Seewölfe - Piraten der Weltmeere 198

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 198
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-534-7

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

An der Ostspitze der Känguruhinsel, nur ein paar Meilen von Australien entfernt, lag in einer versteckten, fast unzugänglichen Bucht ein merkwürdiges Schiff.

In der Form ähnelte es einer schwedischen Kravel, nur der Bug war etwas schlanker, fast dünn gebaut.

Am Heck stand verwaschen, dunkel auf dunklem Grund und kaum leserlich der Name „sin nombre“, was soviel bedeutete wie „Schiff ohne Namen“.

Selbst aus einer Entfernung von nur einer Kabellänge war das Schiff kaum zu erkennen, denn es schien von Dickicht und Mangroven überwuchert zu sein und war scheinbar zu einem festen Bestandteil der Landschaft geworden, in die es sich integriert hatte.

Das stehende Gut, Stagen, Wanten und Pardunen, war kunstvoll mit dürren Lianen, Luftwurzeln der Mangroven, Zweigen und Ästen verflochten.

Ein Wrack also, das der Küstenstrich gefressen und überwuchert hatte, so schien es auf den ersten Blick. Die Kravel sah verkommen, verschmutzt und verwahrlost aus, und niemand hätte geglaubt, sie sei noch seetüchtig.

Das Gegenteil war der Fall, denn das Schiff lag auf der Lauer, und die Mannschaft besserte im Schutz der Bucht die Schäden aus, die vom letzten Gefecht mit einem Spanier stammten, den der Sturm bis weit in den Süden Australiens verschlagen hatte.

Die spanische Dreimastgaleone war entkommen, und die Piraten der „sin nombre“ hatten das Nachsehen gehabt und eine Menge Blessuren davongetragen.

Während die Sonne heiß herabbrannte, schufteten acht halbnackte Männer im Schweiße ihres Angesichts, zogen vier neue Decksplanken ein, besserten den Besan aus und überdeckten die Schäden am Rumpf.

Ein anderer Mann stand am Großmast, als wäre er dort angenagelt. Seine Hände waren um den Mast gebunden, ein Strick hielt seinen Hals am Mast fest, und ein weiteres dünnes Tau war um seine Beine verknotet.

Der Mann konnte sich kaum bewegen, er war bestenfalls in der Lage, seine Blicke nach rechts oder nach links wandern zu lassen.

Niemand kümmerte sich um ihn, und wenn einer dicht an ihm vorbeiging und er leise um Wasser bat, so hörte es keiner.

Seit zwei Tagen stand er da, braungebrannt mit nacktem Oberkörper und nur einer wadenlangen Leinenhose bekleidet.

„Wasser – nur einen Schluck“, bettelte er flüsternd, und in seinen Augen lag ein unsteter, irrender Blick, als er den Mann vor sich anschaute.

Der Mann vor ihm, der ihn gleichgültig ansah, sah fürchterlich aus. Auch er hatte, wie das Schiff, keinen Namen, er wurde nur der Schwarze Pirat genannt – oder Kapitän. Er war sechs Fuß groß, breit und stark und hatte fast pechschwarzes langes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Wegen der Hitze trug er ein zusammengewundenes rotes Tuch um seinen Kopf. Auch sein Oberkörper war nackt. Wenn er sich bewegte, spielten die Muskeln an seinen Oberarmen. Seine dunkelblaue Leinenhose wurde von einem breiten Ledergürtel gehalten, in dem zwei Pistolen steckten. Ein langes breites Messer steckte in einer Lederscheide an seiner rechten Hüfte.

„Du sollst dein Maul halten und nicht wie ein Hund winseln“, sagte der Schwarze Pirat gleichgültig. „Du kriegst kein Wasser, du weißt ja, warum.“

„Es war nicht meine Schuld, Kapitän. Du weißt das genau.“

Der Schwarze Pirat wandte ihm jetzt das Gesicht voll zu, und der Mann am Mast begann krampfhaft zu schlucken, denn er blickte in eine Fratze, die der Teufel persönlich geschaffen hatte. Das war, weiß Gott, kein menschliches Gesicht mehr, dachte er schaudernd, obwohl er es schon lange kannte und auch die Geschichte dazu. Doch dieses Gesicht flößte ihm immer wieder aufs neue Angst ein.

Vor vier Jahren hatte jener Mann, den sie den Schwarzen Piraten nannten, einen Brander gesteuert, auf dem etliche Fässer voller Schießpulver standen. Als er den Brander ins Ziel steuern wollte, traf ihn ein Schuß in die linke Schulter, der ihn so lähmte, daß er nicht mehr rechtzeitig das brennende Schiff verlassen konnte.

Da ging das erste Faß Schießpulver hoch und verwandelte den Brander in eine lichterloh brennende Fakkel. Das hochgehende Schießpulver löste eine Kettenreaktion aus, und auch die anderen Fässer flogen in die Luft.

Eine grelle Stichflamme schoß dem Schwarzen Piraten ins Gesicht und verbrannte die Haut. Seitdem hatte er keine Augenbrauen mehr, keine Wimpern, Lippen, die übergangslos in die Haut übergingen, und eine Nase, die so aussah, als wäre sie nicht mehr fertig geworden.

Seit jener Zeit war sein Gesicht schwarz, narbig und von unzähligen Wunden entstellt. Kein Feldscher, Knochenbrecher oder umherziehender Wunderheiler hatte es geschafft, ihm sein früheres Aussehen auch nur annähernd wiederzugeben.

Mit der Verwandlung seines Gesichtes hatte sich auch sein Charakter zum Schlechten geändert. Er war ein unberechenbarer, grausamer, heimtückischer und haßerfüllter Mann geworden.

„Kapitän!“ bat der an den Mast gefesselte Mann noch einmal.

Der Schwarze Pirat ging an ihm vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Er drehte sich um und sah zu dem riesigen Eukalyptusbaum hinüber, der hinter der Bucht stand. Der Baum war annähernd achtzig Yards hoch. Fast in seiner Spitze hockte ein weiterer Pirat als Ausguck, der von der Insel aus einen Blick weit über das Meer hatte.

Kein Schiff konnte sich der Känguruhinsel unbemerkt nähern. Der Ausguck sah es schon aus einer Entfernung von mehr als zwanzig Meilen. Doch es war auch nicht sehr wahrscheinlich, daß sich ein Schiff in diese Gegend verirrte, es sei denn, es wäre vom Kurs abgekommen oder hätte sich versegelt wie jener Spanier, der ihnen eine Breitseite verpaßt hatte und dann geflüchtet war.

Das hatte der Mann am Mast verschuldet, der als Rudergänger fungierte, jedenfalls nach Ansicht des Schwarzen Piraten. Er hatte dem anderen unklugerweise die Luvposition überlassen, und damit hatte die „sin nombre“ ihren anfänglichen Vorteil verspielt und die Breitseite des Spaniers schlucken müssen.

Die Beute war entwischt, eine leichte Beute, wie sie alle gehofft hatten, und dazu gesellte sich die Schmach der Niederlage.

Mehr als eine Woche Aufenthalt kostete es, um das Schiff wieder instandzusetzen. Um unvorhersehbare Zwischenfälle künftig zu vermeiden, war die „sin nombre“ so gut getarnt worden.

Diese Bucht und die Tarnung boten aber noch einen weiteren strategischen Vorteil. Sollte wirklich ein fremdes Schiff hier aufkreuzen, dann würde es an der Bucht vorbeisegeln müssen und somit in den Bereich der zwanzig Siebzehn-Pfünder gelangen, die auf der Backbordseite feuerbereit standen. Die Culverinen waren ausgerannt und jederzeit feuerbereit. Außerdem waren sie so vorzüglich getarnt, daß man sie erst sah, wenn sie Rauch und Feuer spien.

Der Schwarze Pirat überzeugte sich durch den Kieker, daß der Mann im Eukalyptusbaum Ausguck hielt, dann schob er den Kieker wieder zusammen und wandte sich an einen hageren Burschen, dem der Schweiß in Strömen vom Körper rann und der gerade damit beschäftigt war, eine der neuen Decksplanken zu kalfatern.

„Drei Stunden sind um“, sagte er. „Du kannst den Kerl da oben jetzt ablösen, Chico. Und halte deine verdammten Klüsen offen, sonst holt dich der Teufel!“

„Aye, Kapitän. Mir entgeht nichts. Was geschieht nun mit Pedro? Ich meine, sollen wir ihn hängen?“

Er deutete auf den Mann am Mast, der dumpf vor sich hinstarrte und apathisch in seinen Fesseln hing.

„Hängen, Chico? Nein, ich glaube nicht, ich werde mir das noch überlegen. Er soll noch ein bißchen austrocknen, dann werden wir ihn zum Teufel jagen.“

„Aussetzen, Kapitän?“ fragte Chico, ein kleiner, drahtiger Kerl, der dem Schwarzen Piraten bis knapp an das Brustbein reichte.

„Geh jetzt auf deinen Posten, verdammt, und überlaß das Denken mir!“

Der Drahtige verschwand nach einem Kopfnicken. Sie alle würden über das Schicksal von Pedro entscheiden, das wußte er, sie hielten sich an die Gesetze, die an Bord galten, und nach denen der Kapitän in solchen Angelegenheiten nicht allein entschied. Ein jeder hatte sein Mitspracherecht, wie es das Gesetz der Piraterie vorschrieb, obwohl der Schwarze Pirat das letzte Wort hatte.

Das hatte auf der „sin nombre“ schon immer gegolten. Selbst der Schwarze Pirat war absetzbar, doch dazu hatte bis jetzt noch keiner den Mut aufgebracht, und es hatte auch keinen Grund dazu gegeben.

Der Schwarze Pirat sah dem Mann nach, der das Schiff verließ, sich seinen Weg durch das Dickicht bahnte, bis er den Eukalyptusbaum erreichte, und dann einen Pfiff ausstieß. Daraufhin enterte der Ausguck ab, und Chico übernahm seinen Posten in schwindelnder Höhe.

Die Arbeit ging weiter, unter Fluchen und Ächzen, und mehr als einmal traf den Mann am Mast, der ihnen das alles eingebrockt hatte, ein gehässiger Blick.

 

Pedro ahnte, daß man ihn hängen würde und dieser bunt zusammengewürfelte Haufen wüster Kerle gar nicht daran dachte, ihm Pardon zu gewähren. Sie suchten einen Sündenbock, und sie hatten ihn gefunden.

Immer noch rann ihm der Schweiß über den Körper, die Stricke und Taue brannten und scheuerten auf seiner Haut, und vor seinen Augen tanzten feurige Kreise.

Der Durst ließ ihn fast wahnsinnig werden. Er schloß jedesmal entsagungsvoll die Augen, wenn einer der Kerle die Kelle ergriff, sie in das Wasserfaß tauchte und geräuschvoll schlürfend trank.

Die Brühe war warm, denn den ganzen Tag lang schien die Sonne auf das Faß und heizte es auf. Aber ein einziger Schluck nur weckte alle Lebensgeister, auch wenn er noch so warm war.

Mitunter vergoß einer der Kerle absichtlich etwas, und Pedro hätte sich am liebsten auf die schnell verdunstende Lache gestürzt, doch die Stricke hielten ihn fest, er konnte sich nicht bewegen.

Keiner seiner Kumpane half ihm. Die Kerle, mit denen er gezecht, gewürfelt und gespielt hatte, starrten ihn nur verächtlich an oder grinsten hinterhältig, wenn sie an ihm vorbeigingen. Ab und zu empfing er auch einen Tritt, oder jemand spie ihm auf die Hose.

Erbarmungslos brannte die Sonne, die seine Augenlider aufquellen ließ, seine Lippen ausdörrte und seinen Körper marterte.

Den ganzen Tag über blieb er so stehen, zur Bewegungslosigkeit verdammt, hungernd und durstend. Hin und wieder rutschte er in den Strikken zusammen und hing schlaff am Mast, bis ihn wieder Geräusche oder Gelächter weckten.

Dann sank die Dämmerung über die Insel, und die Arbeit wurde eingestellt. Als es dunkel wurde, erschienen die kleinen Pinguine, die es hier zu Hunderten gab. Sie watschelten durch die leichte Brandung, rannten über den Strand und verschwanden in ihren gebuddelten Nestern, ohne von den Menschen Notiz zu nehmen.

In der Nacht kühlte es etwas ab, das war die einzige Erfrischung, die Pedro hatte.

Aber der quälende Durst blieb, er wurde noch schlimmer, und dann war da die bange Frage, was ihn erwartete, und die jämmerliche Angst, von den wilden Gesellen gehängt zu werden.

„Morgen“, sagte der Schwarze Pirat zu ihm, „morgen kriegst du einen anständigen Prozeß, wie es das Bordgesetz vorschreibt.“

„Und einen langen Hals“, setzte der Bootsmann hinzu. „Dann siehst du aus wie eine Giraffe!“

Sie lachten und ließen ihn stehen.

Der „Prozeß“ war eine Farce, nicht mehr als ein jämmerliches Possenspiel, aber alle gaben sich ihm mit großem Ernst hin und versuchten, den Anschein von Autorität zu erwecken.

Dazu trugen sie bunte Fetzen, Sonnenhüte oder Kopftücher und schnitten grimmige Gesichter.

Die Mannschaft setzte sich aus Kreolen, Spaniern, zwei Franzosen und einem Indonesier zusammen. Ihr Jagdrevier reichte von Indonesien bis Melanesien, wo sie Kauffahrer aufgebracht, ausgeplündert und versenkt hatten. Auch die Küste war vor ihnen nicht sicher gewesen.

In einem Halbkreis hockten sie vor dem Mast, der Bootsmann spielte den Staatsanwalt, die Rolle des Richters hatte der Schwarze Pirat übernommen, und den Verteidiger mimte der schwerhörige Kreole, den sie allgemein nur Mac Bottle nannten, weil er spanischen Rotwein gleich gallonenweise in sich hineinsoff.

Das anfängliche Grinsen legte sich rasch, als der Bootsmann die Hand hob und den „Prozeß“ eröffnete. Dazu stieß er einen Belegnagel anstelle eines Amtsstabes dreimal in die Luft.

„Die Verhandlung ist eröffnet, Mylord!“ sagte er laut.

Vor Pedros Augen drehte sich alles im Kreis. Sein Gaumen war ausgedörrt und brannte, alle Knochen taten ihm weh. Die Gestalten vor ihm auf dem Deck tanzten auf und ab, schienen schräg in den Himmel zu schweben und fielen langsam wieder zurück.

Der Schwarze Pirat nickte und verschränkte die Arme über der Brust. Sein schwarzverbranntes Gesicht war ausdruckslos auf den Gefangenen gerichtet.

„Seht euch diesen Schurken an, ihr Herren Geschworenen“, sagte der Bootsmann. „Er ist der unfähigste Kerl, der je die Meere befuhr, und er hat uns um gerechten Lohn und fette Beute gebracht. Er ist vor dem Spanier ausgekniffen, weil er Angst hatte, und deshalb hat er das Schiff in höchste Gefahr gebracht.“

„Das stimmt nicht!“ schrie Pedro, als es vor seinen Augen wieder heller wurde. „Ich konnte nichts dafür, der Don war schneller als wir.“

„Hör zu, du lausiger Hund“, donnerte der Bootsmann. „Wenn du nicht unverzüglich an der Rah baumeln willst, dann bekenne, daß du schuldig bist! Bekenne endlich!“

„Nicht schuldig, Sir“, stammelte Pedro, der sich im Geist schon an der Großrah baumeln sah.

„Nicht schuldig“, höhnte der Bootsmann. „Du hast nur erbärmliche Angst vorm Galgen. Was sagen die Herren Geschworenen?“

„Schuldig, schuldig!“ brüllten sie wild durcheinander. Eine wilde Diskussion begann, und jeder redete auf jeden ein. Die übelsten Schimpfwörter flogen dem Angeklagten an den Kopf, Fäuste wurden drohend geschüttelt, bis der Bootsmann Einhalt gebot.

„Was sagt der ehrenwerte Herr Verteidiger?“ fragte er grinsend und wies mit der Hand auf den Kreolen.

Mac Bottle wußte wohl, um was es ging, aber er hatte kein einziges Wort verstanden und legte fragend die Hand hinter das Ohr.

„Hä?“ fragte er laut.

„Du sollst ihn verteidigen, du taube Sau!“ brüllte der Bootsmann. „Hast du das gefressen?“

„Wann gibt’s was zu essen?“ fragte der Kreole.

Sogar der Schwarze Pirat begann laut zu lachen. Wenn er die hautlosen Lippen verzog, sah er noch schlimmer aus.

„Die Verteidigung hat keinen Einspruch erhoben“, sagte der Bootsmann, nachdem das Gelächter verstummt war. „Der Angeklagte ist in allen Punkten schuldig, Mylord! Er ist ein Halunke, ein Schuft, ein Schlagetot und ein Feigling, der seine Kameraden betrogen hat. Ich pläd … äh, ich plärre dafür, daß man ihn am Hals aufhängt, und zwar so lange, bis er mausetot ist.“

Die „Geschworenen“ klatschten laut Beifall und nickten beifällig.

„Bis er mausetot ist!“ brüllten sie.

Pedro wechselte die Farbe und schickte einen hilfeflehenden Blick in die Runde, doch überall stieß er auf eisige Ablehnung. Sie wollten ihn hängen, das sah er an ihren verkniffenen und erwartungsvollen Gesichtern.

So sehr diese Scheinverhandlung auch spaßig sein mochte, so sah er doch den Ernst dahinter und die unverkennbare Absicht, ihn aus dieser Welt zu schaffen, und das ging ihrer Ansicht nach nur mit einem Tau, das von einer Rah baumelte.

Er sah zum Kapitän hin, dessen verbranntes und zernarbtes Gesicht wieder völlig ausdruckslos war. Vor langer Zeit hatte er ihm mal einen Dienst erwiesen und ihm das Leben gerettet. Würde der Schwarze Pirat sich noch daran erinnern?

In seine Augen trat nackte Angst, als sich der schwarzhaarige Mann von den Planken erhob.

Sehr ruhig fragte er: „Hast du noch ein paar Pluspunkte vorzuweisen?“

„Mylord! Ich habe immer ehrlich geteilt“, sagte Pedro verbissen. „Ich habe gekämpft wie jeder andere auch, und ich habe manchen braven Mann vor dem Tod bewahrt. Ich habe niemanden im Stich gelassen, oder der Teufel soll mich lotweise holen. Ich konnte das Schiff nicht halten, der Spanier war schneller.“

„Willst du um dein Leben betteln?“

„Ja, Mylord, ich bitte darum. Es ist nicht richtig, wenn man mich deswegen hängt. Es würde Euer Gewissen belasten, Mylord.“

Der Schwarze Pirat lachte laut.

„Mein Gewissen?“ fragte er. „Das ist damals mit dem Brander und dem Schießpulver über Bord geflogen. Das kann mich nicht belasten.“

„Gewährt mir Pardon, Mylord!“ rief Pedro.

„Du hast ein Galgenvogelgesicht“, sagte der Schwarze Pirat. „Schon darum müßte man dich hängen. Aber du hast trotzdem etwas gut. Du weißt, was ich meine, und die Herren Geschworenen wissen es auch. Also lasse ich als höchster Richter noch einmal Gnade ergehen.“

Lautes Murren ertönte, Flüche schallten über Deck, wieder brüllten die bunt zusammengewürfelten Kerle wüst durcheinander.

„Ich verkünde das Urteil!“ rief der Schwarze Pirat, nahm den Belegnagel und klopfte damit dreimal gegen den Mast, an den der Gefangene immer noch gebunden war.

Daraufhin herrschte Stille, nur Mac Bottle kratzte sich den Schädel so laut, daß es jeder hören konnte. Dabei hatte er immer noch kein einziges Wort verstanden und wußte nicht, ob man Pedro hängen oder zum Teufel jagen würde.

„Der Angeklagte wird von achtern nach vorn getrieben. Dann wird er ausgesetzt und ist vogelfrei. Wagt jemand gegen dieses Urteil einen Einspruch?“

Die Männer tuschelten erregt miteinander. Schließlich meldete sich der Bootsmann zu Wort.

„Kein Einspruch, Mylord.“

„Dann wird das Urteil sofort vollstreckt. Bewaffnet euch mit Tampen und Leinen und bindet ihn los. Bringt ihn nach achtern!“

Damit löste sich die Versammlung auf. Jeder ergriff ein Tauende und schlang es sich um die Hand.

Ausgesetzt! dachte Pedro wie betäubt. Das war eine harte und sehr grausame Strafe, aber es war immer noch besser, als am Halse aufgehängt zu werden. Nur durfte er sich nie mehr in der Nähe des Schiffes blikken lassen, solange es an der Insel lag. Erwischten sie ihn, dann konnten sie ihn abknallen wie einen räudigen Hund. Wie er die Kerle kannte, würden sie sich ein Vergnügen daraus bereiten, ihn über die ganze Insel zu jagen.

Das war also ein indirektes Todesurteil.

Die Treibjagd auf dem Schiff würde er überstehen, die war nicht so schlimm. Und als Ausgesetzter mußte er sich dann so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.

Sie banden ihn los und brachten ihn nach achtern. Er durfte sich nicht zur Wehr setzen, denn dann würden sie keine Gnade kennen. Widerstandslos nahm er Aufstellung und sah die lauernden Gestalten an Deck wie durch einen Schleier.

Er wartete auf das Kommando, das der Schwarze Pirat gleich geben würde.

Auf Backbord und Steuerbord hatte die gesamte Crew nun Aufstellung genommen und eine Gasse gebildet, durch die er hindurch mußte. Er durfte auch nicht laufen, sondern mußte ganz normal gehen, damit jeder ihm mit dem Tauende eins überziehen konnte.

Sie grinsten schon erwartungsvoll und hatten die Tampen in ihren Fäusten erhoben.

„Bewege dich nach vorn!“ rief der Schwarze Pirat.

Pedro gehorchte und spannte alle Muskeln an, als er sich langsam in Bewegung setzte.

Er ging wie in einem Fiebertraum und erreichte die Gasse. Fast automatisch wollte er rennen, um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, und es kostete ihn gewaltige Anstrengung ganz normal zu gehen.

Er sah verschwommene Gesichter um sich herum, sah eine erhobene Hand und spürte den Schmerz, als ihm der erste Tampen ins Kreuz schlug. Der zweite traf seine Beine, ein dritter klatschte ihm brennend ins Genick, und er geriet ins Stolpern.

Schnell raffte er sich unter Schmerzen auf und ging weiter, alle Muskeln angespannt, jeden Augenblick den nächsten Schlag erwartend.

Die Hiebe prasselten auf ihn ein, und immer noch war die Gasse nicht zu Ende.

Sie schlugen nicht nur einmal, sie ließen ihre Tampen blitzschnell durch die Luft sausen, und von so manchem empfing er vier oder fünf Hiebe.

„Feigling!“ hörte er sie brüllen und johlen. „Elende Landratte! Verfluchter Bastard! Nimm das! Und das! Und das!“

Von links, von rechts, von vorn und hinten klatschten die Tampen auf sein Kreuz, auf seine Brust, und jeder Hieb brannte teuflisch.

Dann hatte er den größten Teil der Gasse hinter sich und kroch den Niedergang zur Back hoch.

Dort trafen ihn unter hämischem Gelächter die letzten Hiebe.

Er sank auf die Knie und blieb eine Weile benommen und von wilden Schmerzen erfüllt liegen.

Erst viel später richtete er sich ächzend auf. Er fühlte sich gemartert und zerschunden, gequält und gefoltert, aber er hatte noch sein Leben – und seinen Haß auf die Kerle.

„Du wirst jetzt ausgesetzt“, erklärte der Schwarze Pirat. Dann wandte er sich an die anderen. „Gebt ihm eine Muck voll Wasser!“

Pedro hörte und sah kaum etwas. Als ihm jemand die Kelle an die aufgequollenen Lippen hielt, trank er gierig. Dann stützte er sich erschöpft auf den Handlauf des Schanzkleides.

„Bringt einen Korb!“ befahl der Schwarze Pirat weiter. „Tut in den Korb eine Handvoll Zwieback, eine Handvoll Dörrobst, Flint und Feuerstein und eine Lunte.“

Er zögerte, sah aus seinem zerklüfteten Gesicht den Ausgesetzten an und hob die Schultern.

 

„Er kriegt auch eine Muskete und etwas Schießpulver. Und gebt ihm auch sein Messer zurück!“

„Das ist zuviel, Kapitän“, maulte ein baumlanger dürrer Kerl mit einem Geiergesicht. „Mit der Muskete knallt er uns später noch ab, damit bin ich nicht einverstanden.“

„Keine Muskete!“ riefen auch ein paar andere.

Der Schwarze Pirat schnellte vor. Ein Panthersatz brachte ihn in die Nähe des Langen mit dem Geiergesicht.

Ein unglaublich harter Schlag riß den Mann von den Beinen. Es geschah so schnell, daß niemand den Schlag sah.

Der Geiergesichtige hob sich ein Stück von den Planken, dann schleuderte es ihn davon. Er drehte sich um seine eigene Achse und blieb bewußtlos am Schanzkleid liegen.

„Wirklich keine Muskete?“ fragte der Schwarze Pirat sanft.

Der Koch brachte sie in aller Eile, dazu ein kleines Pulverhorn und ein paar Bleikugeln. Dann zog er sich rasch zurück.

„Nimm das Zeug!“ herrschte der Kapitän den Mann an. „Und jetzt verschwinde! Wenn dich jemand in der Nähe des Schiffes sieht, hat er freies Feuer. Du bist von nun an vogelfrei.“

„Jetzt schon?“ fragte Pedro unter Schmerzen.

„Sobald es zweimal geglast hat, in einer Stunde also. Hüte dich, einem der Männer zu begegnen! Und nun geh!“

Niedergeschlagen stand er da, hängte sich die schwere Muskete über die wie Feuer brennende Schulter, nahm den geflochtenen Weidenkorb mit den wenigen Utensilien und steckte sein Messer in den Gürtel.

Jetzt hatte er nur noch eine Hose, ein teilweise zerfetztes Hemd und seine Schuhe. Das war alles, was er auf dem Leib trug.

„Ich danke dir, Kapitän“, sagte er leise.

Er erhielt keine Antwort mehr. Der Schwarze Pirat sah an ihm vorbei und wartete, bis er über die ausgelegte Planke das Schiff verließ.

Auch keiner der anderen sagte etwas. Schweigend wie eine Mauer standen sie da, die Tampen teilweise noch in den Fäusten.

In manchen Gesichtern las er die Freude an der Jagd, denn daß sie ihn quer über die Insel jagen würden, das war ganz sicher.

Einige andere blickten mehr nachdenklich. Aber auch sie hatten kein Mitleid mit ihm. Vielleicht dachten sie in diesem Augenblick an sich selbst und daß auch ihnen eines Tages das gleiche ungewisse Schicksal bevorstehen konnte.

Ausgesetzt! dachte er wie betäubt, als er auf dem Boden stand.

Er drehte sich nicht mehr um, ging in schnurgerader Richtung von dem Schiff fort, verschwand zwischen den Büschen und schlug erst dann einen Haken nach links, als sie ihn nicht mehr sahen.

Etwas später wechselte er noch einmal die Richtung und ging mit schnellen Schritten nach Nordosten.

Dort gab es Felsen, ein ganzes Labyrinth, dort konnte er sich verstekken, wenn sie die Jagd begannen.

Eine knappe Stunde später hörte er aus weiter Ferne die Schiffsglocke zweimal glasen.

Von nun an war er vogelfrei.

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