Seewölfe - Piraten der Weltmeere 611

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 611
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-025-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Keine Schonzeit für Ratten

Der Hunger geht um – und da zahlen sie Wucherpreise

21. Juni 1598 – Atlantik.

Seit vier Nächten hatte Barry Wister immer den gleichen Traum. Er fürchtete sich schon vor dem Schlafengehen, denn er wußte mit absoluter Sicherheit, daß alles Schreckliche wieder von vorne beginnen würde. Es würde nie ein Ende nehmen, es begann immer wieder neu.

Manche sagten von ihm, daß er das Zweite Gesicht habe, aber daran glaubte der bärtige Zimmermann nicht, denn viele seiner schrecklichen Träume hatten sich zum Glück nicht bewahrheitet. Von diesem Traum aber wußte er, daß er unabänderliche Wahrheit werden würde. Dabei fing er meist harmlos an.

Die Dreimast-Galeone „Discoverer“ wiegte sich sanft in einem Meer von eigentümlicher Farbe. Das Wasser war lilafarben mit blutroten Streifen darin, die in die Tiefe zu gleiten schienen. Auch der Himmel hatte diese eigentümliche Farbe, wo er am Horizont mit dem Wasser verschmolz.

Die Gestalten an Deck hatten keine Gesichter. Es waren Schemen, die sich kaum bewegten, gesichtslose Phantome …

Die Hauptpersonen des Romans:

Jimmy Wister – der Dreizehnjährige hat eine gute Idee, um dem Hunger zu Leibe zu rücken, doch dafür wird er verprügelt.

Kelvin Bascott – der glatzköpfige Widerling von Koch auf der „Discoverer“ fängt Ratten und verkauft sie gegen klingende Münze an die verhungerten Auswanderer.

Wintrop – weil er gewagt hat, über Kapitän Granville die Wahrheit zu sagen, wird er barbarisch bestraft.

Robert Granville – die Gier nach Geld ist bei dem Kapitän der „Discoverer“ grenzenlos – und bricht ihm letztlich das Genick.

Philip Hasard Killigrew – es stört den Seewolf nicht, unterschätzt zu werden, aber wer ihm auf der Nase herumtanzt, der erlebt sein blaues Wunder.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Um Barry Wister herum herrschte gespenstische Stille. Er glaubte, die Zeit fein wie gemahlenen Sand knirschen zu hören. Alles war so unwirklich fremd und irgendwie gegenstandslos, als befände er sich in einer anderen Welt.

An diesem Punkt seiner Träume angelangt, begann sein Herz wild in der Brust zu hämmern. Der Schweiß brach ihm aus und bedeckte seinen ganzen Körper, denn jetzt kam das Unabänderliche.

An der Kimm, wo die Farben zu abstrakten Mustern verwischten und eine Phantasiewelt vorgaukelten, erhob sich plötzlich das Meer. Übergangslos wuchs eine gigantische Walze aus dem Ozean. Sie türmte sich immer höher auf, bis der Horizont hinter ihr völlig verschwand.

Diese Riesenwalze begann jetzt lautlos zu rollen wie eine gläserne Mauer. Die Galeone bewegte sich und begann zu ächzen und in allen Verbänden zu knarren. Das Schiff lebte, das wußte Barry Wister in diesem Augenblick sehr genau. Es lebte und hatte Angst vor dieser Riesenfaust, die es gleich zertrümmern würde.

Er warf einen hilfesuchenden Blick nach achtern, wo der gesichtslose Kapitän und seine Offiziere standen.

„Tut doch etwas!“ schrie er in wilder panischer Angst.

Sein Schrei erreichte die Schemen nicht, oder sie schienen ihn nicht zu hören. Unbewegt standen sie auf dem Achterdeck, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein.

Aus dem Holz des Schiffes drangen Schreie der Angst. Es schüttelte sich in namenlosen Entsetzen. Überall kreischte es in höchster Not.

Als Barry Wister entsetzt herumfuhr, sah er die Riesenwoge direkt auf sich zurasen. Jetzt glaubte er auch ein fernes urweltliches Tosen und Brausen zu hören. Die Luft schien zu kochen.

Die riesige Woge überrannte das Schiff, das jetzt wie ein hilfloses Tier schrie. Ein gewaltiger Schlag fuhr schmetternd über die Galeone hinweg. Ein Wasserwirbel unbeschreiblichen Ausmaßes überschüttete alles. Sofort danach versank alles in unheimlicher Stille.

Wister fand sich in einer anderen Welt wieder, die von geisterhafter Stille geprägt war. Sie wirkte absolut lautlos. Er spürte, daß er in einem großen Wasserwirbel in die Tiefe des Atlantik gerissen wurde, daß es immer tiefer dem Meeresboden entgegenging. Das Schiff befand sich auf einer irrsinnigen Talfahrt zum Mittelpunkt der Erde.

Deutlich sichtbar tauchten zerklüftete, mit Moosen und Algen behangene Bergrücken vor ihm auf. Das Wasser war seltsam klar, wie er erkennen konnte.

Dann erfolgte das jähe und abrupte Ende. Die Galeone zerbarst in einer lautlosen Explosion und riß auseinander. Wister verspürte nur einen entsetzlichen Schmerz, der seinen Körper zu zerreißen drohte. Dann erwachte er schweißgebadet.

Keuchend und nach Luft ringend lag er da und spürte eine kleine, schmale Hand in der seinen. Die Finger drückten beruhigend zu. Er vernahm die leise Stimme seiner Frau Ann.

„Hast du wieder diese schrecklichen Träume, Barry?“

„Ja, ich habe wieder geträumt. Es war schrecklich. Jede Nacht träume ich das gleiche.“

„Was war es für ein Traum?“ flüsterte sie.

„Ich weiß es nicht mehr genau.“ Er log bewußt, um sie nicht zu beunruhigen. Er hatte Angst, daß dieser fürchterliche Alptraum bald Wirklichkeit werden könne, denn er wiederholte sich zu oft und zu eindringlich, als sollte er bewußt gewarnt werden.

„Beruhige dich“, sagte sie leise. „Vielleicht hast du nur auf der falschen Seite gelegen. Dann drückt es aufs Herz.“

„Ja, vielleicht, Ann.“

Eine grobe Stimme irgendwo aus dem muffigen und überbelegten Raum durchschnitt ihr leises Gespräch.

„Könnt ihr nicht eure Mäuler halten, verdammt noch mal? Ich will meine Ruhe haben.“

Der Kerl brüllte so laut und grob, daß ein paar andere Schläfer ebenfalls erwachten. Sie gingen sich seit langem in der bedrückenden und beklemmenden Enge gegenseitig auf die Nerven, bei dem geringsten Anlaß wurde gestritten. Sogar wegen der Schnarcherei einiger hatte es bereits einmal Prügel gesetzt. Der Schnarcher war so kräftig verdroschen worden, daß er sich kaum noch traute einzuschlafen.

Barry Wister gab keine Antwort. Er tastete über seine Frau hinweg nach dem anderen kleinen Körper, der unter einer klammen Decke lag. Sein dreizehnjähriger Sohn Jimmy schlief tief und fest. Er atmete in ruhigen und langsamen Zügen.

Sie hatten zum Glück noch eine Koje erwischt, weil sie als erste auf die „Discoverer“ gekommen waren. Die Koje war wie eine Nische in die wuchtige Wand eingelassen und gerade so groß, daß sie zu Dritt unbequem darin schlafen konnten. Eine durchlöcherte Pferdedecke schützte sie vor den Blicken der anderen, die sich ebenfalls in ihren Kojen fast verbarrikadiert hatten.

Barry Wister lugte durch eins der Löcher in der zerschlissenen Decke. Es gab nicht viel zu sehen. Er blickte in einen Raum, der fast ausschließlich aus in den Wänden eingelassenen Kojen bestand. In der Mitte der Kammer war gerade so viel Platz, daß da noch ein grober Tisch mit einer ebensolchen Bank stehen konnte. Von einem Decksbalken baumelte eine schwach blakende Laterne. Sie schwang im ewigen Rhythmus der Schiffsbewegungen hin und her und verbreitete trübes Licht.

Die Luft war abgestanden, muffig und feucht. Alles auf diesem Schiff war feucht, angefangen von der Wäsche bis zu den Kojen. Gelüftet wurde nur, wenn der Seegang es zuließ. Heute ließ er es nicht zu, denn immer wieder kam Spritzwasser über. Daher waren die Grätings zusätzlich mit Luken verschlossen worden, und es fand kein Luftaustausch statt.

Der bärtige Zimmermann mit dem schmalen Gesicht seufzte leise und drehte sich auf die andere Seite. An den gleichmäßigen Atemzügen neben sich merkte er, daß Ann wieder eingeschlafen war.

Er selbst konnte nicht einschlafen. Der entsetzliche Traum hatte ihn zutiefst aufgewühlt und ließ ihn nicht ruhen. Immer wieder sah er die „Discoverer“ auf dem Meeresgrund zerschellen.

Er hatte sich diese Reise über den Atlantik in die Neue Welt anders vorgestellt. Es war ihnen zwar gesagt worden, daß es eine sehr beschwerliche Fahrt werden würde, aber keiner der Siedler hatte geglaubt, daß ein Meer wie der Atlantische Ozean so unheimlich groß und riesig sein würde. Es war ein Meer ohne Ende, wie es schien, und auf der ganzen Welt gab es nur noch dieses große Wasser.

Im Mai vor etwa einem Monat waren sie aufgebrochen und hatten tagtäglich etliche Meilen zurückgelegt. Und doch war immer noch nicht auch nur die Andeutung von Land zu erkennen.

 

Herrgott, dachte er, wie entsetzlich groß und riesig ist denn dieser unvorstellbare Ozean nur?

Dieser eine Monat auf See hatte bereits entscheidend ihrer aller Leben geprägt. Man hatte die ersten Freundschaften geschlossen, sich aber auch Feinde und Neider zugelegt, und man hatte die anfangs zurückhaltend wirkenden Leute der Besatzung näher kennengelernt. Unter ihnen gab es erbärmliche Kreaturen, Halunken und Schlagetots.

Auf der „Discoverer“ schien es ganz besonders schlimm zu sein. Hier hatten drei Halunken und ein unmenschlicher Kapitän das Sagen, und sie nutzten ihre Vormachtstellung gründlich aus. Schikanen wechselten mit Prügeln ab. Die hygienischen Zustände, die am Anfang der Reise schon zu wünschen übrig ließen, wurden mit der Zeit unerträglich. Auf der Galeone „Explorer“ war bereits die Cholera ausgebrochen.

Das alles ließ sich noch einigermaßen ertragen, wenn nicht ein weiterer Faktor an Bord das Leben verschlimmert hätte. Es war der Hunger, und das war eins der mächtigsten Gefühle, das man nicht einfach unterdrücken oder ignorieren konnte.

Zuerst hatte in dieser Hinsicht auch alles bestens geklappt, aber dann war es immer schlechter geworden. Die paar Stücke Großvieh, die sie an Bord hatten, waren längst geschlachtet und verzehrt worden, und auch das Kleinvieh war gefolgt. Was sich jetzt noch an Kleinvieh an Bord befand, gehörte sozusagen zur Standardausrüstung und zum lebenden Inventar. Es war Ungeziefer, Kakerlaken – und Ratten.

Der Zimmermann wälzte sich wieder auf die andere Seite. In der Kammer war mittlerweile Ruhe eingekehrt, bis auf ein paar Schnarcher, die unentwegt in ihren Kojen sägten. Räusperte sich jemand, so brachen die Schnarchtöne abrupt ab und setzten nach einer Weile erneut ein.

Er versuchte einzuschlafen, doch die Angst vor dem Alptraum, der sich mit Sicherheit wieder fortsetzen würde, hielt ihn wach. Da half alles Herumwälzen nicht.

Nach einer Weile stand er leise auf, verließ die Koje und setzte sich an den fest verbolzten Tisch in der Kammer. Eine Weile sah er den Schwingungen der Laterne zu, dann stützte er das Gesicht in beide Hände und dachte nach.

Was würde sie in der Neuen Welt erwarten? Das Paradies, von dem alle redeten, oder ein unbekanntes abweisendes Land? Ob es alles wirklich so war, wie man ihnen versprochen hatte?

Er hörte seinen Magen knurren und blickte zwischen den Fingern hindurch auf eine huschende Bewegung, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ganz ruhig blieb er sitzen.

Am unteren Rand einer Koje schob sich der Körper einer Ratte hoch. Sie hatte sich offenbar durch die Bodenbretter gefressen, die sich über der Bilge befanden.

Ganz langsam stand Barry Wister auf und näherte sich dem Tier, das anscheinend auf Nahrungssuche war. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß Ratten nicht davor zurückschreckten, auch hilflose kleine Kinder anzugreifen, wenn sie Hunger hatten. Und in jener Koje dort drüben lag ein kleines Kind mit seinen Eltern.

Obwohl er sich vorsichtig bewegte, gelangte er nur zwei Schritte weit. Dann hatten ihn die Knopfaugen erspäht. In einer fließenden Bewegung huschte die Ratte nach unten und verschwand in einer Ritze.

Wister stopfte ein paar Lumpen in den Spalt, obwohl er wußte, daß das nicht viel half. Wenn die Biester erst einmal Hunger hatten, dann gaben sie keine Ruhe mehr.

Die Ratte ließ sich jedoch vorerst nicht mehr blicken. Wister fiel auf, daß sie doch ganz gut genährt war. Sie stand gut im Futter und schien eine Quelle zu haben, wo etwas zu holen war, ohne daß man sie bemerkte. Vielleicht hatte sie nur nach einer zusätzlichen Nahrungsquelle Ausschau gehalten.

Sein Magen knurrte wieder überlaut und zog sich zusammen. Das Hungergefühl ließ ihn nicht mehr los. Um es einigermaßen zu unterdrücken ging er zu dem festgelaschten Wasserfaß hinüber, ergriff die hölzerne Kelle und trank einen langen Schluck.

Das Wasser war einen Monat alt und wies den entsprechenden Geschmack auf. Er hatte das Gefühl, aus einer abgestandenen Gipsquelle getrunken zu haben, und er mußte sich beherrschen, damit das Zeug auch unten blieb.

In Gedanken beschäftigte er sich lange Zeit mit der verschwundenen Ratte. Dabei fragte er sich immer wieder, wie ihr Fleisch wohl schmecken würde, wenn es gebraten oder gekocht wurde. Sein ewig hungriger Sohn Jimmy wäre vermutlich mit Freuden über das Fleisch hergefallen. Die Kinder taten dem Zimmermann am meisten leid, denn sie litten noch entsetzlicher unter dem Hunger und begriffen nicht, warum es kaum etwas zu essen gab, da man in London doch so viel Proviant an Bord genommen hatte.

Er selbst wußte, wer an der ganzen Misere schuld war. Das waren drei Halunken an Bord, abgefeimte niederträchtige und ausgekochte Schlitzohren, die zudem von ihrem Kapitän bei ihrem schändlichen Tun gedeckt oder unterstützt wurden. Der Bootsmann Bruce Watts, ein stiernackiger übler Schläger, der Decksälteste Gordon Tibbs, der Kerl mit den langen Affenarmen und der zerdroschenen Plattnase, und schließlich der Koch selbst, ein vollgefressener feister Glatzkopf mit dem Gang einer watschelnden Ente. Kelvin Bascott hieß der Bastard. Er war tückisch, verschlagen und ausgebufft und konnte Kinder auf den Tod nicht ausstehen.

Barry Wister hielt es unter Deck nicht mehr aus. Schlafen konnte er ohnehin nicht mehr, und so wollte er wenigstens ein bißchen frische Nachtluft schöpfen.

Um die anderen nicht zu stören, zog er lautlos das Schott hinter sich zu, als er an Deck stand. Für ein paar Augenblicke ließen sich in der frischen Luft die Sorgen vielleicht vergessen.

Am nächtlichen Himmel blinkten ein paar ferne Sterne. Vom Mond war nur eine schmale Sichel zu sehen. Eine frische Brise wehte ihm ins Gesicht. Er sah, wie sich die Galeone leicht zur Seite neigte, über einen anschwellenden Berg aus Wasser stieg und sanft in das nächste Wellental hinunterglitt. Dort wiederholte sich das ewige Spiel von Wind und Wogen.

Er ging ein paar Schritte zur Kuhl weiter und fand sich unversehens vor der Kombüse wieder. Vielleicht hatte ihn der Hunger ganz automatisch dort hingeführt, obwohl er wußte, daß das Schott besonders nachts immer verrammelt war.

Eine hämische Stimme hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. Er sah nur einen vagen Schatten.

„Na, Mister, du hast wohl die Absicht, ein bißchen zu klauen, was? Aber daraus wird nichts. Wenn du noch einen Schritt weitergehst, dann geht der Kracher in meiner Hand los, und du kriegst ein erbärmliches Begräbnis.“

„Ich habe nicht die Absicht, etwas zu stehlen“, sagte Wister tonlos. „Mich plagen schwere Träume, Sir, und da wollte ich mir einen klaren Kopf verschaffen.“

„Schwere Träume, was?“ höhnte der Schatten. „Du träumst davon, ein bißchen zu räubern. Ich kenne euch Bastarde doch. Ihr seid mit nichts zufrieden. Ihr klaut wie die Raben und seid unberechenbar. Willst du wieder freiwillig unter Deck gehen, oder soll ich dich dem Kapitän melden, Mister?“

Wister war noch nie ein Held gewesen. Er war ein friedlicher Handwerker, der jedem Streit aus dem Wege ging. Er wollte auch nicht unnötig auffallen und im Mittelpunkt stehen.

„Es ging mir wirklich nur um ein bißchen frische Luft, Mister“, sagte er friedlich. „Die Enge da unten ist bedrückend, die Luft abgestanden und schlecht. Lassen Sie mich noch ein paar Augenblicke hier stehen, dann gehe ich wieder.“

„Vorhin hast du noch ‚Sir‘ zu mir gesagt“, erklärte die hämische Stimme. „Jetzt nennst du mich ‚Mister‘. Das ist ein bißchen abwertend gemeint, ich höre das genau heraus. Du willst nicht nur klauen, du suchst auch noch Streit.“

Barry Wister zuckte zusammen. Dieser Kerl wollte ihn ganz offensichtlich provozieren und ein bißchen herumstänkern. Möglicherweise hatte er Langeweile oder war genauso ein hinterhältiger Bastard wie die meisten anderen auf diesem Schiff.

„Ich will niemandem etwas zuleide tun, Sir“, versicherte er. „Wir haben genug Leid zu ertragen. Aber mit Gottes Hilfe werden wir auch das überstehen.“

„Dann mußt du dich bei deinem Gott beschweren und solltest hier nicht herumstänkern“, sagte der Mann höhnisch. „Ihr seid doch alle so gottesfürchtig.“

„Der Herr erlegt uns nur eine Prüfung auf, Sir.“

„Irrtum“, sagte der Kerl kalt. „Der Herr bestraft euch dafür, daß ihr lausige, verklaute Bastarde seid, sonst wäre er gut zu euch.“

Wister verzichtete darauf, sich mit dem Mann anzulegen. Er hatte ihn jetzt trotz der Dunkelheit erkannt. Es war ein Decksmann namens Barlow, ein rücksichtsloser und liederlicher Kerl, der etlichen Siedlern schon Geld beim Spielen abgeknöpft hatte und keineswegs ehrlich spielte, sondern genauso betrog wie sein Kapitän Granville.

„Womöglich haben Sie recht, Sir“, sagte er ausdruckslos. „Die Wege des Herrn sind für uns Sterbliche unerfindlich.“

„Du hättest Prediger werden sollen“, meinte Barlow verächtlich. „Du quasselst genauso dämliches Zeug wie die Kerle auf der ‚Explorer‘, die sich gegenseitig die Ohren vollabern. Und jetzt verschwinde unter Deck, du Bastard, sonst ziehe ich dir eins über den Schädel.“

Der Zimmermann fraß die Demütigungen in sich hinein und gab keine Antwort. Er schluckte und wandte sich ab. Stumm und mit gebeugten Schultern ging er in die muffige Kammer zurück. Dort betete er stumm, daß dieser höllische Törn bald ein Ende haben möge und endlich das heißersehnte Land zu sehen sei.

Darauf mußte er allerdings noch sehr lange warten.

2.

Der nächste Tag begann ähnlich wie alle anderen. Zum Glück war der Atlantik ruhig, nachdem er schon ein paarmal seine Krallen gezeigt hatte.

Der Verband aus drei Pilgerschiffen und der Schebecke der Seewölfe bewegte sich auf einer ruhigen langgezogenen Dünung. Ein paar weit entfernte Wolkenbänke hatten sich in das Himmelsblau geschoben. Ganz achtern, nur als winziger Punkt an der östlichen Kimm zu erkennen, segelte die Karavelle, die dem Verband unbeirrbar folgte. Niemand kümmerte sich mehr um sie. Die Leute hatten mit sich selbst und ihren Sorgen genug zu tun.

Wie immer jeden Morgen lungerten auch diesmal wieder ein paar Kinder in der Nähe der Kombüse herum, wo der feiste Glatzkopf Kelvin Bascott den mitunter ekelerregenden Fraß kochte. Er nannte das großzügig Porridge, obwohl es mit dem Haferbrei kaum noch etwas gemeinsam hatte.

In die sechs Kessel wurde wahllos alles hineingefeuert, was Bascott für richtig hielt. Es gab auch keine Abfälle mehr an Bord, denn die wurden mitverwendet, selbst wenn sie noch so matschig waren.

Ein paar der Kinder und Jugendlichen versuchten immer wieder, sich mit dem gemeinen und tückischen Kerl anzufreunden. Natürlich nur zum Selbstzweck und von der Hoffnung beseelt, daß denn ein Brocken extra für sie abfallen würde. Sie hatten hündische Angst vor ihm, aber sie ließen es sich nicht anmerken, denn ihr Hunger überwog jedes andere Gefühl.

Aber sich mit Bascott anzufreunden, war weitaus schwieriger, als einen Menschenhai zum Bundesgenossen zu haben. Der Glatzkopf war gemein und tückisch, und für Kinder hatte er nichts übrig als bestenfalls ein abfälliges Grinsen oder einen kräftigen Tritt in die Kehrseite. Hin und wieder hatte es auch von ihm schon kräftige Maulschellen gesetzt.

Alles das hielt die Kinder jedoch nicht davon ab, weiterhin in Kombüsennähe herumzulungern und mit hungrigen Augen in den finsteren und verrußten Raum zu starren. Der nagende Hunger ließ ihnen die Gerüche lieblich erscheinen.

Ein zehnjähriges, ausgebufftes Bürschchen hatte bei Bascott Glück gehabt und durfte sich in der Kombüse vollfuttern. Das hatte eine Silbermünze gekostet, die das Bürschchen seinen Eltern stibitzt hatte.

Als der Kleine heute morgen wieder mit hungrigen Blicken auftauchte, jagte Bascott ihn mit derben Flüchen fort und drohte ihm an, ihn zu schlachten und zu Wurst zu verarbeiten. Der Kleine zog heulend und zähneklappernd ab.

Auch Jimmy Wister hatte der nagende Hunger heute zu jener Stelle getrieben, wo gekocht wurde. Der Sohn des Zimmermanns war ein hageres Bürschchen mit ernsten Augen. Er war dreizehn Jahre alt und hatte längst das Lachen verlernt, denn sein Leben war bisher sehr entbehrungsreich verlaufen.

Seine Eltern waren arm, der Vater arbeitslos gewesen, und so hatten sie sich in der größten Not entschlossen, ihre letzte Habe zu verkaufen und vom dem Geld die Passage zu bezahlen. In der Neuen Welt hofften sie, ein besseres Leben führen zu können.

 

Jimmy trug eine knielange, mehrfach geflickte Leinenhose und ein Hemd, das ebenfalls viele Flicken aufwies. Schuhe hatte er nicht, wie die meisten anderen auch, die barfüßig herumliefen. Von März bis Oktober brauche man keine Schuhe, wurde ihm erklärt, und im Winter konnte man zu Hause bleiben, wenn es bitterkalt wurde. Und da brauchte man natürlich erst recht keine Schuhe, weil es in der Stube einigermaßen warm war.

Jimmy starrte an dem Koch vorbei auf den Herd, wo der Dampf aus den Töpfen stieg und sich zum Plafond kräuselte. Jetzt meldete sich der Hunger noch schlimmer bei ihm. Er hielt eine hölzerne Kumme in der Hand und wartete auf seinen Schlag.

Mittlerweile waren auch die Erwachsenen angetreten, um sich ihr Essen abzuholen. Sie blickten scheu auf den Bootsmann Bruce Watts, der wie ein Schießhund darüber wachte, daß sich niemand einen zweiten Schlag abholte oder sich erneut heimlich unter die Leute mischte und sich ein zweites Mal anstellte.

Der Bootsmann war ebenfalls ein rüder Kerl mit einem gewaltigen Stiernacken, einer groben Holzhackervisage und riesigen Händen. Wenn er das Maul aufriß, sah er noch schlimmer und gewalttätiger aus, denn oben fehlten ihm die beiden Schneidezähne. Eine gewaltige Faust schien ihn da einmal erwischt zu haben.

Er betrachtete die Leute finster und bösartig. Nur wenn sein Blick mal auf eine junge Frau fiel, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Dann trat ein unmerkliches Funkeln in seine braunen Augen und ein lüsternes Grinsen erschien auf seiner narbigen Visage.

Bis zur Essensausgabe dauerte es noch eine halbe Stunde. Der feiste Koch ließ sich absichtlich Zeit und trödelte herum, wohl wissend, daß er eine Vormachtstellung hatte, die er auch gründlich ausnutzte. Sie waren ihm ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb, und dementsprechend benahm er sich.

Sein Helfer, ein verschlagener Bursche mit einem kleinen Buckel, schnippelte Pastinaken in den Fraß. Die Wurzeln waren matschig, verdrückt und rochen faulig. Er schnitt auch keine schlechten Stellen heraus. Er zerschnippelte sie mit einem großen Messer auf einer schmierigen Bohle, raffte sie dann zusammen und feuerte sie abwechselnd in die großen Töpfe, aus denen es jedesmal aufspritzte.

„Ob die Herren auf dem Achterdeck das Zeug auch essen?“ fragte ein untersetzter Mann mit Backenbart seinen Nachbarn.

„Ganz sicher“, erwiderte der höhnisch. „Und dazu trinken sie fauliges Wasser, weil es so bekömmlich ist.“

„So sieht der Kapitän auch gerade aus“, sagte der Backenbärtige. „Für ihn wird extra gekocht, und nur vom Besten und Feinsten. Möchte wissen, was der sich an Vorräten heimlich beiseite geschafft hat, während wir hier vor Hunger fast krepieren. Aber damit läßt der feine Herr es ja nicht bewenden. Er betrügt auch noch die Leute beim Würfelspiel und belästigt die Frauen.“

Der andere drehte sich hastig und ziemlich verlegen um. Durch ein Blinzeln gab er dem Backenbärtigen noch schnell ein Zeichen, doch der bemerkte nichts. Er wollte noch etwa hinzufügen, doch dann sah er den Bootsmann Bruce Watts und biß sich auf die Lippen. Der Kerl sah ihm in die Augen und grinste hinterhältig. Er war sich nicht sicher, ob der Bootsmann seine Äußerung gehört hatte.

Er trat vor einen der dampfenden Kübel und hielt seine Kumme hin.

Eine schwielige Faust griff nach seinem Handgelenk und hielt es mit eisernem Griff fest.

„Kein Essen für diesen Kerl“, sagte der Bootsmann zu dem Backschafter, der die Kelle in den Brei tauchte.

Ein paar Leute wichen angstvoll zurück und gingen auf die Seite. Sie wollten damit nichts zu tun haben. In ihren Gesichtern stand Angst.

„Kein Essen, aye, aye“, wiederholte der Backschafter gleichmütig. „Wie Sie meinen, Mister Watts.“

Der Backenbärtige hieß Wintrop und schrumpfte jetzt merklich zusammen. Hart schluckend starrte er auf die Pranke des Bootsmannes, die immer noch sein Handgelenk umklammerte.

„Ich – ich habe Hunger, Sir“, sagte er kleinlaut.

„Aber sicher doch, natürlich hast du Hunger. Aber du wirst heute beim Kapitän speisen, Mister. Ich bin sicher, daß er dich einladen wird, weil du doch so freundlich über ihn gesprochen hast.“ Er riß Wintrop die Kumme aus der Hand, warf sie an Deck und stieß sie mit dem Fuß über die Planken.

„Sir, hier muß ein Mißverständnis vorliegen“, jammerte Wintrop, dessen Angst immer größer wurde.

„Das wird sich gleich herausstellen. Los, ab nach achtern!“

Einige der anderen taten so, als sähen sie nichts. Die Angst, ebenfalls vom Essen ausgeschlossen zu werden, ließ sie so handeln.

Wintrop ging mit schlotternden Knien nach achtern. Der Bootsmann half ein bißchen nach, wenn der Mann zögerte.

Auf dem Achterdeck stand Granville, der Kapitän, ein dicklicher, finsterer Mann, der Wintrop verächtlich musterte. Er lehnte an der Balustrade, die das Achterdeck vom Quarterdeck trennte.

„Was gibt es?“ fragte er scharf.

„Der Kerl hier hat sich sehr lobend über Sie ausgelassen, Sir“, berichtete der Bootsmann. „Natürlich so, daß es auch die anderen alle hören konnten. Er hetzt ein bißchen herum. Dachte, ich sollte das zur Meldung bringen, Sir.“

„Recht so, Mister Watts. Ich höre.“

Auf dem Achterdeck befanden sich außer Granville noch der Erste Offizier Harris, der mit unbeweglichem Gesicht über das Wasser blickte, und der Rudergänger, der so tat, als höre er nichts.

„Dieser Kerl hier“, sagte Watts mit hämischer Schadenfreude, „behauptete ganz unverfroren, Sie, Sir, würden nur das Beste vom Besten zu essen kriegen, und Sie schafften sich heimlich Vorräte zur Seite, während die anderen vor Hunger krepieren. Außerdem würden Sie die Leute beim Würfelspielen betrügen und die Frauen belästigen.“

Auf Granvilles Gesicht erschien ein dünnes, gefährliches Grinsen. Die Augen blieben kalt und ausdruckslos. Er trat von der Balustrade weg und ging zwei Schritte nach vorn.

„Schwere Anschuldigungen, sehr schwere Anschuldigungen, die natürlich an der Wahrheit vorbeigehen. Haben Sie Beweise dafür, daß ich Vorräte heimlich beiseite schaffen lasse, Mister? Wie war doch gleich Ihr ehrenwerter Name?“

„Wintrop, Sir“, erwiderte der Mann, an allen Gliedern zitternd. „Nein, natürlich nicht, Sir, ich wollte das auch gar nicht sagen. Es war nur so dahingeredet.“

Granville sah, daß der Mann hündische Angst vor einer Bestrafung hatte und immer mehr in sich zusammenkroch wie ein Hund, der Prügel zu erwarten hatte. Sein Grinsen wurde impertinent.

„Aber, mein Bester“, sagte er jovial. „Man kann doch nicht einfach so daherreden und andere verleumden. Sie untergraben nicht nur meine Autorität, sondern beleidigen mich auf unverschämteste Art und Weise. In Ihren Augen bin ich ein Betrüger, ein Sittenstrolch und Dieb. Halten Sie diese Anschuldigungen auch weiterhin aufrecht?“

Wintrop schüttelte schnell den Kopf.

„Nein, Sir, ganz gewiß nicht. Es ist mir so herausgerutscht. Ich bitte um Verzeihung, Sir.“

„Sie stehen also nicht zu Ihrem Wort, Mister. Was sind Sie nur für ein erbärmlicher Knecht! Erst behaupten Sie von mir alles Mögliche, und dann ziehen Sie alles wieder zurück. Sie werden doch hoffentlich verstehen, daß ich das nicht so einfach hinnehmen kann. Da nutzt auch Ihre Entschuldigung nichts. Ein anderer Kapitän, der kein Verständnis für Ihre nicht gerade einfache Situation hat, der hätte Sie jetzt nach einer kurzen Anhörung an die Rah gehängt.“

Granville ließ die Worte erst einmal wirken. Sie wirkten auch, denn Wintrop zitterte noch heftiger, und Schweiß stand in dicken Perlen auf seiner Stirn. Seine Blicke irrten unstet hin und her.

„Aber ich will Ihnen noch einmal vergeben, Mister. Daß die Anschuldigungen völlig haltlos sind, das weiß hier jeder. Sie stehen jedoch nicht zu Ihrem Wort und sind ein Feigling.“

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