Seewölfe Paket 6

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8.

Im Morgengrauen erreichte Sabreras die Küste. Das Ufer war felsig und steil, wie drohend ragten die wuchtigen Steinmauern in den Himmel.

Er hatte ausreichend zu essen und zu trinken, eine Waffe und Munition, und allein die prunkvolle Krone der Chibcha-Indianer machte ihn zu einem beneidenswert reichen Mann. Nur eins fehlte ihm an Bord des einmastigen Bootes: die Navigationsinstrumente.

Er wußte nicht, wo er war. In der Nähe von Panama auf keinen Fall, dachte er, dort wäre ich frühestens am Abend des heutigen Tages gelandet.

Andererseits war er aber sicher, das Festland vor sich zu haben, keine Insel. Er konnte es sich nur so erklären: Er war weiter nach Norden abgetrieben worden, als er dachte. Jetzt befand er sich westlich von Punta Mariato oder gar im Golf von Chiriqui – oder möglicherweise noch weiter westlich versetzt.

„Wie auch immer“, sagte er leise. „Es hat keinen Zweck, Panama mit dem Boot erreichen zu wollen. Ich muß landen und mich dann nach Osten wenden. Killigrew und Siri-Tong – das alles werdet ihr mir büßen. De Vargas, Mangusto und alle anderen von der ‚Esperanza‘ – ich werde euch hetzen lassen wie tolle Hunde.“

Als er dicht unter Land war, mußte er aufpassen, nicht von den Brandungswellen erfaßt und gegen die Felsen geworfen zu werden. Das Boot wäre zertrümmert worden.

So lavierte er hart am Ufer entlang und forschte nach einem Landeplatz. Aber seine Bemühungen fruchteten nichts. Das Felsenland war schroff und abweisend, es wollte ihn nicht. Nirgends gab es den schmalsten Einlaß, es war wie verhext.

Die Sonne kletterte höher und gewann an Macht. Ihre Strahlen setzten ihm zu und trieben, ihm den Schweiß aufs Gesicht und auf den Leib. Er begann zu fluchen. War denn alles gegen ihn?

Er spielte schon mit dem Gedanken, nur das Notdürftigste an seinem Gurt festzuschnallen, ins Wasser zu springen und das Boot aufzugeben. Nur eine Überlegung hielt ihn davon ab. Wenn er am Ufer war, was sollte er dann tun? Klettern? Die Wände waren zu steil, und er hatte keine Übung als Bergsteiger. An den Klippfelsen entlangstolpern also? So war er jedem, der von See aus auftauchte, schutz- und deckungslos ausgeliefert.

Und es bestand ja immer noch die Möglichkeit, daß der Seewolf, dieser hartnäckigste aller englischen Korsaren, nach ihm suchte.

Endlich fand er einen Landeplatz.

Ein kegelförmiger Einlaß, den man leicht übersehen konnte, öffnete sich zu einer Grotte hin. Sabreras steuerte vorsichtig darauf zu, nahm die Segel und schließlich sogar den Mast weg, damit er hineinkonnte.

Dann schob er sich mit dem Boot in das Innerste der Wasserkaverne.

Ein bläulicher Lichtschimmer empfing ihn. Hier schwappte und schmatzte das Wasser hohl und widerhallend wie ein fremdartiges Element. Staunend blickte der Kommandant sich um. Je weiter er geriet, desto intensiver wurde das Blau. Hoch schob sich die Grotte empor, er konnte kaum ihre Decke erkennen. Er befand sich in einem regelrechten Felsentempel. Etwas Unheimliches, Beängstigendes haftete dem Platz an.

Einen Ausgang zum Land hin schien es nicht zu geben.

Enttäuscht wollte Sabreras wieder umkehren. Welchen Zweck hatte es, wenn er hier festmachte? Er griff zu den Riemen. Plötzlich hatte er es eilig, wieder das offene Wasser zu erreichen.

Aber da wandte er noch einmal den Kopf und schaute nach links. In dem blauen Schillern des Gesteins war doch eine Unterbrechung. Ein Gebilde, das zu untersuchen sich gewiß lohnte.

Und noch etwas veranlaßte ihn zum Bleiben. Als er sich umdrehte und durch die spitzkegelige Passage spähte, gewahrte er weit draußen auf See zwei Erscheinungen.

Erscheinungen? Er verharrte nur ein paar Minuten und erkannte dann, daß es sich um große Segler handelte. Er hatte ein Spektiv bei sich, das nahm er jetzt zur Hand und hob es ans Auge.

„Madre de Dios“, flüsterte er. „Das sind ja – die ‚Isabella‘ des Seewolfs und das schwarze Schiff der Roten Korsarin! Ihr verfluchtes Pack, die Pest und die Pocken sollen euch dahinraffen!“

Wie sie ihm hatten folgen können, war ihm nicht klar, aber unbewußt begriff er, daß auch dieser Umstand mit den Meuterern von der „Esperanza“ zu tun hatte. Doch er sann nicht weiter darüber nach.

„Wichtig ist nur eins“, sagte er sich. „Daß du so schnell wie möglich in den Felsen aufsteigst und dich zum Binnenland hin absetzt!“

Er pullte das Boot zu dem schmalen Streifen Kieselstrand, der sich in dem blauen Licht abzeichnete. Knirschend schob sich der Rumpf darauf. Noch ein Blick aufs Meer, und er stellte fest, daß die Umrisse der Schiffe an der westlichen Kimm schon wesentlich größer geworden waren. Sie fuhren unter voller Besegelung und hatten den Wind raumschots.

Er raffte seine Habseligkeiten zusammen – den Jutesack mit der Krone der Chibchas und dem anderen Smaragdschmuck, den er aus der Mine gerettet hatte, die Ledermappe mit den wichtigen Dokumenten für den Gouverneur von Panama, Proviant, den letzten Schlauch mit Trinkwasser sowie Munition für die Radschloßpistole.

So hastete er auf das zu, was er vorher als „Gebilde“ im Gestein identifiziert hatte. Und tatsächlich, es entpuppte sich als Einstieg. Eine richtige Treppe führte auf verschlungenem Weg aus der blauen Grotte nach oben.

Er stieg sie hoch. Wer hatte diese Stufen in den Felsen gehauen? Die Grotte mochte in Jahrtausenden oder Jahrmillionen vom Seewasser in die Klippen gewaschen worden sein, und vielleicht rührte auch das eigenartige blaue Licht von einem Naturphänomen her. Sabreras hatte davon gehört, daß solche Effekte entstanden, wenn Sonnenstrahlen sich in mineralischen Formationen brachen. Aber diese Treppe konnte nur Menschenhand geschaffen haben.

Indianer vielleicht.

Es gab Hunderte von alten Kulturen in diesem Kontinent. Die Mayas, Azteken, Cuna, Chibcha, Inkas waren nur einige von ihnen gewesen. Wenn aber wirklich Rothäute diesen Ausstieg in die oberen Felsenregionen gehauen hatten, dann war es eine Ironie, denn ausgerechnet ihm, Sabreras, dem India-nerhasser, retteten sie jetzt das Leben.

Er mußte darüber lachen.

Sein Lachen hallte von den Wänden wider, es klang unheimlich. Der Ort schien verwunschen zu sein. Selbst das Tappen seiner Stiefelsohlen auf den Stufen klang ungewöhnlich hell und fast absonderlich.

Beirren ließ er sich aber nicht. Als er das ungebrochene Sonnenlicht über sich sah, kicherte er vor Freude. Die seltsame Wendeltreppe war zu Ende. Er stürmte die letzten Stufen hoch und taumelte ins Freie.

Er befand sich jetzt hoch über der See. Wind zerzauste seine Haare und zerrte an seiner Kleidung. Die „Isabella“ und den schwarzen Segler konnte er von hier aus nicht sehen, weil er schon zu viele Felsen im Blickfeld hatte, aber er kümmerte sich auch nicht mehr um die Gegner. Ohne noch einen Gedanken an sie zu verschwenden, wandte er sich landeinwärts.

Bis zur nächsten spanischen Siedlung wollte er sich durchschlagen. Dann würde er mit einer Kutsche bis nach Panama weiterreisen und dort dem Gouverneur seine ungeheuerliche, ja, haarsträubende Geschichte vortragen.

Sabreras, dir kann keiner mehr am Zeuge flicken, sagte er sich. Du bist von den wüstesten Feinden überfallen worden, die Spanien hat. Du hast gekämpft und verloren. Das kann dir keiner ankreiden. Schon ganz andere Verbände sind vom Seewolf und dessen Verbündeten geschlagen worden.

Dann hat auch noch deine Schiffsbesatzung gemeutert, spann er den Faden weiter, und du hast somit das Recht auf deiner Seite. Wer will denn dem Gouverneur erzählen, du hättest heimlich in die eigene Tasche gewirtschaftet? Der Seewolf vielleicht? Dem glaubt kein Spanier. De Vargas, Mangusto, der Sargento? Wenn sie es versuchen, kommen sie damit nicht durch. Niemals. Aussage steht gegen Aussage, und mein Wort zählt mehr als das dieser räudigen Hunde.

Er war so in seine Überlegungen verstrickt, daß er nicht mehr bemerkte, was um ihn herum vorging.

De Vargas könnte ich in einem Prozeß auch leicht auf meine Seite reißen, sagte er sich. Er ist wankelmütig. Wenn es hart auf hart geht, fällt er um und bekennt sich zu mir.

Er schritt über eine Geröllhalde in eine dunkle, geduckte Schlucht hinunter. Die Marschrichtung lag fest, und es schien keine großen Hindernisse zu geben, zumal das Land allmählich nach Norden hin abfiel und das Wandern ihm von Meile zu Meile leichter fallen würde.

Endlich, dachte er, endlich habe ich das Glück wieder auf meiner Seite. Den Smaragdschmuck werde ich irgendwo verstecken. Nur ich kenne den Platz. Dann kehre ich zurück und hole mir, was mein ist …

Sabreras sah nicht, wie rechts oben am Schluchtrand die Umrisse eines menschlichen Kopfes erschienen. Erstens fühlte er sich bereits zu sicher, und das war ein klarer Fehler. Zweitens war die Bewegung hinter ihm, und auch bei größerer Aufmerksamkeit hätte er sie deshalb wohl nicht zur Kenntnis genommen.

Etwas huschte von schräg hinten auf ihn zu.

Diesmal konstatierte er, daß etwas nicht in Ordnung war. Er wandte sich um und fand gerade noch Zeit, den Mund zu öffnen. Der entsetzte Ruf, den er ausstoßen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken.

Ein Stein traf seine Stirn.

Lautlos sank er zu Boden.

Alles ging in bodenloser, erstickender Finsternis unter.

In jener Sphäre war es erträglicher zugegangen als im Diesseits. Das Bewußtsein breitete sich mit hämmernden Schmerzen in ihm aus, ihm war speiübel, und er glaubte, sich übergeben zu müssen.

Und dann dieses Gelächter über ihm! Es schien geradewegs aus der Hölle zu ertönen.

„Paßt auf, daß er nicht einfach aufsteht und wegläuft, Männer“, sagte jemand auf spanisch. „Seiner Montur nach ist er ein hoher Offizier, wahrscheinlich ein Kommandant, und er wird vielleicht versuchen, durch einen Trick zu entwischen.“ Die Stimme klang rauh und im tiefsten Baß, aber Sabreras hörte doch an seinem Akzent, daß er ein reinblütiger Katalane war.

 

Ein zweiter Sprecher wollte sich über diese Worte vor Lachen ausschütten. Er prustete: „Das wäre die Spitze, jawohl, das Allergrößte, Almirante. Sag jetzt bloß noch, dieser Bastard sei nicht auf den Kopf gefallen.“

„So ein fauler Witz“, erwiderte Almirante. „So hart hat er sich den Schädel nicht gestoßen, Julian. Halt jetzt dein verdammtes Maul.“

„Ich finde das alles so herrlich komisch!“ Der Mann, der Julian hieß, kicherte.

„Julian hat zuviel Schnaps gesoffen“, bemerkte ein dritter.

„Dir renke ich den Arm aus“, drohte Julian zischend.

„Schweigt!“ fuhr Almirante sie an. „Seht euch lieber den Kerl an. Da, er hat sich bewegt!“

„Was ist, schlagen wir ihn nicht tot?“ fragte der mit Julian Angesprochene.

„Nein, wir warten noch.“

„Warum?“

„Narr“, sagte Almirante. „Ich vermute, daß er weiß, wo noch mehr von diesem phantastischen Zeug liegt. Vielleicht werden wir Esmeralderos, Smaragdsucher. Wir werden ihn ausquetschen wie eine Zitrone, Julian.“

„Jetzt kapiere ich.“

„Das ist ja ein Wunder“, meinte ein vierter Kerl, und auch er handelte sich eine gezischte Drohung von Julian ein. Sie warfen sich ein paar Verwünschungen zu, die so ziemlich das Unflätigste und Gemeinste waren, das Sabreras je vernommen hatte.

Sabreras schlug die Augen auf und sah sie. Wüste Kerle mit schmutzigen Gesichtern und wirren, verfilzten Haaren – er zählte mehr als ein Dutzend. Ja, es schienen zwanzig zu sein. Wegelagerer, Totschläger. Die niederste Sorte Menschen, so fand Sabreras insgeheim – und ausgerechnet ihnen hatte er in die Hände fallen müssen.

Ein Kerl mit dichtem schwarzem Vollbart verbeugte sich hohnvoll vor ihm. Das Bartgestrüpp reichte ihm bis auf die Brust. An seiner Stimme erkannte Sabreras, daß er Almirante war.

„Hochwohlgeboren“, sagte er. „Wollen Sie uns nicht Ihren werten Namen anvertrauen?“

Die Männer in seinem Rücken kicherten und stießen sich mit den Ellenbogen an.

Almirante hielt Sabreras Messer, die Radschloßpistole – und die Smaragdkrone der Chibchas. Demonstrativ ließ er sie dicht vor seinem Gesicht pendeln. „Du hüllst dich in Schweigen?“ fragte er drohend. „Das fängt ja gut an. Ich habe Angst, du könntest ernsthaft erkranken, mein Freund.“

Ein kleiner, drahtiger Mann mit buschigen Augenbrauen und breitem, schmallippigem Mund begann wieder loszuprusten.

„Julian, muß ich dir das Maul stopfen?“ stieß Almirante grollend hervor.

Julian verstummte, und der Bandenführer richtete seinen Blick wieder auf den Gefangenen. „Soll ich dir einen Tritt in deinen edlen Hintern verpassen, du Himmelhund?“

„Nein.“ Der Kommandant schaute ihm fest in die Augen. „Mein Name ist Sabreras. Ich will alles sagen, was ich weiß, ich habe wohl keine andere Wahl.“

„Sehr vernünftig“, erwiderte Almirante. Er rieb sich den Bauch. Er war ein großer, beleibter Mensch, aber das täuschte nicht über seine Gefährlichkeit hinweg.

Sabreras setzte sich auf, obwohl es ganz gemein in seinem Kopf schmerzte. Er kämpfte mit aller Macht gegen die Qual an. Mit zwei Fingern befühlte er die Beule auf seiner Stirn, zog die Hand aber sofort wieder zurück. Bei der geringsten Berührung durchzuckte es ihn an dieser Stelle wie Nadelstiche.

Er überlegte sich genau, was er zu sagen hatte. Unvermittelt war ihm eine großartige Idee eingefallen. Sie stand in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, daß er nicht nur eine, sondern noch zwei andere, größere Horden von Männern auf den Fersen hatte.

„Almirante“, sagte er eindringlich. „Ich bin ein spanischer Kommandant, wie du ja schon festgestellt hast. Aber auch du scheinst mehr zu sein als ein primitiver Strandräuber. Wie kann ein stolzer Katalane sich selbst so herabwürdigen?“

„Gib acht“, warnte Almirante. „Ich kann sehr leicht aus der Haut fahren.“

„Ich spreche ja nur in deinem, Interesse.“

„In meinem Interesse?“ Der Bandit lachte. „Das mußt du mir noch genauer erklären. Also gut, ich war Bootsmann auf einem Schiff Seiner Allerkatholischsten Majestät, Philipp II. Aber ich und die meisten meiner Männer haben gemeutert und sind abgehauen, verstehst du? Das war vor fast zwei Jahren. Bislang haben uns die lieben Landsleute noch nicht wieder eingefangen, und wenn du glaubst, du könntest uns durch eine List an den Gouverneur ausliefern, dann hast du dich gründlich getäuscht – ist es so, Julian?“

„Ja“, sagte Julian gedehnt und mit hämischem Grinsen. Er schien so etwas wie die rechte Hand von Almirante zu sein.

Vom Regen in die Traufe, dachte Sabreras, aber ich muß das Beste daraus machen. Laut erwiderte er: „Du bist auf dem Holzweg, Almirante. Ich bin selbst ein Verfolgter, ein Desperado, ein Verzweifelter, wenn du so willst. Die Smaragdkrone, die du mir abgenommen hast, ist eine Million spanischer Piaster wert, vielleicht auch noch mehr. Aber sie ist nur ein Teil der Ausbeute einer Mine in Neu-Granada.“

„Von dort unten her kommst du?“ Almirante warf einen Blick auf die Geheimdokumente aus der Ledermappe. Julian hatte sie ihm gereicht. Nach kurzem, hastigen Studieren erklärte Almirante: „Wie gut, daß ich lesen kann, Amigo. Ja, hier wird bestätigt, was du eben gesagt hast. Du wirst uns also zu deiner Mine führen.“

Sabreras schüttelte den Kopf. „Sie ist von Piraten ausgeplündert worden.“ Er berichtete in knappen Zügen, was sich zugetragen hatte. Zum Abschluß sagte er: „Auf den beiden Schiffen, die sich gerade der Küste nähern, lagern haufenweise Smaragde und Smaragdschmuck. Für euch lohnt es sich wirklich nicht, wenn ihr mich totschlagt. Ich schlage euch etwas anderes vor. Verbünden wir uns. Ich habe auch schon einen Plan, wie wir den Seewolf, das schwarzhaarige Weib und deren Gesindel erledigen können.“

Almirante starrte sein Gegenüber mit offenem Mund an. Seine Augen waren verklärt, sein Blick entrückt. Dann nickte er.

9.

In der Optik des Spektivs nahm sich das Felsenufer als eine einzige graue, schartige Wand aus. Hasard verzog den Mund, setzte das Glas ab und wandte sich Ben, Ferris, Shane, Old O’Flynn, Smoky und Carberry zu, die sich zur kurzen Lagebesprechung mit ihm auf dem Achterdeck versammelt hatten.

„Ausgerechnet in diese Gegend hat Sabreras sich zurückgezogen?“ sagte er zweifelnd. „Na, wir werden ja sehen. Ehrlich gesagt hätte ich die Suche nach ihm längst abgebrochen, wenn wir nicht den Chibchas und den Serranos einen Vorsprung zu sichern hätten. Sabreras ist wirklich imstande, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um Strafexpeditionen nach Neu-Granada und auf die Galapagos zu senden.“

„Was hast du also konkret vor?“ erkundigte sich Ben.

„Ich will ihn gefangennehmen und auf einer einsamen Insel aussetzen. Bis seine Landsleute ihn dort gefunden haben, sind sowohl die Chibchas als auch Hidduk und sein Stamm längst über alle Berge.“

„Tja, dann wollen wir mal“, sagte Carberry, ohne Begeisterung. „Wo suchen wir denn zuerst?“

„Wir ankern, fieren die Beiboote ab und gehen an Land. Smoky, laß Siri-Tong ein Flaggensignal geben.“

„Aye, Sir.“

„Ich habe etwas vorzuschlagen“, sagte Ferris Tucker. „Die Beiboote haben wir ja schon repariert, und auch das Vorgeschirr habe ich wieder einigermaßen instand setzen können. Wenn ich jetzt an Bord bleibe, könnte ich wieder einiges reparieren, zum Beispiel die Großmarsrah.“

„Natürlich, du sollst sogar hierbleiben“, entgegnete der Seewolf. „Danke für das Angebot, Ferris. Das wird schon keiner als Feigheit auslegen.“

Ferris grinste schief. „Was will dieser Wurm Sabreras noch gegen uns ausrichten? Den rammen wir doch unangespitzt in die Erde.“

„Wir sollten ihn nicht unterschätzen“, gab Hasard noch einmal zu bedenken.

„Sind wir denn ganz sicher, daß er hier an Land gegangen ist?“ sagte Old O’Flynn. „Er kann doch auch weiter nach Westen oder Osten abgehauen sein.“

„Donegal“, antwortete Hasard. „Dein Sohn hat das einmastige Beiboot der ‚Esperanza‘ doch vor kurzem gesichtet. Und jetzt ist es mit einemmal wie weggewischt. Was schließt du denn daraus?“

„Daß sich dieser dreimal verfluchte Don irgendwo verkrochen hat“, erwiderte der Alte gallig.

„Na also. Wir sehen zwar nirgendwo ein Schlupfloch, aber von den Booten aus können wir die Steilküste viel genauer untersuchen. Hat jemand einen besseren Vorschlag?“

Natürlich gab es keine Alternative. Die Schiffe lagen bald darauf mit aufgegeiten Segeln im Wind, ihre Buganker rauschten an den Trossen aus. Nur zwei Beiboote glitten auf das Ufer zu, eins von der „Isabella“ und eins von „Eiliger Drache über den Wassern“.

Hasard hatte als Begleiter Edwin Carberry, Big Old Shane, Blacky, Matt Davies, Luke Morgan und Bob Grey ausgewählt. Dan hatte auch mitwollen, aber der Seewolf hatte ihn lieber als Ausguckposten im Großmars zurückgelassen. Irgendwie spürte er, daß ihm diese Maßnahme noch von Nutzen sein würde. So scharfe Augen wie Dan hatte nun mal keiner. Der junge Mann hatte die Aufgabe, unausgesetzt die Küste und die See zu beobachten.

Siri-Tong winkte Hasard zu. Sie trug heute eine weiße, keine rote Bluse, und hatte sich diese engsitzenden weißleinenen Schifferhosen angezogen, die dem Seewolf so gut gefielen. Sie sah hinreißend aus, geradezu verlockend.

Sie trafen sich kurz vor dem Ufer.

Siri-Tong rief Hasard zu: „Wir pullen nach Osten, einverstanden?“

„Gut“, erwiderte er. „Wir schlagen also die westliche Richtung ein. Wer als erster Sabreras oder Spuren von ihm entdeckt, gibt ein Zeichen.“

So trennten sie sich wieder und pirschten hart unter Land am Ufer entlang, wobei sie darauf achten mußten, nicht gegen scharfkantige Felsen geworfen zu werden.

Knapp eine halbe Stunde war vergangen, da entdeckte Siri-Tong den kegelförmigen Eingang zur blauen Grotte.

„Wir fahren hinein“, sagte sie. „Haltet die Waffen bereit. Wir wissen ja nicht, was uns drinnen erwartet.“

Thorfin Njal, Eike, Arne, Oleg, der Stör, Mike Kaibuk und Missjöh Buveur – ihre kleine Bootsmannschaft – spannten die Hähne der Pistolen, Musketen und Blunderbüchsen. Sie staunten nicht schlecht, als sie in die Grotte glitten und die tempelähnliche Struktur gewahrten.

„Bei Odin, hier ist man den Göttern näher als anderswo“, raunte Thorfin Njal. „Hört ihr, wie hell die Wellenschläge klingen? Und haben nicht auch unsere Stimmen einen ganz anderen Ton?“

„Einen ganz anderen Ton“, sagte der Stör.

Thorfin drehte sich mit finsterer Miene zu ihm um. „Wenn du mich noch mal nachäffst, du, dann zieh ich dir den Hals so lang wie einem Brathuhn.“

„Still“, flüsterte Siri-Tong. „Da liegt ein Boot auf dem Kieselstrand. Ich kann den Mast mit dem Großsegel und der Fock erkennen, er liegt auf den Duchten. Männer, das ist Sabreras’ Boot!“

„Wir müssen sofort die anderen verständigen“, sagte Mike Kaibuk.

„Erst landen wir“, bestimmte die Rote Korsarin. „Da ist so was wie ein Treppenaufzug, und Sabreras ist getürmt. Wir müssen dem Hund nach.“

Sobald sie auf dem steinigen Ufer angelangt waren, sprang sie aus dem Boot.

„Die Wikinger mit mir“, wisperte sie. „Mike Kaibuk und Missjöh Buveur, ihr legt sofort wieder ab und pullt zu Hasard. Gebt auch den Männern auf der ‚Isabella‘ und auf unserem Schiff ein Zeichen, daß wir Sabreras’ Spur aufgenommen haben.“

„Wir müssen erst um eine Felsennase herum, um die anderen sehen zu können“, sagte Kaibuk.

„Dann beeilt euch, ihr Heringe“, sagte Thorfin Njal. „Auf was wartet ihr noch?“

Sie schoben das Boot ins tiefere Wasser der Grotte. Kaibuk und der Franzose legten sich mächtig in die Riemen. In Sekundenschnelle hatten sie das Boot gewendet, und dann pullten sie so hastig ins Freie, daß sich fast die Bootswände an den Wänden des schmalen, kegelartigen Auslasses rieben.

Siri-Tong hatte die Stufen der steinernen Wendeltreppe erklommen. Die Wikinger folgten ihr auf dem Fuß.

Sie erreichten den oberen Ausgang, stürmten auf ein kleines Plateau hinaus und entdeckten einen winzigen, grünlich schillernden Stein auf dem Untergrund. Siri-Tong bückte sich danach.

„Ein Smaragd“, murmelte sie. „Merkwürdig, daß er den verloren hat.“

„Er hat ihn sich aus der Krone gebrochen“, sagte Arne, aber so recht lachen konnte darüber keiner.

 

„Da vorn liegt noch was“, sagte Oleg.

Sie liefen weiter und lasen ein Stück Schiffszwieback vom Boden auf.

„Von Sabreras’ Proviant“, meinte die Korsarin. „Er scheint sich ja mächtig sicher zu fühlen, daß er so arglos durch die Weltgeschichte wandert. Vielleicht hat er uns noch gar nicht bemerkt.“ Sie kniff die Augen zusammen und kräuselte die Lippen, denn so recht glaubte sie auch nicht an das, was sie selbst gesagt hatte.

„Die Spur führt über eine Geröllhalde in eine kleine Schlucht hinunter“, sagte Eike, der ein Stück vorausgegangen war.

„Also weiter“, ordnete Siri-Tong an. „Aber geben wir besonders in der Schlucht acht. Vergeßt nicht, wie wir im Hohlweg am Kessel der Smaragdmine hereingelegt worden sind.“

Oh, sie hatten es nicht vergessen. Und sie trafen alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen, als sie nun in die Schlucht eindrangen. Aber es geschah nichts. Kein Sabreras, der im Hinterhalt lag und mit der Pistole auf sie feuerte – niemand zeigte sich. Es war ruhig, fast zu ruhig.

Und dann, am Ausgang der Schlucht, flogen ihnen plötzlich Steine entgegen. Gestalten wuchsen hinter Felsenquadern hoch und legten Schußwaffen auf sie an, als sie die Wurfgeschosse aufgebraucht hatten.

Arne und Oleg waren zu Boden gesunken. Thorfin Njal feuerte seine Pistole ab, traf auch, zückte dann sein Schwert und drang wutbrüllend gegen die Feinde vor. Siri-Tong schoß auch. Danach griff sie zum Degen und fällte mit zwei, drei Streichen zwei Kerle, die sie packen und zu Boden reißen wollten.

Eike wurde durch einen Schuß am Arm verletzt. Der Stör kriegte einen Pistolenkolben aufs Haupt und brach stöhnend zusammen. Dann wurden Thorfin und Siri-Tong von immer mehr fluchenden Kerlen umzingelt – und sie mußten sich ergeben.

Es war ein kurzer, erbitterter Kampf gewesen, aber jetzt hatten sie keine Chance mehr, sich zu befreien.

Sabreras trat auf sie zu. „Ich wollte euch lebend haben, sonst hätten meine neuen Verbündeten euch bedenkenlos abgeschlachtet. Bin ich nicht nett zu euch?“

„Der Blitz soll dich treffen!“ schrie Thorfin Njal ihn an.

„Drei meiner Männer sind tot!“ rief Almirante. Er schüttelte in glühendem Zorn die Faust. „Noch ein Wort, ihr Bastarde, und ich steche euch höchstpersönlich ab.“

„Aber vorher nehmen wir uns noch das Weib vor“, sagte Julian mit verschlagenem Grinsen.

Sabreras trat dicht vor die Rote Korsarin hin. Sein Blick glitt ungeniert an ihrem Körper auf und ab. „So trifft man sich also wieder, du Satan von einem Frauenzimmer. Ich habe immer noch vor, dich zu bändigen. Ich werde nun endlich tun, was du mir in meiner Mine versagt hast. Es gibt keinen Ausweg mehr für dich.“

Thorfin Njal wollte sich auf ihn stürzen, aber drei Strandräuber hielten ihn fest und prügelten mit den Fäusten auf ihn ein.

„Ich will dich wie nichts auf der Welt“, sagte Sabreras zu der schönen Frau. „Aber vorher habe ich noch eine Kleinigkeit zu erledigen.“ Er drehte sich zu Almirante um. „Du wirst sehen, ich habe dich nicht belogen, mein lieber Freund.“

„Das will ich dir auch nicht geraten haben“, antwortete der „liebe Freund“.

Hasard und seine Männer in dem Boot der „Isabella“ hatten eine Felsenbucht entdeckt, die sich etwa eine halbe Meile nordwestlich vom Ankerplatz der Schiffe öffnete und wie ein Fjord tief ins Landesinnere führte.

„Erforschen wir, wie es da drinnen weitergeht“, sagte der Seewolf gerade, da richtete sich Carberry steil auf seiner Ducht auf und meldete: „Da! Das Boot von Siri-Tong pullt zu den Schiffen. Ich glaube, es sitzen nur noch zwei Männer drin.“

„Sie geben Blinkzeichen mit einer Glasscherbe“, fügte Shane hinzu. „Sie haben eine Grotte entdeckt.“

Plötzlich krachten Schüsse. Sie schienen von oberhalb der Steilküste zu kommen. Hasard begann loszuwettern, er konnte sich ausmalen, was geschehen war.

„Verdammt, Siri-Tong hat einen Aufstieg durch die Felsen gefunden“, sagte er. „Und jetzt steckt sie in der Klemme. Aber Teufel noch mal, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sabreras ihr derart zusetzen kann.“

„Ich würde mir keine Sorgen bereiten“, meinte Blacky. „Die Rote Korsarin und die fünf Wikinger haben Sabreras aufgestöbert wie einen Hasen, und jetzt veranstalten sie ein Zielschießen auf ihn.“

Hasard schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht daran. Siri-Tong würde auch einen Schurken wie Sabreras niemals vorsätzlich töten. Ihr Gewissen verbot es ihr, außerdem hatte sie in bezug auf Fairneß viel von dem Seewolf gelernt.

Nein, da stimmte etwas nicht.

Und dann signalisierte plötzlich auch Dan O’Flynn aus dem Großmars der „Isabella“.

„Ja, gibt’s denn so was?“ sagte Matt Davies. „Hat der Bursche etwa beobachtet, was an Land vorgeht?“

„Ruhe“, sagte Carberry. „Dan bedeutet uns, daß Siri-Tong und die Wikinger gefesselt auf ein Plateau getrieben werden. Sabreras ist bei ihnen – und eine Horde wüster Halunken.“

„Da haben wir’s“, stieß der Seewolf aus. „Sabreras hat sich neue Kumpane gesucht. Wahrscheinlich haben ihn Strauchdiebe überrascht und er hat sie herumgekriegt, uns aufzulauern.“

„Wir können mit unseren Kanonen auf sie feuern“, sagte Luke Morgan.

„Bist du wahnsinnig?“ fragte Bob Grey. „Wir gefährden doch nur Siri-Tong und ihre Männer.“

„Was sollen wir denn sonst tun?“ sagte Luke hitzig.

„Wir rühren uns hier nicht fort“, erwiderte der Seewolf leise und mit mühsam erzwungener Ruhe. Daß ausgerechnet Siri-Tong sich wieder in der Gewalt des Spaniers befand, brachte sein Blut zum Sieden – aber er bezwang seine aufwallenden Gefühle. „Noch haben sie uns hier nicht entdeckt“, fuhr er fort. „Möglicherweise ist das der einzige Trumpf, der uns noch bleibt.“

Sabreras prüfte die Fesseln seiner Gefangenen. Als er sie für ausreichend straff befunden hatte, packte er Siri-Tong bei den Schultern und stieß sie vor sich her. Die Hände hatte Almirante ihr auf dem Rücken zusammenbinden lassen, ihre Fußknöchel waren auch durch einen Strick verbunden, dessen Kürze ihr nur kleine, trippelnde Schritte erlaubte.

Sabreras steuerte mit ihr an dem oberen Ausgang der steinernen Wendeltreppe vorbei und hielt auf den Rand des Plateaus zu.

Julian und zwei andere Männer hasteten die Treppe hinunter. Sie sollten die Grotte gegen Angriffe schützen.

Sabreras blieb stehen und blickte gelassen zu den Schiffen. Da lagen sie, stolze, aber lädierte Riesen der See, die zu finsteren Monumenten an den Abgründen seines Schicksals geworden waren.

„Zur Hölle mit euch“, sagte Sabreras.

„Stoß mich in die Tiefe“, sagte Siri-Tong. „Das hast du doch vor, oder?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete nicht darauf. Almirante hatte inzwischen die gefesselten Wikinger ebenfalls an den scharfen Felsenabbruch dirigieren lassen. Siri-Tong, Thorfin Njal, Eike, Arne, Oleg und der Stör waren lebende Schutzschilde für die Banditen, und die Crews der Schiffe konnten nicht feuern, ohne zumindest einen von ihnen tödlich zu verletzen.

Niemals würden sie das tun.

Sabreras warf einen Blick nach unten. Schätzungsweise dreißig Yards tief fiel der Steilfelsen ab, Die Brandung war ein dünner, weiß gekräuselter Streifen über den im flachen Uferwasser liegenden Gesteinsblöcken.

Er war schwindelfrei, und doch rieselte es ihm frostig über den Rükken. Rasch hob er wieder den Kopf.

„Wer hat euch den Weg hierher gewiesen, Siri-Tong?“ fragte er. „Doch die Männer der ‚Esperanza‘, nicht wahr? Sie haben gemeutert, aber dann habt ihr die Galeone geentert. Das geschieht ihnen recht.“

„Es wäre uns lieber gewesen, wenn auch du an Bord gewesen wärest“, sagte sie kalt.

Er lachte. „Ja, das hätte euch so passen können. Aber ich habe euch einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.“

Er legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie zu den Schiffen hinüber: „Ihr dort – Engländer und Piraten! Ich weiß, daß ihr mich verstehen könnt. Und euer Ausguck schaut mit dem Fernrohr herüber. Ihr seht also, daß wir eure Kumpane gefaßt haben und euch nicht täuschen!“