Seewölfe - Piraten der Weltmeere 87

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 87
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-411-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Remata de males nannten die Spanier das winzige Kaff, das dem Städtchen Alcántara vorgelagert war.

Remata de males, das hieß soviel wie: Höhepunkt allen Übels, und das Nest trug diesen Namen zu Recht, denn es bestand nur aus ein paar zusammengehauenen Pfahlhütten und einer Kneipe.

Diese Kneipe hatte es allerdings in sich. Hier trafen sich Spanier, Mestizen, abgetakelte Seeleute, Piraten, Abenteurer und Schnapphähne.

Hier, beim einäugigen Pedro, dem Besitzer der Kneipe, ergänzten manchmal aber auch Schiffe ihre Vorräte, denn der Aasgeier Pedro konnte vom Tabak bis zum ausgeschlachteten Wasserschwein alles liefern, was die Besatzungen brauchten.

An diesem späten Nachmittag herrschte Hochbetrieb.

Das arbeitsscheue Gesindel und die Huren feierten den Fund, den Blatternarben-Jo auf die Theke gelegt hatte. Es war eine kleine goldene Statue, ungewöhnlich schwer, und sie stellte einen Gott mit zwei Köpfen dar, der grimmig in die eine Richtung und milde lächelnd in die andere blickte.

„Nun sag schon endlich, was du dafür ausspuckst!“ schrie der riesige Blatternarben-Jo den Wirt an. „Und gib mir, verdammt noch mal, einen Cachassa, du Bastard!“

„Du bist wieder mal besoffen“, stellte Pedro fest. Sein eines Auge funkelte den Mestizen an, das andere bestand aus einer dunklen, furchterregenden Höhle.

Eine glutäugige Schöne mit langen schwarzen Haaren, perlweißen Zähnen und einem heißen Blick wie die Fieberflammen der Urwaldhölle schob sich an den Mestizen heran und hakte sich bei ihm unter.

„Trinkst du den Cachassa heute allein, Jo?“ fragte sie girrend.

„Eine Runde“, erwiderte Blatternarben-Jo, „und sag endlich, was das Ding wert ist, verdammt!“

Pedro, der Aasgeier, schwieg, aber in seinem Auge glomm ein Licht auf, als er die achtlos auf die Theke gestellte Statue musterte.

Zunächst füllte er die Becher und wartete, bis der scharfe brasilianische Zuckerrohrschnaps in den durstigen Kehlen verschwunden war. Die Kerle waren verrückt, bei dieser Treibhaushitze das wahnsinnige Höllengebräu zu saufen, dachte er. Aber es kostete ja ihr Geld, und er verdiente daran nicht schlecht.

„Viel kann ich dir dafür nicht geben“, sagte er schließlich mißmutig. „Was soll ich mit der Figur anfangen? Glaubst du etwa, ich sammle diese Dinger?“

„Du Aasgeier willst mich bloß bescheißen“, fuhr der Mestize hoch. Sein Gesicht war von Hunderten kleiner Narben entstellt. Wenn er wütend und betrunken war, dann gingen sie ihm alle gern aus dem Weg. Nur der glutäugigen Pepita gelang es immer wieder, den häßlichen Riesen zu besänftigen.

Der Aasgeier Pedro störte sich nicht an den Worten, sie ließen ihn kalt, und so ganz nebenbei fragte er: „Wo hast du die Dinger eigentlich her? Geklaut?“

„Haha, das möchtest du wissen, was?“ Blatternarben-Jo lachte den Wirt höhnisch an.

Aus der hinteren Ecke erhob sich taumelnd ein kleiner Mann Es war einer der „Bambusindianer“, wie Pedro sie nannte, ein Eingeborener, der dem Suff verfallen war und nur noch in Pedros Kneipe herumhockte, den Gitarrenklängen lauschte und den Huren nachstellte, bei denen er jedoch nie landen konnte. Braunhäutig und klein, ein Blasrohr um die Hüfte geschnallt, trottete er an die Theke. Beim Grinsen entblößte er schlechte braune Zahnstummel. Mit der rechten Hand tastete er Pepitas Kurven ab, die sich aber umdrehte und dem Kleinen eine schallende Ohrfeige gab.

Aasgeier Pedro lachte dröhnend, und Blatternarben-Jo wischte den Kleinen wie ein lästiges Insekt zur Seite.

„Hau ab, du Witzfigur“, sagte er grollend, und als der Kleine taumelte, gab er ihm noch einen Stoß.

In den Augen des kleinen Indianers glomm es bösartig auf. Er hatte genug von diesen Demütigungen, er haßte diesen großen, ewig grölenden und besoffenen Kerl, der ihn immer wieder mit Fußtritten traktierte, aber er kam nicht gegen ihn an.

Blitzschnell griff er nach der goldenen Statue, hob sie hoch und schleuderte sie aus dem Loch, das sie hier Fenster nannten.

Die Statue fiel in den Rio Grajau, der hier mit dem Pindaré zusammenfloß und in den Atlantik strömte.

Dort, direkt unter der Pfahlbau-Kneipe, hausten die stumpfnasigen Krokodile, da lebte der schleimige Hundskopf, mit einem Körper wie ein Aal und einem Kopf, der nur aus einem riesigen gierigen Rachen bestand. Da flitzten die kleinen Stachelflossler, die den Menschen, die in den Fluß fielen, in alle Körperöffnungen schlüpften, dann nicht mehr zurück konnten und bei vielen schon den Tod herbeigeführt hatten.

Dann gab es noch die kleinen silbernen bulligen Fische mit dem dreieckigen Maul und der geradezu unglaublichen Gefräßigkeit, deren scherenartiges Gebiß sie befähigte, Mensch oder Tier in ein paar Minuten restlos zu skelettieren. Piranhas, die Schrecken der Brackwasserströme.

Genau dort hinein fiel die goldene Statue.

Pepita, Pedro, Blatternarben-Jo und die anderen Gäste, die sich im halbdämmerigen Grünlicht in den Ecken herumdrückten, waren einen Augenblick wie erstarrt.

Niemand sprach einen Ton, alle starrten den Bambusindianer an, der es gewagt hatte, den riesigen Mestizen auf diese Art zu beleidigen.

„Schlag ihn tot, diesen braunen Hund, Jo!“ kreischte eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. „Ich würde mir das nicht gefallen lassen!“

„Ich auch nicht“, stimmte Pedro in den Chor ein und langte nach dem Eingeborenen. Er drehte ihm den Arm auf den Rücken und hielt ihn fest, bis der Kleine sich vor Schmerzen wand.

Über das häßliche Gesicht des Mestizen huschte ein schmieriges Grinsen. In sadistischer Vorfreude sah er den zitternden Indianer an. Dann schnippte er ihm den Finger ins Gesicht. Betont langsam zog er sein Messer, strich damit über seinen Handrücken und grinste wieder.

„Mal sehen, ob die Klinge durch deinen mickrigen Wanst durchgeht. Das würde mich wirklich interessieren.“

Ebenso langsam, wie er das Messer gezogen hatte, holte er aus, als der Kleine gellend aufschrie.

„Ich wollte es nicht!“ schrie er.

Blatternarben-Jo sah ihn interessiert an. Er nickte, als sei soeben ein Plan in seinem Schädel gereift.

„Wenn ich dir das Ding zwischen die Rippen stecke, kriege ich den Goldmann nicht wieder“, sagte er nachdenklich, „denn wer würde schon in diesen lausigen stinkenden Fluß steigen und sich von den Krokodilen oder Piranhas fressen lassen. Nein, nein, du hast den Goldmann hineingeworfen und du wirst ihn auch wieder ’rausholen. Jetzt gleich! Noch einen Schnaps, Pedro!“

Nackte Angst stand in dem Gesicht des Eingeborenen, als Pedro den Schnaps eingoß und Blatternarben-Jo ihn mit einem Zug hinunterkippte.

Er war hier geboren und aufgewachsen, er kannte jede Ecke der beiden Flüsse, er kannte die verseuchten Wälder und die gierigen Bestien. Aber in den Fluß traute er sich nicht. Nur ein Verrückter würde da hineinsteigen, einer der sich selbst umbringen wollte.

„Gut, ich hole den Goldmann“, sagte er schnell, „jetzt gleich, auf der Stelle.“

Der Mestize grinste und klopfte dem Kleinen gönnerhaft auf den Rücken.

„Natürlich würdest du nie auf die Idee verfallen, einfach abzuhauen und dich nie wieder sehen zu lassen, nicht wahr?“ fragte er.

„Nein, ganz bestimmt nicht, daran würde ich nie denken.“

Die Umstehenden grinsten, auch der einäugige Pedro lachte laut.

Der kleine Buschmann würde wie ein Blitz verschwinden, wenn sie ihn erst einmal losließen, das wußten sie alle, denn gerade er kannte die Gefahren noch besser als jeder andere.

„Nun, dann ist ja alles gut“, sagte der Mestize. „Und damit die Strömung dich nicht forttreibt, werden wir dir einen Strick um den Hals hängen. Den halte ich persönlich, während du nach dem Goldmann tauchst. Ist das eine Idee? Bring ein Seil, Pedro, ein recht langes.“

Der Kleine war einer Ohnmacht nahe. Sein braunes Gesicht wechselte die Farbe, es wurde grau vor hilfloser Angst. Dieser Hund von einem Mestizen dachte auch an alles. Natürlich hatte der ihn sofort durchschaut.

Pedro brachte ein langes Tau, das er dem Kleinen blitzschnell um den Hals schlang. Von dort aus führte er es unter seine Schultern und knotete es fest.

Jetzt schrie der Kleine und bettelte um sein Leben, aber die rohen Gesellen lachten nur und schleppten ihn hinaus. Drei, vier Dirnen begleiteten die Männer nach draußen.

Dort befand sich ein langer Steg aus Bambushölzern, der sich bei jedem Schritt beängstigend tief durchbog. Der Steg führte auf Pfählen weiter zu zwei anderen Hütten.

Der Dschungel begann übergangslos vor der Kneipe, er wuchs fast in die Fenster hinein. Ein paar Yards unter ihnen gurgelte der Fluß. Ein verfaulter Baumstamm war in der Flußmitte angetrieben, und an ihm schwemmten Dreck, Holz, Blätter und Äste an. Mitten im Strom gab es noch eine kleine Insel, fast eine Meile lang, dicht bewachsen und von allen möglichen Biestern bevölkert.

 

Das Sonnenlicht, das hier einfiel, war grünlich, es durchdrang nur sehr mühsam das Gewirr der Baumkronen, die alle ineinander verwachsen schienen. Das hier war Remata de males, moskitoverseucht, mit Blick auf den Atlantik und die lange geschwungene Bucht, in die der Fluß mündete.

Es war eine Hölle, in der die Menschen langsam, aber sicher krepierten, die die Schwachen umbrachte und selbst die Starken nicht lange am Leben ließ.

Der durchgebogene Steg war mit Seilen abgesichert, damit die Betrunkenen nicht unversehens zwischen die Piranhas und Krokodile fielen, wenn sie aus Aasgeier Pedros Kneipe nach Hause wankten.

Blatternarben-Jo bog die Seile auseinander, behielt den Strick in der Hand und. befahl dem angstschlotternden Kleinen: „Spring, du Wanze! Wenn du den Goldmann nicht findest, lasse ich dich so lange im Bach hängen, bis die Piranhas auch deinen letzten Knochen abgenagt haben.“

Es gab keinen anderen Ausweg mehr, doch gerade als der Kleine in seiner Verzweiflung zum Sprung ansetzte, hielt der Mestize ihn noch einmal zurück.

Er kniff die Augen zusammen, als er sie sah. Eine schwarze, fast zehn Yards lange Wasserschlange, die gefürchtete Sucurijo, schwamm in windenden schnellen Bewegungen den Fluß hinunter. Ihr Leibesumfang entsprach dem eines ausgewachsenen Mannes, der große Kopf mit den smaragdgrünen Augen pendelte unruhig hin und her.

„Sucurijo“, flüsterte der Bambusindianer entsetzt, als er sie erblickte. „Sie töten blitzschnell!“

„Keine Angst“, sagte der Narbige lachend, „ich will ja meinen Goldmann wiederhaben, deshalb lassen wir die Schlange erst einmal vorbei. Wenn du ihn allerdings nicht findest, dann …“

Den Rest ließ er unausgesprochen, aber jeder wußte, was er sagen wollte. Wenn der Kleine den Goldmann nicht fand, würden ihn die Piranhas oder das stumpfnasige Krokodil fressen, das zum Hause gehörte und von den Abfällen lebte, die aus den Hütten flogen.

Als die Schlange vorbei war, erhielt der Kleine einen Tritt. Mit einem wilden Schrei auf den Lippen landete er im Fluß, der ihm bis fast ans Kinn reichte.

Die Dirnen kreischten begeistert, als der Mestize Leine nachfierte und den Buschmann verhöhnte.

„Du hättest dir die Stelle merken sollen!“ schrie er. Mit der einen Hand hielt er die Leine, mit der anderen führte er einen Becher zum Mund und trank den feurigen Schnaps wie klares Wasser.

In seiner grenzenlosen Angst tauchte der Kleine, tastete den Grund ab, tauchte wieder auf und kotzte vor Angst, als ein Rudel blitzender Fische an ihm vorbeizog.

Längst bereute er seinen Fehlgriff. Hätte er sich doch von diesem blatternarbigen Hundesohn lieber weiter demütigen lassen! Das hätte er schon überwunden, leichter jedenfalls als das lausige Warten im verseuchten Wasser und die Angst vor den heimtückischen Viechern, bei denen man nie wußte, wann sie angriffen.

„Willst du wirklich, daß ihn die Piranhas fressen?“ fragte die heißblütige Pepita mit brennenden Augen.

„Wenn er den Goldmann findet, ziehe ich ihn ’raus“, sagte der Mestize. „Wenn nicht, bleibt er so lange da drin, bis ihn einer anknabbert.“

Alle lachten, die meisten waren angetrunken, und Mitleid mit dem Buschmann empfand niemand. Ihrer Meinung nach hatte er es nicht anders verdient.

Er starb tausend Tode im Fluß, tauchte immer schneller und kam wieder hoch. Sein Gesicht war verzerrt. Er hüpfte hin und her, bückte sich wieder und fand den verfluchten Goldmann nicht.

„Zieht mich ’raus!“ schrie er. „Ich will es später noch einmal versuchen!“

Der Mestize hörte nicht, oder er tat so, als höre er nichts. Aber als der Buschmann zurückwatete und sich an die grün bemoosten Pfähle der Hütte klammerte, hob der Mestize den Strick an, bis dem Burschen die Luft wegblieb und er zu ersticken drohte. Erst da ging er wieder hinaus, zitternd, winselnd, um sich tastend.

Einmal stieß er einen Freudenschrei aus, als er hochkam. Er hielt etwas in den Händen von länglicher Form und wollte zurück, doch Blatternarben-Jo winkte ab.

„Keine Steine“, sagte er, „ich will den Goldmann!“

Pepita knuffte den Mestizen in die Seite. In ihren Blicken lag nackte Angst, als sie zwischen die Bambusstäbe nach unten deutete, wo das Wasser dunkel und voller Pflanzen war.

„Das Krokodil“, sagte sie schaudernd und zeigte auf das Biest, das ruhig und majestätisch durch die kopfgroßen Blätter schwamm, der Flußmitte entgegen, wo sich etwas regte.

In diesem Augenblick fand der Buschmann die goldene Statue, und in diesem Augenblick sah er auch den Kaiman, den gefräßigen Hauspolizisten Pedros, der langsam heranschwamm und dann tauchte.

„Zieh mich ’raus!“ hallte sein Schrei übers Wasser.

„Erst den Goldmann!“

Die Statue flog dem Mestizen zu, der sie geschickt auffing. Er ließ sich Zeit, sie von allen Seiten zu betrachten, ehe er gönnerhaft nickte.

„Er ist es“, sagte er zufrieden, „warum nicht gleich so?“

In diesem Augenblick geschah das, was sie insgeheim alle erwartet hatten. Unter Wasser schnellte der Kaiman vor, tauchte mit dem oberen Teil des Körpers auf und stürzte sich wild auf den schreienden und um sich schlagenden Buschmann. Die mächtigen Kiefer schnappten zu, in den Augen des Kaimans war ein fast träger zufriedener Blick, als er ein zweites Mal zuschnappte.

Der Schrei erstickte. Der Fluß färbte sich an dieser Stelle rot und schien Sekunden später zu kochen.

Ganze Rudel waren plötzlich da, das träge dahinfließende Wasser wurde lebendig, es quirlte wild durcheinander, glitzernde Fischleiber zappelten, ein heftiger Kampf entspann sich.

Der Mestize zog an dem Strick, immer kräftiger holte er das Tau ein, er fluchte, als es hängenblieb und der Buschmann nicht mehr zu sehen war.

„Hat keinen Zweck mehr“, meinte er abfällig, „dem ist doch nicht mehr zu helfen. Seine Schuld, nicht meine!“

Niemand widersprach. Es war ohnehin nicht gut, diesem Trunkenbold und durch sämtliche Laster auf die Stufe eines Tieres gesunkenen Mann zu widersprechen. Er war größer als zwei Yards und wog mehr als hundert Kilo, und wenn er zuschlug, schlug er seine Widersacher meist mit der bloßen Faust tot.

Sie standen noch auf dem Steg und blickten ins Wasser. Der Kampf war noch nicht vorbei, er dauerte noch ein paar Minuten.

Der Mestize zog noch einmal an dem Tau, das jetzt auch nachgab, nur hing nicht mehr viel daran.

In dem Körper balgten sich die Piranhas, es waren nur noch ein paar Rippen übrig, ein Torso ohne Schädel, der sich etwas aus dem Wasser hob und dann versank. Sogar das Tau war plötzlich durchgebissen und hing schlaff durch.

Wenn der Strom seinen Machtbereich in den nächsten Wochen wieder etwas veränderte und unter Aasgeier Pedros Hütte der Boden teilweise trocken wurde, würden die Leute staunen, wenn wieder einmal Teile eines Gerippes erschienen. Dann würden sie die Köpfe schütteln und sehr entrüstet tun, obwohl da einige Gerippe lagen, die noch den Stahl in den Knochen trugen, weil sie beim Kartenspielen oder Würfeln zuviel gewagt hatten.

Der einäugige Pedro ließ die Knochen dann immer in einem Boot zum Atlantik fahren und ins Meer werfen, wo sie für immer verschwanden und niemand mehr nach ihnen fragte.

Die Männer und Frauen kehrten in die Kneipe zurück und soffen weiter. Der Mestize stritt immer noch um den Preis des Goldmannes, den Pedro nicht nennen wollte.

„Ich muß ihn erst von einem Fachmann beurteilen lassen“, sagte er störrisch, „so lange mußt du warten.“

„Aber ich kann wenigstens auf Vorschuß saufen, oder?“ fragte Blatternarben-Jo ärgerlich.

„Klar, das kannst du, klar doch!“

Der Buschmann war vergessen. In der Kneipe würfelten sie, spielten Karten, soffen, fummelten an den Senoritas herum und begrüßten neue Gäste, die ihren letzten Verstand hier versoffen, hier in Remata de males, dem Höhepunkt allen Übels, dem Arsch der Welt, wie die paar Weißen es auch noch nannten.

Immer wieder strömten Gäste herein: Abenteurer, Glücksritter, Goldsucher, spanische Deserteure, gestrandete Seeleute, ein bunt zusammengewürfelter Haufen Nationalitäten.

Die Senoritas machten gute Geschäfte, Aasgeier Pedros Laden florierte mitunter bis zum frühen Morgen. Da wurde geklaut, betrogen und manchmal auch gemordet, wenn einer aufsässig war, wenn es Streit gab oder ein Fremder zuviel Geld zeigte.

Es gab keine Polizei, keinen Alkalden, keinen Bürgermeister, niemanden, der etwas sagte oder etwas verbot. Die Spanier duldeten die Geschäfte, denn auch sie profitierten davon, und im übrigen wollten sie nichts von dieser Fieberhölle wissen.

Deshalb wucherte das Geschwür so üppig.

Bevor die kurze Dämmerung hereinbrach, erschienen zwei neue Gäste, ebenfalls leicht angetrunken.

„Draußen segelt ein Schiff!“ brüllte der eine. „Sieht so aus, als ob es in die Bucht will!“

„Spanier?“ fragte eine zaghafte Stimme, und schon waren drei oder vier Kerle, denen man den Spanier auf Anhieb ansah, an der Tür und wollten verschwinden.

„Könnten Spanier sein, aber das Schiff ist nicht so plump gebaut wie die meisten Galeonen.“

Alles stürzte nach draußen und blickte zum Atlantik, über dem, von Westen her, die letzten Sonnenstrahlen lagen.

Ja, das Schiff war noch etliche Meilen entfernt, aber es nahm Kurs auf die Bucht, daran herrschte kein Zweifel. Ein stolzes Schiff war es, eine ranke, schlanke Galeone, die raumschots unter voller Besegelung lief.

Die desertierten Spanier verzogen sich. Sie hatten keine Lust, an den Rahen des vermeintlichen Spaniers zu baumeln, wenn das Schiff auch noch so schön aussah, deswegen hing es sich an den Rahen noch lange nicht gut.

Die Senoritas aber rieben sich insgeheim die Hände. Es schien Abwechslung zu geben und Geld. Bei den Neuankömmlingen mußten sie sich sicher nicht für ein paar lausige Schnäpse hinlegen, die ließen mehr da. Die ersten begannen, sich fachgerecht zu schminken und zu pudern.

Die männlichen Gäste hatten mürrische Gesichter. Sie liebten es nicht sonderlich, wenn Konkurrenz auftauchte.

2.

Die „Isabella VIII.“ lief raumschots vor einer prächtigen Brise, die sie rasch an der südamerikanischen Küste vorantrieb.

An Bord gab es immer noch strahlende Gesichter, seit sie der grünen Hölle des Amazonas entronnen waren.

Nur mit dem allergrößten Unbehagen dachten die Seewölfe an die vergangenen Tage zurück, als sie im Amazonenstrom auf eine Sandbank aufgelaufen und Siri-Tong und der Wikinger spurlos verschwunden waren, bis die Fremden kamen, die Zopfmänner, die die Mumie des Mandarins haben wollten.

Es hatte einen harten, allerdings kurzen Kampf gegeben. Siri-Tong und der Wikinger wurden befreit und die Zopfmänner vernichtend geschlagen. Das schwarze Drachenschiff hatte Beschädigungen davongetragen, von denen es sich nicht so schnell erholen würde.

Danach waren sie in den Atlantik hinausgesegelt und hatten den frischen Wind genossen.

Das Schiff der Roten Korsarin, „Eiliger Drache über den Wassern“, war vorausgesegelt und befand sich nicht mehr in ihrer Sicht. Aber die „Isabella“ würde es wieder einholen, wenn Siri-Tong ein paar Segel wegnahm.

Bis auf den Kutscher – Feldscher und Koch an Bord – war alles guter Laune. Der Kutscher war drauf und dran, die gute Laune zu verderben, aber das war nicht seine Schuld. Vor ein paar Tagen schon hatte er darüber gemeckert, daß im Treibhausklima des Amazonas das Salz zu einer stinkenden Brühe zerlaufen und das Brot, das er auf Vorrat gebacken hatte, verschimmelt und vergammelt sei. Die Bohnen seien gequollen und die Dörrpflaumen weich und voller Maden.

Heute setzte er das Theater fort, weil die ersten Männer über das Essen gemeckert und ihn anschließend aufgezogen hatten.

Sonst hatte der Kutscher, der bei dem Arzt Sir Freemont in Plymouth gedient hatte, einen guten Umgangston, und auch sein Vokabular war etwas feiner als das der anderen Männer.

Heute war davon nichts zu merken, als er sich mit dem Profos und Zuchtmeister Edwin Carberry anlegte.

Der narbengesichtige Profos mit dem gewaltigen Rammkinn hatte die Hände in die Seiten gestemmt. Der Kutscher mußte zu ihm hochblicken, er reichte dem Profos bis ans Brustbein.

 

„Ich habe es dir jetzt schon hundertmal verklickert, Ed“, sagte er giftig, „daß es heute kein Brot gibt, verdammt. Und morgen gibt es dreimal keins. Hoffentlich geht das bald in deinen dicken Schädel hinein!“

„Du kannst Brot aus Mais backen!“ fuhr der Profos ihn an. „Das habe ich dir auch schon hundertmal gesagt, verdammt!“

Diesmal brüllte der Kutscher fast.

„Back doch selbst Brot aus Mais, du Ochse! Sieh dir den Mais doch mal an, das ist ein einziger Haufen vergammelter nasser Dreck! Da sind Käfer, Würmer und so komische Dinger drin, die sehen aus wie lange Fäden, die sich bewegen. Die Kerls schlagen mich tot, wenn ich denen das als Brot vorsetze.“

„Dann laß dir gefälligst was anderes einfallen!“ schnauzte Carberry hilfos. „Du bist doch hier der Kombüsenhengst, nicht ich!“

„Ist das alles, was du zu sagen hast?“

Die beiden gerieten sich immer mehr in die Haare. Sie merkten nicht, daß bereits Smoky, Blacky, Matt Davies und Batuti sie umstanden und bis über die Ohren grinsten.

„Jawohl, das ist alles!“ schrie Carberry. „Und wenn du heute abend kein Brot gebacken hast, dann ziehe ich dir …“

„… die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch“, fielen die anderen Männer lachend ein und nahmen dem Profos damit seinen Lieblingsspruch vorweg.

„Haltet gefälligst eure verdammten Schandschnauzen!“ donnerte Carberry. „Sonst lasse ich sie mit vergammeltem Mais vollstopfen. Seht ihr Rübenschweine nicht, daß der Wind leicht gedreht hat? Hoffentlich seid ihr gleich an den Schoten und Brassen, ihr triefäugigen Kakerlaken. Bewegt eure Gräten, hopp, hopp! Rum mit den Zahnstochern, ihr faulen Säcke!“

Die Männer verschwanden blitzartig, obwohl der gute Ed wieder einmal kräftig übertrieb, denn die Segel konnten gar nicht besser stehen.

Vom Achterkastell aus sah Hasard belustigt, daß der Profos wieder einmal herumbrüllte. Um was es dabei ging, wußte er allerdings nicht, es war auch nicht wichtig. Wichtig wurde es erst, wenn Ed einmal nicht fluchte. Aus irgendeinem Grund hatte er sich mit dem Kutscher angelegt. Ihm, dem Seewolf, hatte noch keiner etwas davon gesagt, daß das Brot zur Neige gegangen war.

„Was hat der Kutscher denn?“ fragte er Ben Brighton.

Ben Brighton war gerade damit beschäftigt, die Position zu errechnen. Nach seiner Berechnung befanden sie sich jetzt etwa auf der Höhe von Cururupu, vielleicht ein paar Meilen weiter südöstlich, denn das Kaff war noch nicht zu sehen.

„Der Kutscher? Keine Ahnung, Hasard. Vielleicht ist es wegen seines lausigen Salzes oder der Dörrpflaumen. Sie haben ihn heute damit geärgert, weil die vergammelt waren.“

Hasard beugte sich über die Schmuckbalustrade und sah den Decksältesten Smoky an.

„Schick den Kutscher aufs Achterkastell, Smoky“, sagte er.

„Aye, aye, Sir. Den Kutscher aufs Achterkastell!“

Smoky flitzte nach vorn. Er hörte gerade noch, wie der Kutscher dem Profos einen giftigen Blick zuwarf und sagte: „Aus Mist kann man kein Brot backen, du großmäuliger Hammel. Wenn wir nicht bald unsere Vorräte ergänzen, kannst du die nächste Woche die alten Sturmsegel fressen. Ich werde sie dir mit weichgekochten Kakerlaken servieren. Ich jedenfalls habe dir das gemeldet, der Rest ist deine Sache. Sag’s dem Kapitän, du Klotz!“

„Der hat vielleicht eine Schnauze“, staunte Ed fassungslos.

„Kutscher, du sollst zum Kapitän aufs Achterkastell, er will dich sprechen“, sagte Smoky.

Der Kutscher zuckte unwillkürlich zusammen.

„Hasard wird dir die Hammelbeine schon langziehen“, versprach der Profos grimmig. „Dem ist dein mieser Fraß heute auch sauer aufgestoßen!“

Er erhielt keine Antwort. Der Kutscher warf ihm nur einen hochmütigen Blick zu und verschwand eilig. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Himmel, er hatte Sorgen, schließlich mußte er für gutes Essen sorgen, gutes und reichliches Essen gehörte auf der „Isabella“ zur Tradition. Aber er hatte kaum noch etwas Vernünftiges an Proviant aufzuweisen, und wenn er in dieser Richtung etwas sagte, hörte niemand hin. Schließlich konnte er nicht mit jedem Kleinkram zum Seewolf rennen und ihm die Ohren vollheulen.

„Was gibt es?“ fragte Hasard, als der Kutscher wie ein Häufchen Elend vor ihm stand. „Erzähle, Kutscher, dich bedrückt doch schon seit Tagen etwas.“

„Es ist wegen des Proviants“, erwiderte der Kutscher. „Wir brauchen dringend Salz, Mehl, Fleisch, Bohnen. Früchte haben wir genug, aber ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten vorsetzen soll. Immer öfter wird über das Essen gemeckert.“

„Sieht es so schlimm aus?“ fragte Hasard.

„Ziemlich schlimm. Die feuchte Luft hat alles verdorben, und jetzt höre ich nur Vorwürfe vom Profos“, sagte er verbittert.

Hasard lächelte, als er das verstörte Gesicht des Kutschers sah.

„Du kennst ja den Profos, wenn der meckert, ist es nicht so schlimm aufzufassen. Und seine Flüche haben nichts zu bedeuten, die gehören zu seinem Tagesablauf.“

Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte, er blickte zum Vorschiff und dachte nach. Dann griff er nach der Seekarte und sah lange auf das Besteck.

„Wir könnten die Bucht von Alcántara anlaufen“, sagte er, „da gibt es ein Nest, in dem auch die Spanier sich mitunter versorgen. Drake hat dort auch einmal Proviant übernommen, als die Lebensmittel verdarben. Ich selbst war noch nicht dort, aber ich habe davon gehört.“

Der Kutscher nickte eifrig.

„Das wäre ideal“, sagte er, „dann wird sich niemand mehr beschweren, und ich verspreche den Leuten, gleich danach ein Festessen zu kochen.“

„Gut, das Kaff haben wir in ein oder zwei Stunden erreicht. In der Zwischenzeit kannst du eine Liste zusammenstellen. Wie steht es mit dem Trinkwasser?“

„Haben wir reichlich, es langt für eine Weile. Die Liste habe ich allerdings schon fertig“, sagte der Kutscher.

Aus seinem Gesicht war alle Sorge verschwunden. Ja, dachte er, der Seewolf, der mäkelte nicht lange herum, wie der Profos es tat, der hörte sich seine Sorgen ruhig an und traf dann seine Entscheidungen. Nächstes Kaff anlaufen, Proviant fassen, erledigt!

„Na, dann ist ja alles in Ordnung“, sagte Hasard lächelnd.

„Vielen Dank, Sir!“

Erleichtert ging der Kutscher zurück, und als er die Kuhl durchquerte und den Profos sah, blieb er grinsend stehen. Er konnte es sich nicht verkneifen, einen kleinen Seitenhieb auszuteilen.

„Ach, übrigens“, sagte er so herablassend und mokant wie nur möglich, „ich habe veranlaßt, daß wir den nächsten Hafen anlaufen, um Proviant zu fassen. Das wär’s wohl, Profos!“

Carberry blieb verdattert stehen und sah dem schmalbrüstigen Kutscher nach, der lässig mit der Hand wedelte.

„Das – das ist doch die Höhe“, schnaubte er. „Er hat veranlaßt, daß wir den nächsten Hafen anlaufen! Verstehst du das, Ferris?“ fragte er den rothaarigen Schiffszimmermann Tucker.

„Er ist um das Wohl der Mannschaft besorgt. Ed. Er will uns was Anständiges zu essen vorsetzen.“

Carberry schwieg. Zum Teufel, hatte sich denn alles gegen ihn verschworen, dachte er. Aber recht hatten sie ja. Vielleicht war er, der Profos, der einzige, der heute nicht seinen einsichtigen Tag hatte.

Der ranke Rahsegler änderte leicht den Kurs nach Steuerbord, der Küste entgegen, die jetzt in Sichtnähe rückte.

Smoky erschien mit einer neuen Meldung bei Carberry.

„Wir laufen die Bucht von Alcántara an“, sagte er und kam sich wichtig vor mit dieser neuen Meldung.

Aber Carberry machte ihm die Wichtigtuerei mit einem Schlag zunichte.

„Erzähl keine alten Geschichten, Kerl! Das weiß doch mittlerweile jeder Kuhschwanz an Bord, daß wir da Proviant fassen wollen. Nur du hinkst mit deinen Meldungen immer ein halbes Jahr zurück!“

Diesmal war es Smoky, der knallrot anlief und etwas stotterte, das kein Mensch verstand.

Der Kutscher aber stellte mit fröhlichem Gesicht Fässer an Deck, schrubbte sie, baute sie nebeneinander auf und brachte Säcke, Kisten und Krüge nach oben.

Etwas später erklangen Ben Brightons Befehle, die der Profos weitergab und mit saftigen Kraftausdrücken würzte.

Die „Isabella“ lief in die Bucht ein, der Anker fiel, die Segel blieben im Gei hängen.

„Ich könnte nicht gerade behaupten, daß dieser Anblick meine Seele erfreut“, sagte der Seewolf. „Aber was sein muß, muß sein.“

Die Seewölfe blickten auf eine malerisch geschwungene Bucht, in die breit und behäbig ein Fluß mündete. Dahinter begann die grüne Hölle, die sich in nichts vom Amazonas unterschied. Sie glaubten den Gifthauch des Fieberdschungels zu riechen, den betäubenden Duft der bunten Blüten, den Aasgeruch der bleichen Orchideen, den Pesthauch fiebrigen Todes.

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