dem Auto zur gut ausgebauten Bundesstraße und auf ihr in die Stadt fahren oder mit der Straßenbahn, deren Haltestelle allerdings erst in guten fünf Minuten zu Fuß zu erreichen ist.

Dennoch empfiehlt sich die Straßenbahn, wenn man zu unglücklichen Zeiten die Stadt erreichen muss. Morgens um halb neun ist die Bundesstraße von uns bis zur Innenstadt fast durchgehend verstopft, lange Staus lassen einem die Fahrt zur Qual werden, die mehr als eine Stunde dauert. Ich pflege daher meine Arbeitstermine in der Stadt so zu legen, dass ich nicht gerade um neun dort sein muss, sondern um zehn, dann ist die Bundesstraße frei.

Auf dem Weg in die Innenstadt sind dann deutlich die Unterschiede zu erkennen, die die einzelnen Stadtteile voneinander trennen. Zuerst fährt man durch eine Villenvorstadt, die der unseren ähnelt, dann beginnt ein kurzer Gürtel mit Einfamilienhäusern auf kleineren Grundstücken und schließlich erreicht man den Ring um die Innenstadt, mit langen Zeilen von Hochhäusern, die hier gepflegt und gleichmäßig stehen, offenbar mit geräumigen Wohnungen und weit von der Straße weg gebaut, damit die Bewohner möglichst wenig von Straßenlärm belästigt werden. Hier gibt es kaum Gewerbe, die Bürgersteige sind breit und der Übergang vom Bürgersteig zu den Häusern ist mit weiten Hecken oder gar Bäumen bestanden.

Erst danach beginnt der eigentlich geschäftige Teil der Stadt. Die Häuser kommen näher an die Straße heran, die hier inzwischen sechsspurig ausgebaut ist. In den Mietshäusern fristen unten Läden aller Art ihr Dasein, schäbige Geschäfte, in denen allerlei Trödel angeboten wird. Ich bin noch in keinem dieser Läden gewesen, habe nur im Vorbeifahren oder, wenn ich im Stau stand, die Auslagen angesehen. Dazwischen reine Gewerbegrundstücke, in denen Kraftfahrzeuge angeboten werden. Die Vertretungen der großen Marken haben sich hier angesiedelt, daneben Geschäfte, die auf viel Parkraum angewiesen sind, den sie in der Innenstadt nicht finden.

Und dann ist auch schon das Zentrum erreicht, mit Hochhäusern, die vor allem Banken und Versicherungen beherbergen, mit dem Bahnhof, der im Stil des endenden neunzehnten Jahrhunderts gebaut ist, ein Verkehrsknotenpunkt, und dem Gebäude im alten Teil der Innenstadt, in dem sich auch die Räume befinden, in denen ich mein Büro habe.

Lediglich der Vollständigkeit halber: Natürlich hat die Stadt auch, wie alle anderen Großstädte, ihre Slums, weite Hochhaussiedlungen, für den sozialen Wohnungsbau errichtet, am andere Ende, im Osten gelegen, in denen überwiegend Empfänger staatlicher Alimentationsleistungen wohnen, Menschen, die keine Arbeit haben, aus welchen Gründen auch immer, und die dann häufig dem Alkohol verfallen. Ich bin dort noch nicht gewesen, habe dort auch nichts zu suchen.