Seewölfe - Piraten der Weltmeere 72

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 72
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Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-389-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

1.

„Was, zum Teufel, soll ich sonst saufen, wenn wir kaum noch Wasser an Bord haben?“ fragte Ed Carberry und setzte die Rumflasche ab, die Sam Roskill neidvoll betrachtete.

Auf der „Isabella VIII.“ herrschte ein Bild des Friedens. Ein handiger Wind schob den ranken Rahsegler durch eine leichte Dünung. Elegant tauchte der Bug ein und schob einen weißen Bart vor sich her. Hasard hatte alles an Zeug setzen lassen, was die überlangen Masten der Galeone zu tragen vermochten. Auch die Blinde war prall vom Wind gefüllt.

Auf dem Vordeck saß Will Thorne, der Dan O’Flynn beibrachte, wie ein Segel fachmännisch genäht wurde. Der Schimpanse Arwenack hockte daneben und sah aus seinen braunen Augen interessiert zu. Ab und zu grapschte er nach der starken Nadel, doch Will Thorne entzog sie ihm immer wieder, bis der Affe es schließlich aufgab und mit galligem Gesicht die Wanten aufententerte.

Carberry, der Profos, nahm den nächsten Zug aus der Flasche, von denen sie mehrere erbeutet hatten. Dann reichte er sie Sam Roskill.

„Aber nur einen Daumenbreit, klar?“

Roskill quetschte seinen Daumen an die Flasche, damit er ja recht breit wurde und trank ebenfalls. Ihnen gegenüber standen der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker und Al Conroy, der Waffen- und Stückmeister der „Isabella“.

Tucker starrte schon seit geraumer Zeit die Flasche an, aber nicht weil er Durst hatte. Ihn, den ewigen Tüftler und Bastler, bewegten ganz andere Gründe, die der Profos nicht durchschaute.

Widerwillig gab er die Flasche weiter an Tucker, wobei sich sein Narbengesicht grimmig verzog.

„Man sollte seinen Rum wirklich unter Wasser und ganz allein saufen“, murmelte der Profos. „Jeder glotzt einem die halbe Flasche weg, bis nichts mehr drin ist.“

Auch Ferris Tucker trank einen Schluck, betrachtete die Flasche von allen Seiten und gab sie dann unter Carberrys leisen Verwünschungen an den schwarzhaarigen Stückmeister weiter.

Vom Achterkastell sahen der Seewolf und Ben Brighton belustigt zu, wie der Flascheninhalt abnahm und der Profos sich insgeheim darüber ärgerte.

„Wird höchste Zeit, daß wir eine Insel anlaufen und Wasser finden“, sagte Hasard zu seinem ersten Offizier Ben Brighton. „Der gestrige Sturm hat vier Fässer zerschlagen, viel haben wir nicht mehr.“

Ja, daran entsann sich Ben Brighton nur noch ungern. Gestern hatten sie einen höllischen Sturm abgeritten, der sie zwei Segel gekostet hatte. Die Brecher waren über dem Schiff zusammengeschlagen wie Berge aus dunkelblauem Glas und hatten mit unvorstellbarer Wut an der Galeone gezerrt und gerissen. Aber die „Isabella“ hatte den wilden Orkan abgeritten und war Sieger geblieben. Sie war nicht umsonst das beste Schiff, das je eine englische Werft verlassen hatte.

Ben Brighton blickte auf die Seekarte und nickte.

„Gegen Mittag können wir eine der Caicos-Inseln anlaufen. Dort wird sich Wasser finden, oder wir versuchen es auf einer der kleinen Felseneilande.“

In der Kuhl blickte Ferris Tucker wieder auf die Flasche, der der Profos gerade den letzten Schluck herauskitzelte.

„Herr im Himmel“, murmelte er, „da ist doch nur ein schwacher Liter drin, der reicht doch nicht für alle.“

Er lehnte sich ans Schanzkleid, packte die Flasche mit der rechten Hand und holte zum Wurf aus.

„Halt!“ schrie Tucker. „Schmeiß sie nicht weg!“

Der Profos erstarrte mitten in der Bewegung. Er schob sein Rammkinn in Tuckers Richtung, der mit einem Stück Lunte spielte.

„Da ist nichts mehr drin“, versicherte er.

„Das kann ich mir denken, aber gib sie mir trotzdem.“

Er nahm die Flasche entgegen und ließ sich von Carberry auch noch den Korken geben. Mittlerweile hatten sich Jeff Bowie, Bob Grey, Luke Morgan und der alte Donegal Daniel O’Flynn um ihn herum in der Kuhl versammelt. Alle waren neugierig, denn Ferris Tucker hatte etwas mit der Flasche vor. Aber was, zum Teufel?

Sie sollten es gleich erfahren.

„Nur ein kleines Experiment“, erklärte Ferris. „Ich weiß allerdings nicht, ob es klappt. Ich möchte nur mal die Wirkung sehen.“

Aus seiner Werkzeugkiste holte er zwei Hände voll alter Nägel, ein paar gehackte Bleistücke und etwas Pulver.

„Was wird das, Ferris?“ wollte Al Conroy wissen.

„Das weiß ich selbst noch nicht. Mir ist gerade eine Idee gekommen. Wenn man Nägel, Blei und Pulver in die Flasche füllt, sie verkorkt und in den Korken eine Lunte schiebt, dann reißt es die Flasche doch auseinander, nicht?“

Keiner sagte ein Wort, niemand gab Antwort. Gebannt schauten sie Tucker zu, bis sich auch der Seewolf dazugesellte, der die Spielereien des Schiffszimmermannes allerdings ernster nahm als die meisten anderen. Die dachten jetzt, Tucker hecke irgendeinen Blödsinn aus und wolle sie anschließend auf den Arm nehmen.

Als er alles in die Flasche gefüllt hatte, bohrte er mit dem Marlspieker ein kleines Loch in den Korken und schob ein kurzes Stück Lunte hinein.

Danach verkorkte der die Flasche, die er abschätzend in der Hand wog. Sie hatte ein ganz beachtliches Gewicht.

„Angenommen“, sagte Tucker und grinste dabei über das ganze Gesicht, „ich lasse die Flasche an Deck stehen und zünde die Lunte an. Was glaubt ihr wohl, was dann passiert?“

„Bist du wahnsinnig, Ferris?“ sagte Carberry. „Uns fliegen die Brocken nur so um die Ohren!“

Plötzlich hatten sie alle begriffen, was Tucker wollte.

„Das wollte ich nur wissen“, erklärte der Hüne zufrieden. „Wenn euch die Brocken um die Ohren fliegen, dann würden sie doch auch jedem verdammten Piraten um die Ohren fliegen, wenn man sie auf ein Schiff schleudert. Oder etwa nicht?“

Der Seewolf sah seinen Schiffszimmermann an wie einen Geist. Er nahm die Flasche ebenfalls in die Hand und schüttelte den Kopf.

„Wie der Schuß aus einer Drehbasse“, sagte er bewundernd. „Nur ist das Format handlicher und man kann die Dinger überall mitschleppen.“

„Mensch, Ferris!“ riefen ein paar Männer begeistert. „Wie bist du nur auf die Idee gekommen?“

Tucker wandte sich verlegen ab.

„Nur so, als ich die Flasche sah. Noch haben wir es ja nicht ausprobiert, vielleicht klappt es auch gar nicht.“

Aber da geriet er an die Falschen. Al Conroy widersprach sofort sehr energisch.

„Natürlich klappt das, Ferris. Sobald die glimmende Lunte das Pulver erreicht, geht es hoch. Und da die Explosion sich nicht durch die Öffnung entladen kann, zerreißt es die Flasche, die ihren Inhalt nach allen Seiten verschleudert. Ich möchte jedenfalls nicht in der Nähe stehen, wenn sie explodiert.“

„Man müßte sie noch verbessern“, überlegte Tucker. „Die Lunte genauer berechnen, wie lange sie brennt, Stoff oder Segeltuch um die Flasche wickeln, damit sie beim Aufprall nicht gleich zersplittert.“

Der riesige Gambia-Neger Batuti trat hinzu. Seine Augen rollten wild, als er die Flasche mit ihrem Inhalt sah. Das meiste von den Gesprächen der Männer hatte er begriffen.

„Schlaues Mann, Ferris“, radebrechte er. „Großes Kopf mit viel Verstand. Batuti Flasche ausprobieren.“

„In deiner Hosentasche, was?“ sagte Tucker lachend. „Hier an Bord geht das nicht, es ist zu gefährlich.“

„Batuti schmeißen in Wasser.“

„Dann verlöscht die Lunte, Mann“, erklärte Dan. „Oder hast du schon mal gesehen, daß eine Lunte im Wasser brennt?“

„Batuti wissen. Warten, bis Funke in Flasche rutscht. Dann werfen.“

Er ließ sich nicht davon abhalten, und da Ferris nichts verlor, wenn sie die Flasche ausprobierten, entzündete er die Lunte. Er wollte sie selbst werfen, aber der Neger nahm sie ihm grinsend aus der Hand.

„Wenn Flasche kaputt, du werden schwarz von Pulver“, sagte er zu Tucker. „Batuti sein schon schwarz, nix mehr können schwärzer werden.“

„Sieh dich bloß vor mit dem Ding“, warnten die anderen.

Doch Batuti stellte sich ans Schanzkleid, hielt die Flasche etwas von sich und blies aus voller Lungenkraft auf die Lunte, bis sie hellrot glühte.

„Wirf sie weg!“ schrie Tucker. „Schnell, über Bord damit!“

Der Neger grinste noch immer. Mit großen Augen schielte er durch das Glas, sah, daß der letzte Teil der Lunte glomm und schleuderte die Flasche in einem weiten Bogen aufs Meer hinaus.

Sie tauchte ins Wasser und war noch nicht ganz in dem Element verschwunden, als sie auch schon mit unvorstellbarer Wucht krepierte.

Ein lauter Knall ertönte, und dann flogen ein paar Splitter bis dicht an die „Isabella“ heran.

 

Hinter dem Schanzkleid gingen die verblüfften Männer in Deckung. Und dabei hatte Batuti die gefüllte Flasche immerhin fünfzig Yards weit geworfen!

„Donnerwetter“, sagte der Profos ehrfürchtig. Er sah in verwunderte Gesichter. Die Männer staunten nicht schlecht. Und dieses teuflische Ding hatte Ferris Tucker so einfach ersonnen?

Aber es gab noch etwas anderes, das sie genauso überraschte.

Weit hinter der „Isabella“ kamen ein paar Fische an die Oberfläche. Mit zum Himmel gedrehten Bäuchen trieben sie auf dem Wasser.

„Die hat der Druck getötet“, sagte der Seewolf. Es war eine reine Feststellung, die ja auch den Tatsachen entsprach.

Die Gespräche über die mit Pulver gefüllte Flasche rissen nicht ab. Jeder entwickelte die Idee weiter, und so nahm sich Ferris vor, eine neue zu konstruieren, mit der man etwas anfangen konnte, ohne daß sie einem in der Hand explodierte.

Die „Isabella“ segelte auf ihrem Kurs in die Karibik weiter. Dan O’Flynn löste Stenmark im Ausguck ab. Am Ruder wechselten Pete Ballie und Gary Andrews.

Zu tun gab es nicht viel, das Schiff war aufgeklart, die Geschütze geladen, kontrolliert und noch einmal nachgesehen. In diesem Teil des Atlantik war das lebenswichtig, denn hier wimmelte es von Freibeutern, Korsaren, Piraten und Schnapphähnen, die auf leichte Beute aus waren, und die jeden überfielen, den sie entdeckten.

„Deck!“ erscholl eine halbe Stunde später Dans Stimme aus dem Groß mars. „Land zwei Strich Backbord voraus!“

„Aye, aye!“ rief Ben Brighton zurück. „Das werden die Felseninseln sein. Halten wir darauf zu, Hasard?“

„Ja. Die Schlangeninsel laufen wir vorerst noch nicht an, es sei denn, wir finden überhaupt kein Trinkwasser.“

An der Kimm tauchten die Inseln auf. Kraterinseln, geboren durch unterseeische Vulkane, schroffe Felsen, die aus dem Meer ragten und vornehmlich von Vögeln aller Art bevölkert waren. Da die „Isabella“ die Felseninseln noch nicht angelaufen hatte, wußte Hasard auch nicht, ob hier Trinkwasser zu finden war.

„Sieht nicht so aus, als würde es dort Trinkwasser geben“, sagte Gary Andrews zu dem Seewolf. Seine Augen waren auf die Sanduhr gerichtet, und als aus dem oberen Teil der letzte Rest Sand nach unten lief, drehte er die Sanduhr, für die nächste halbe Stunde um.

„Einen Versuch ist es schon wert“, erwiderte Hasard. „Geh zwei Strich nach Backbord, Gary!“

„Zwei Strich Backbord“, wiederholte Andrews.

Die Felsen schienen auf dem Wasser heranzuschweben.

„Deck!“ schrie Dan O’Flynn wieder mit seiner lauten Stimme. „Auf den Klippen scheint ein Spanier gestrandet zu sein. Sieht verdammt nach einer Galeone aus!“

Ein gestrandeter Spanier? Da gab es vielleicht etwas zu holen. Sofort enterten ein paar Männer in die Wanten auf, um eine bessere Aussicht zu haben.

Hasard zog das Spektiv auseinander und blickte lange hindurch. Dann reichte er es an seinen Bootsmann weiter.

„Scheint sich tatsächlich um eine spanische Galeone zu handeln. Aber die ist hinüber, teilweise auseinandergebrochen. Vermutlich hat sie der gestrige Sturm erwischt. Uns hat er ja auch ganz schön zugesetzt.“

„Da steht doch ein Kerl an Deck“, murmelte Ben. „Es kann aber auch eine herabgestürzte Rah sein, so genau läßt sich das noch nicht erkennen. Hier, sieh dir das mal an!“

Abwechselnd blickten sie durch das Spektiv, und einmal glaubte Hasard ebenfalls, einen Mann an Deck zu sehen. Aber es konnte sich wirklich um eine herabgefallene und senkrecht aufgestellte Rah handeln, wie Ben schon bemerkt hatte. Eine Rah, die mit Wucht in das Deck hineingeschmettert worden war.

„Klar, ein verfluchter Don!“ brüllte Smoky aus den Wanten. „Vielleicht hat er Silber oder Gold geladen. Den schnappen wir uns!“

„Immer langsam“, sagte Hasard lachend, „da wird nicht mehr viel zu schnappen sein. Eventuell ist der Kahn hier schon vor Jahren gestrandet und längst geplündert worden.“

Das Wrack wurde immer deutlicher. Leichte Wellen zerrten pausenlos an ihm, die Masten waren geknickt, abgebrochene Stümpfe, die anklagend in den Himmel wiesen. Alles stehende Gut, Wanten und Pardunen, waren zerfetzt, lagen an Deck herum. Die abgerissenen Maste trugen noch Teile ihrer Rahen mit zerfetztem Segeltuch. Und in der Mitte war die Galeone durchgebrochen. Immer wieder spülte Wasser in ihre Räume, nagte, fraß und bohrte daran.

„Ich werd verrückt!“ schrie Dan lautstark. „Da steht ein Kerl an Deck. Habt ihr gehört? Ein Kerl steht an Deck!“

„Kein Grund so zu brüllen!“ schrie Ferris Tucker zum Großmars hinauf, und er schaffte es, dabei wesentlich lauter zu brüllen als Dan.

„Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht“, sagte Ben. „Da lungert tatsächlich einer an Bord herum. Steif wie ein Ladestock. Der müßte uns doch längst bemerkt haben!“

Aus dieser Entfernung schon fiel dem Seewolf der eigenartige Mann auf. Man sah ihn zwar noch nicht deutlich, vor allem sein Gesicht ließ sich noch nicht erkennen, aber es schien festzustehen, daß es sich um einen älteren Mann handelte. Lange, schlohweiße Haare flatterten im Wind. Der Mann stand stocksteif auf der Backbordseite am zerfetzten Schanzkleid und rührte sich nicht. Er wirkte, als hätte man ihn dort angenagelt.

„Wir segeln etwa bis auf hundert Yards heran“, befahl Hasard. „Dann ankern wir.“

„Aye, aye!“ rief der Profos, und sofort scheuchte er die Männer an die Schoten. Die Segel wurden aufgegeit, bis die „Isabella“ merklich langsamer lief. Kräftige Hände zerrten an den Geitauen, holten weiter auf.

„Im Gei hängen lassen!“ dröhnte Carberrys Stimme. „Erst nachher ganz aufholen!“

„Als ob das nicht jeder Arsch an Bord wüßte“, sagte Luke Morgan zu Blakky, der grinsend in die Hände spuckte.

„Laß ihn doch, wenn der Profos nicht befehlen, brüllen oder einem die Haut in Streifen vom Affenarsch ziehen kann, dann fühlt er sich nicht wohl.“

Das traf haargenau zu. Es gab keinen an Bord, den der Seewolf nicht hart rangenommen hatte, und daher hätten sich derartige Befehle einfach erübrigt, aber der Profos konnte nun einmal nicht aus seiner Haut heraus, und außerdem war es für ihn unvorstellbar, daß niemand Befehle gab. Ein Profos war schließlich zum Brüllen da und nicht zum Rumstehen.

Immer mehr verlor die Galeone an Fahrt, bis die Bugwelle nur noch leise gluckerte. Bei dem Manöver hatte niemand mehr so richtig Zeit, auf das Wrack zu achten, doch jetzt, nachdem das Kommando „Fallen Anker“, erscholl, und der Anker in die Tiefe rauschte, blickte jeder angestrengt zu dem gestrandeten spanischen Wrack hinüber.

Langsam schwoite die „Isabella“ herum, bis sie fast parallel zu dem Spanier lag.

Jetzt sahen ihn alle überdeutlich, diesen Mann, der da mit langen schlohweißen Haaren an Deck stand.

Er trug nichts als eine zerfetzte, blaß blaue, an den Knien ausgefranste alte Hose. Sein nackter Oberkörper war ausgemergelt und von Sonne, Wind und Wetter gegerbt. Scharf zeichneten sich seine Rippen ab. Er hatte beide Arme zum Himmel erhoben und sein zerfurchtes Antlitz schien die Sonne anzubeten.

Niemand an Bord sprach ein Wort. Alle schauten gebannt zu dem Mann hinüber, der jetzt langsam sein Gesicht wandte. Es war ein asketisches Gesicht, das eines Büßers, faltenreich, hager, ebenso ausgemergelt wie der ganze Körper. Seine Lippen waren schmal und zusammengepreßt, die Augen lagen tief in den Höhlen, und um seine Wangen spannte sich eine dünne, fast durchsichtige Haut mit vielen kleinen, roten Äderchen darin.

Das Schlimmste waren seine Augen, die jetzt erwartungsvoll auf die Männer gerichtet waren. Es waren stark nach oben verdrehte Augen wie die eines Blinden. Weißgelblich schimmerten sie unheilverkündend in den dunklen Augenhöhlen.

„Augen eines Toten“, sagte Smoky und bekreuzigte sich hastig. „Der ganze Kerl scheint tot zu sein. Mit den Augen kann er doch nichts mehr sehen.“

Pete Ballie neben ihm, starrte ebenfalls mit einem kalten Schaudern auf die ausgemergelte Gestalt.

„Die Augen eines toten Fisches sind das, Smoky. Der – der Kerl kommt mir vor, wie – wie …“

„Hör auf“, flüsterte Smoky entsetzt. „Sprich nicht weiter! Ich weiß schon, was du sagen willst. Der Kerl bringt Unheil!“

Da war es heraus, das Wort, das jedem im Mund lag, und obwohl Smoky es nur geflüstert hatte, schien es doch nachhallend über das ganze Schiff zu dröhnen.

„Der Kerl bringt Unheil!“

Dieser Satz huschte vom Vordeck in die Kuhl, zum Achterkastell und bis in die Wanten und erreichte den Affen Arwenack, der sich mucksmäuschenstill verhielt. Seine braunen Augen waren weit aufgerissen, das Tier schien die Gefahr stärker zu empfinden als alle anderen.

Der Seewolf spürte, wie die Stimmung umschlug. Das Wrack, an dem unaufhörlich die Wellen nagten, die Geräusche des sterbenden Schiffes, das Knacken der Planken, das Klappen des hin und herschlagenden Kolderstocks, und dieser unheimliche Mann – das alles beschwor etwas Unheilvolles herauf. Selbst der abgebrühte Seewolf fühlte, wie ihm ein kühler Schauer über den Rücken rann.

„Fiert das Beiboot ab!“ erklang seine Stimme, die die Männer augenblicklich aus ihrer Erstarrung riß.

Ja, das lenkte sie ab von dieser unheimlichen Gestalt, und so drängte sich der größte Teil der Crew um das Beiboot, nur um den Anblick des Unheimlichen für kurze Zeit zu vergessen. Doch das ließ sich nicht vergessen, der Alte war da, er war dominierend, eine Persönlichkeit, die man nicht ignorieren konnte, und so warfen die Seewölfe immer wieder scheue Blicke hinüber.

Immer noch stand er unverändert da, die Arme wie bittend zum Himmel erhoben, die mageren Hände wie erstarrt und verkrampft in der Luft haltend. Das Weiße seiner Augen wurde langsam wieder trüb, als er ein klein wenig das Gesicht wandte.

Jeder fühlte, daß der Alte ihn sah, obwohl jeder wußte, daß ein normales Sehen mit diesen Augen unmöglich war. Aber der Alte sah „auf eine andere Art“, wie Smoky flüsternd versicherte.

Fast alle taten sie unnötige Handgriffe beim Abfieren des Bootes, bis der Profos den Kopf schüttelte und laut werden wollte. Aber er brachte es nicht über sich, seinen Lieblingsspruch anzuwenden. Der paßte einfach nicht hierher, das fühlte er ganz deutlich.

Hart schluckend wandte er sich ab, sah Hasard an, der es auch vermied den Alten anzublicken, und der doch immer wieder wie magisch von dieser ausgemergelten Gestalt angezogen wurde.

Und dann sagte Batuti etwas, das den anderen wie ein glühendes Eisen in die Knochen fuhr.

„Alter Mann ist Jonas!“

„Batuti!“ rief der Seewolf scharf, doch der riesige Gambia-Neger ließ sich nicht beirren.

„Batuti immer sagen, was denken“, maulte er, „und Batuti sagen noch mal, altes Mann ist Jonas, und Jonas an Bord bringen Unglück. Sollen schnell weitersegeln und Jonas nicht mehr sehen.“

Köpfe duckten sich, Münder verzogen sich, und jeder fühlte, wie sich seine Haare im Nacken aufrichteten. Verdammt, Batuti hatte recht! Ein Jonas! Das fehlte gerade noch! Und das ausgerechnet wieder in jenem Teil des Atlantik, der bei allen Seeleuten ohnehin verschrien und nicht geheuer war: im Sargassomeer.

Hasard fand keine Antwort. Er zuckte mit den Schultern und blieb auf dem Achterdeck stehen. Er mußte versuchen, diese unheilvolle Stimmung, die sich an Bord schlich, im Keim zu ersticken. Er drehte leicht den Kopf und sah den Alten mit den schlohweißen wirren Haaren scharf an.

„Senor!“ rief er laut hinüber, denn es konnte sein, daß dieser Alte ein Spanier war.

Der Jonas gab keine Antwort. Er drehte nur ebenfalls langsam den Kopf in die Richtung, aus der er die Stimme vernahm. Seine erloschenen Augen schienen sich in das Gesicht des Seewolfs zu brennen, und dann verzogen sich zum erstenmal seine Lippen, und ein paar schwarze Zahnstummel wurden sichtbar.

Sofort danach versank er wieder in Lethargie.

Dan O’Flynn wagte keinen Blick zu dem Mann hin. Er hatte sich umgedreht und blickte angestrengt auf Deck hinunter, und so sah er auch nicht, was Hasard in diesem Augenblick sah, als eine kleine Welle die zerbrochene Galeone noch weiter krängen ließ.

Auf dem Deck, dicht am Schanzkleid, lagen zwei tote Spanier. Sie trugen noch ihre Helme, in denen sich bei der leichten Bewegung kurz das Sonnenlicht spiegelte.

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