Read the book: «Spreewaldkohle», page 4

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Silke Dreier erwartete die Kollegen im Büro.

Doch offenbar hatten die beiden ihre Ermittlungen im Umfeld des Opfers ausgeweitet, vergessen, sich bei ihr zu melden, damit sie Dr. März davon in Kenntnis setzen konnte.

Der stand nämlich ungeduldig seit einer gefühlten Ewigkeit in Silkes Büro.

»Was hatten Sie gesagt, machen die Kollegen gerade?«

»Wahrscheinlich befragen sie Zeugen. Frau Klapproth hat obendrein einen Termin bei den Kollegen wegen dieses Doppelmordes am Gräbendorfer See. Wenn sich die beiden problemlos melden könnten, hätten sie das ganz gewiss getan. Also sprechen sie gerade mit jemandem.«

»Frau Dreier, ich stelle mir eine funktionierende Kommunikation zwischen meinen Ermittlern anders vor.«

»Es ist nicht immer planbar.« Silke blieb diplomatisch.

Endlich hörte sie Schritte auf dem Gang.

»Da kommt Frau Klapproth. Herr Nachtigall wird sicher auch sofort hier sein.«

Als Maja eintrat, wurde sekundenschnell klar, dass sie mehr als zornig war.

»Dieser Jannik! Was stellt der sich vor, wer er ist! Ich kann doch nicht seiner Ermittlung wegen unsere eigene zum Stocken bringen. Arroganter Pinsel!«, schimpfte sie und hätte sicher einen derben, bildhaften Fluch angehängt, wäre nicht gerade in diesem Moment Dr. März in ihr Blickfeld geraten. »Oh, Dr. März. Kontrollbesuch bei der Kripo?«, entfuhr ihr unbedacht.

»Wenn Sie es so sehen wollen!«

»Na, wir sind alle am Fall dran. Peter ist zum Parteibüro gefahren. Ich musste eine Zeugenaussage beim Kollegen Peters machen. Silke hat in der Zwischenzeit die Hintergrundinformationen zu Patrick Stein zusammengetragen. Alles läuft«, formulierte Maja kurz, aber unmissverständlich giftig im Vortrag.

»Und bei mir häufen sich Anrufe zu diesem Fall. Bis heute Nachmittag brauchen wir Ergebnisse, die sich auf einer Pressekonferenz präsentieren lassen. Nach dem Mord an Walter Lübke sind die Leute sensibilisiert.«

»Das ist uns sehr bewusst. Und wir wissen inzwischen von Drohbriefen und entsprechenden Mails an das Opfer. Peter hat sicher Material und Computer bei der Partei zur Untersuchung mitnehmen lassen. Die Technik wird sich darum kümmern.«

Die Tür schwang auf und Nachtigall drängte in den nun überfüllten Raum.

»Oh, Dr. März. Warten Sie schon lange?«

»Lange genug! Wie also ist der Stand der Dinge?«

»Natürlich war man bei der Partei entsetzt. Aber alle wussten von den Drohungen, die das Opfer bekommen hat. Die Festplatte wird ausgewertet, die Briefe waren ursprünglich in Ordnern abgeheftet und gesammelt worden, wurden aber von ihm selbst vor einigen Monaten im Aktenvernichter geschreddert. Einige wurden an seine private Adresse geschickt, die hat er in der Regel sofort nach Erhalt vernichtet – nach Angaben der Ehefrau war er nicht wirklich beunruhigt«, fasste Nachtigall zusammen. »Sein Bruder hatte auch diesen Eindruck, die Mutter konnten wir noch nicht befragen. Eine Streife hat ihr die Todesnachricht überbracht. Die Kollegen meinen, sie sei sehr gefasst gewesen. Beinahe so, als habe sie damit gerechnet, dass ihm so was zustoßen könne.«

»Gut. Lassen Sie sich von Frau Dreier zum Hintergrund des Opfers briefen. Um 16 Uhr ist Pressekonferenz, und ich will Sie beide mit am Tisch haben. Dieser Todesfall beschäftigt die Menschen.«

»Wir wissen noch gar nicht, wie er zu Tode gekommen ist. Bisher fehlen uns Informationen zum Tatgeschehen – und wir können nicht ausschließen, dass er einen Unfall … Dr. Pankratz ist mit ihm beschäftigt?«, fragte Nachtigall nach. »Wir können ja nicht überall von Mord reden – und uns später korrigieren müssen. Oder umgekehrt.«

»Kümmern Sie sich um all diese Fragen – ab 16 Uhr wird man uns löchern.« Damit verließ der Staatsanwalt das Team, zog die Tür betont geräuschlos ins Schloss.

»So, nun wissen wir Bescheid.« Nachtigall grinste schief, zwinkerte den beiden anderen zu. »Was haben wir?«

»Ich habe die Konten überprüft. Das Haus in Branitz ist solide finanziert. Man hatte eigenes Kapital, der ergänzende Kredit von der Bank wird regelmäßig bedient, die Tilgung ist variabel, und so wird das geliehene Kapital schneller als erwartet zurückgezahlt, das Konto bleibt dennoch gut gefüllt. Patrick Stein hat eine größere Erbschaft gemacht, nachdem sein Vater verstorben und die Mutter zum Verkauf des Hauses bereit war. Die Brüder und die Mutter teilten den Erlös untereinander auf. Jeder ein Drittel, alles ruhig, alles fair. Das Opfer legte das Geld bei der Hausbank an, kaufte Gold, wählte risikoarme Anlagen für das Kapital. Er ist immer auf Nummer sicher gegangen. Es gab nie eine Anzeige gegen ihn. Das ist schon überraschend, wo man bei Politikern gern auf Verdacht von Steuerhinterziehung fantasiert, illegalen Nebeneinkünften, zu hohen Honoraren bei Vorträgen et cetera. Er war kein notorischer Raser, kein ewiger Falschparker. Unauffällig.«

»Passt zu dem, was man uns bisher über den Mann erzählt hat.« Klapproth kramte ihr Notizbuch aus der Jackentasche. »Zuverlässig, ordentlich, gut organisiert.«

»Da kann ich etwas ergänzen«, meinte Nachtigall. »Nach Aussage der Mitarbeiterin im Parteibüro war er ein sympathischer Mann, etwas arrogant, um seine jugendliche Ausstrahlung und die Gesundheit bemüht, ein liebender Vater und Ehemann. Einer, zu dem man immer vollstes Vertrauen haben konnte.«

»Oh weh, du hast eine junge Dame befragt? Deren Blick auf die Realität in Männerkörpern ist oft emotional vernebelt.«

»Maja! Nicht alle werden beim Anblick von Männern kritiklos«, beschwerte sich Silke. »Mein Denken bleibt klar.«

»Genau«, beendete Nachtigall entschlossen die Diskussion. »Wir sollten eine Friederike Schultheiß zu einem Gespräch herbitten. Ihr Kommentar zum Tode des Kollegen war überraschend. Endlich habe sich jemand getraut … Es interessiert mich sehr, wie sie das konkret gemeint hat.« Er nickte Silke zu, die eifrig mitschrieb.

»Klar. Ich bestelle sie ein. Soll sie heute noch …?«

Nachtigalls Handy störte.

Er warf einen Blick aufs Display. »Rechtsmedizin«, informierte er das Team knapp.

12

Dr. Pankratz schüttelte den Kopf.

So heftig, dass die OP-Haube verrutschte und sich das Licht der Lampe in seiner makellosen Glatze spiegelte.

Der zweite Obduzent unterdrückte hastig ein Lachen.

Seiner Meinung nach war die Haube auf der Glatze ohnehin sinnlos. Aber er wusste, es gab Dinge, die man besser nicht ansprach.

»Ungewöhnlich ist dieser Angriff durchaus … Psychisch kranke Menschen in den meisten Fällen. Sie haben krude Vorstellungen, hängen irrealen Theorien an, fühlen sich vom Opfer verfolgt, übergangen, ausgebootet. Sie sehen sich zum Beispiel als Rächer oder Befreier der gesamten Gesellschaft, suchen das Licht der Öffentlichkeit, möchten im Blitzlichtgewitter stehen, ihren Namen in der Zeitung auf der Titelseite lesen. Manche lassen sich direkt am Tatort überwältigen und verhaften. Aber hier? Patrick Stein. Der Täter lauerte ihm beim Joggen auf – also keine öffentliche, pressewirksame Aktion mit Täterfotos oder unscharfen Handyvideos und verstörten, weinenden Zeugen, keine große Bühne. Täter und Opfer waren unter sich. Die nun einsetzende Aufmerksamkeit wird der Tat gelten, nicht dem Täter.« Er sah auf, deutete auf eine Serie von Aufnahmen, die die Stichkanäle abbildeten. »Hier die sichtbaren Zeichen des Überfalls. Das war wohl der erste Stich. Als der gesetzt wurde, stand das Opfer noch.« Er trat an den Edelstahltisch zurück. »Die Wunde ist deutlich doppelt und doppelschwänzig. Der Täter hat zweimal diese Stelle angegriffen. Ich schätze, weil das Opfer nicht sofort zu Boden ging. Die weiteren Verletzungen wurden Stein beigebracht, als er bereits lag. Dabei sind mehrere Details bemerkenswert. Nachdem er vornübergefallen war, lag der Körper bei den weiteren Angriffen auf dem Rücken. Entweder schaffte das Opfer es selbst, sich umzudrehen oder der Täter hat das übernommen. Stein sollte unbedingt erkennen, wer ihn tötete? Keiner der Stiche war sofort tödlich. Möglicherweise war dem Täter die Anordnung der lebenswichtigen Organe nicht geläufig, er konnte die verletzbaren Bereiche nicht genau lokalisieren, entweder das Opfer bewegte sich heftig oder er verfehlte sie mit Absicht. Todesursache ist wahrscheinlich inneres und äußeres Verbluten. Hypovolämischer Schock.«

Nachtigall nickte fast unsichtbar.

Klapproth wirkte überrascht. »Könnte es sein, dass dem Angreifer gar nicht auffiel, dass sein Opfer nach dem Überfall nicht tot war? Er sich vom Tatort entfernte im festen Glauben, den Mann getötet zu haben?«

»Eher nicht«, überlegte Nachtigall laut. »Wir haben ihn schließlich nicht an dem Ort gefunden, an dem er angegriffen wurde, sondern in der Schaufel eines Kohlebaggers. Jemand hat ihn dorthin transportiert. Und er hat einen ziemlichen Aufwand betrieben, um uns den Toten so finden zu lassen, wie er geplant hat. Sehr unwahrscheinlich, dass zwei Personen unabhängig voneinander agiert haben sollen. Das würde ja bedeuten: Ein Spaziergänger, der zufällig einen Groll auf Patrick Stein hatte, stieß zufällig auf den Leichnam des Ermordeten und beschloss, ihn an einen anderen Ort zu transportieren und dort zu präsentieren. Der Gedanke daran, die Polizei zu verständigen, kam ihm zu keiner Zeit.«

»Okay. Klingt nicht sehr wahrscheinlich«, räumte Klapproth ein. »Zumal er dann auch noch zufällig einen Freund haben musste, der ihm beim Transport behilflich ist.«

»Na, dann wollen wir mal«, entschied der Rechtsmediziner und setzte das Skalpell unter dem Kinn an, zog einen tiefen Schnitt bis zum Schambein. »So!«

Nachtigall wusste genau, was nun folgen würde.

Und dennoch.

Nach all den Jahren konnte er es nicht unterdrücken.

Übelkeit stieg in ihm auf.

Da half es auch nicht, dass er sich immer wieder in Erinnerung rief, dass diese Untersuchung ihnen wichtige Informationen würde bieten können.

Wie durch Watte hörte er die Stimme des Rechtsmediziners.

»Männliches Opfer, Größe 182 cm, Gewicht 101 kg. Die äußere Inspektion hat zahlreiche Stichwunden ergeben, deren Kanäle stets in unmittelbarer Nähe lebenswichtiger Organe liegen. Um genauere Aussagen zu machen, präparieren wir einen der Stichkanäle.«

Nach und nach wanderte ein Organ nach dem anderen in eine eigene Schale, wurde gewogen und untersucht.

Dann trat Dr. Pankratz hinter den Kopf und setzte einen Schnitt entlang des Haaransatzes.

Der Assistent hatte eine Art Stütze unter den Schulterbereich geschoben, der Kopf fiel leicht nach hinten. Mit einer schwungvollen Geste klappte Dr. Pankratz den Skalp nach vorn über das Gesicht und griff nach einer speziellen Säge.

Damit trennte er den oberen Bereich des Schädels ab, legte das Hirn frei.

Nachtigall versuchte, nicht hinzusehen.

Besonders nicht, als das Organ in Scheiben geschnitten wurde.

Endlich waren sie fertig.

»So – und jetzt eine Zusammenfassung. Auffällig sind die blutleeren Organe. Deren Gewebe ist blass. Das haben wir bei Verbluten zu erwarten. Ansonsten war er gesund. Das hätte sich aber in der nächsten Zeit ändern können. Das Herz ist leicht verfettet, die Leber auch, Pankreas ist vergrößert. Er hatte viszerale Fettablagerungen. Mit gesunder Lebensführung hätte er dem Diabetes noch entgehen können, aber ich sehe bereits deutliche Zeichen von Schädigungen durch Hochdruck an den Gefäßen. Er wurde beim Laufen erstochen, also war er offensichtlich dabei mit Sport gegenzusteuern. Das Hirn ist unauffällig, lateral findet sich ein leichtes Aneurysma. Das hat ihm wahrscheinlich keine Probleme gemacht. Vielleicht wäre es dabei geblieben. Fazit: Er war gesund.«

»Toxikologie?«

»Wird gemacht. Ich glaube aber nicht, dass wir Drogen oder deren Abbauprodukte finden werden. Einstiche negativ, Atemwege frei, unauffällige Lunge. Er war kein Raucher.« Der Rechtsmediziner wies auf eine Wanne, die das Blut aus dem Bauchraum aufgenommen hatte. »Das ist wenig. Etwa zwei Liter. Bei einem Mann dieser Statur könnt ihr davon ausgehen, dass er etwa vier Liter am Ort des Angriffs verloren hat. Wurde er direkt nach der Tat in einem Fahrzeug transportiert, wird dort ebenfalls viel Blut gefunden werden können.«

»Du meinst, Hunde könnten den Ort des Überfalls finden? Sie haben ihn letzte Nacht auch nicht erschnüffelt.«

»Sie sollten nach einem Verletzten suchen. Nun sollen Hunde Zersetzung wahrnehmen. Einen Versuch wäre es wert.«

»Du meinst, jemand wollte, dass das Opfer langsam verblutet. Was, wenn kurz nach der Tat ein unbeteiligter Spaziergänger vorbeigekommen wäre. Hätte dann ein Rettungsteam …? Vielleicht war er noch eine ganze Weile ansprechbar.«

»Nein. Die Stiche haben zu massiven Blutungen geführt. Arteriellen Blutungen, venösen Blutungen. Gerade arterielle Blutungen leeren den Körper ziemlich schnell. Bei den vielen Verletzungen wäre er nach etwa 20 Minuten tot. Keine Chance für ein Rettungsteam.«

»Für mich stellen sich bei diesem Szenario viele Fragen«, begann Nachtigall gedehnt. »Eine wäre: Was hat der Täter gemacht, während sein Opfer langsam starb? Lief er weg? Hat er ihm eine Rede gehalten, um die Tat zu begründen?«

»Und: Wir reden zwar der Einfachheit halber vom Täter, es könnte aber auch eine kräftige Frau solche Verletzungen setzen. Vielleicht waren es zwei Beteiligte, die den Toten zum Tagebau gebracht haben«, ergänzte Dr. Pankratz.

Klapproth schüttelte ungeduldig mit dem Kopf. »Nur, damit ich es richtig verstehe: Das Opfer geht laufen. Irgendwo wartet der bewaffnete Täter.« Ihr Blick begegnete den Augen des Rechtsmediziners. »Okay, oder die bewaffnete Täterin. Woher demjenigen die Laufstrecke bekannt war, müssen wir noch ermitteln. Angeblich hat sich das Opfer immer spontan für einen Weg entschieden. An einer geeigneten Stelle kommt das Messer zum Einsatz. Der Täter oder ein weibliches Pendant sticht zu. Nachdem das Opfer zu Boden gegangen ist, folgen weitere Attacken gegen den Körper. Das Opfer will er/sie nicht zurücklassen, es lebt noch, könnte möglicherweise den Namen des Angreifers nennen. Lieber kein Risiko eingehen. Oder kannten sich die beiden gar nicht persönlich? Dann gab es kein privates Motiv, sondern eher einen abstrakten Mordauftrag.«

»So was wie das Klima retten? Den Weltfrieden sichern? In der Art?«, hakte Nachtigall nach. »Ein Mord für alle Gleichgesinnten? Ein moralischer Auftrag, diesen Menschen zu töten. Es war dem Täter gleichgültig, dass er nah an sein Opfer herantreten musste. Man war Aug’ in Aug’ – beim Angriff wie beim Sterben.« Er konnte nicht vermeiden, dass er eine Gänsehaut bekam, die sich über den gesamten Körper zog.

Klapproth nickte.

»Dann geht es bei dieser Tat um ein Fanal gegen ein für den Täter falsches Ziel. Die Identität des Opfers ist in Wahrheit unwichtig, es geht um das, wofür sie steht. Und wenn es so ist, fühlte der Angreifer sich im Recht. Für ihn war es legitim, diesen Mann zu töten.«

»Das gilt allerdings auch für ein starkes privates Motiv«, gab Nachtigall zu bedenken.

»Sieht für euch nach schwierigen Ermittlungen aus.« Dr. Pankratz klopfte den beiden auf die Kittel.

»Wir müssen los«, mahnte Klapproth. »Dr. März war vorhin schon sehr gereizt. Wir sollten ihn nicht zusätzlich durch Unpünktlichkeit provozieren.«

»Wenn ihr nicht wissen wollt, was ich sonst noch entdeckt habe, könnt ihr ja jetzt gehen.« Der Rechtsmediziner wies auf den Gang zur Tür.

Die beiden Ermittler warfen ihm einen verwunderten Blick zu.

»Wenn du das so formulierst, hast du eine faustdicke Überraschung für uns.«

Er lud sie zu einem Blick durchs Mikroskop ein.

»Ist es das, was ich glaube?«

»Ja. Sicher. Spermien. Sie leben noch – sexuelle Aktivität also kurz vor seinem Tod. Wenn es nötig wird, können wir sicher aus der Probe auch weitere DNA isolieren.«

»Aha. Wir müssen …«

»Wenn ihr euch beeilt, schafft ihr es locker rechtzeitig zur Pressekonferenz«, ermunterte der sehr zufriedene Dr. Pankratz die Davonstürmenden.

»Tja. Es menschelt manchmal auch bei Verstorbenen. Haben wir alle Proben?«

Der Sektionsassistent nickte.

»Gut, dann machen Sie ihn fertig. Bei diesen Fällen aus Cottbus ist immer eins sicher: Es wird eine weitere Leiche geben.«

13

Silke Dreier sah überrascht auf.

Die junge Frau war ausgesprochen auffällig in Habitus und Styling.

Selbstbewusstsein pur.

»Sie haben mich einbestellt. Um was genau mit mir zu besprechen?«

»Sie haben heute erfahren, dass Ihr Parteifreund Patrick Stein getötet wurde.«

»Ja. So was kommt vor. Manche Menschen greifen zu drastischeren Ausdrucksformen, wenn sie ihrem Ärger oder ihrer Enttäuschung Luft machen wollen. Politiker exponieren sich.«

»Sie glauben, es gehört als Berufsrisiko zum Job?«, fragte Dreier ungläubig. »Das ist nicht Ihr Ernst!«

Friederike Schultheiß lächelte spöttisch.

»Ach, bei der Polizei arbeiten und dann die Augen vor der Realität fest zukneifen. Das lob ich mir!« Die Zeugin strich beinahe kosend über die rasierte Glatze.

»Sie haben heute gesagt, endlich habe sich einer getraut. Das bezog sich auf die Tötung Ihres Parteifreundes.«

»Parteikollegens«, korrigierte die Zeugin. »Freunde sind wir nie gewesen.«

»Was an ihm war denn so unerträglich?«

»Sein Auftreten, sein ganzes Benehmen. Er war nicht der Nabel der Welt – aber er glaubte, er sei genau das.«

»Wie drückte sich das aus? Schiere Arroganz?«

»Nein. Viel schlimmer!« Friederike Schultheiß pfriemelte ihr Handy aus der Jacke. »Ich habe ein Video von einer der ersten Wahlkampfveranstaltungen zur Landtagswahl. Sehen Sie mal, was da abgeht, als Patrick auf die Bühne kommt.« Sie startete die Wiedergabe.

Ein voller Saal, große Kulisse, hoher Begeisterungspegel bei den Gästen. Transparente wurden geschwenkt, es ging um Klimaschutz und Kohleausstieg.

Patrick Stein wurde vom Moderator angekündigt, der Jubel schwoll deutlich an. Der junge Politiker stürmte dynamisch über die Stufen auf die Bühne, frenetischer Beifall, Bravorufe. Er stellte sich nicht hinter das Rednerpult, sondern agierte frei, die gesamte Bühne nutzend. Sprach ohne Manuskript, hatte nur einen Stichwortzettel in der Hand.

»Man erwartet eigentlich, dass er gleich anfängt zu singen, oder?«, fragte Frau Schultheiß wütend. »Er steht nur für sich, nicht für die Ziele der Partei! So, sehen Sie das?«

Die Kamera schwenkte über das Publikum. Junge Frauen mit begeistertem Strahlen jubelten dem Mann auf der Bühne zu. Hochrote Wangen, leuchtende Augen. Und eine entrollte ein Transparent, auf dem stand: Patrick, ich will ein Kind von dir!

»Sehen Sie dieses Plakat? Die spinnt doch! Das ist kein Popkonzert! Die glaubt wohl, das sei eine Fortpflanzungsshow.«

»Nun, es ist sicher sehr ungewöhnlich. Vielleicht ein Witz.« Dreier klang ratlos.

»Nein. Er bekommt auch solche Briefe ins Parteibüro. Einmal hatte er einen auf dem Schreibtisch vergessen, ich fand ihn, als ich beim Gehen überall das Licht löschte. Ich will ein Kind von dir, stand da. In Blockbuchstaben so hoch wie die der Titelseite der Boulevardpresse. Patrick ist verheiratet, hat zwei Kinder – und wer weiß, vielleicht scheut er sich nicht, den Wünschen seiner weiblichen Fans nachzugeben.«

»Sie sind für unbedingte Treue in der Ehe?«

»Nur, weil ich nicht aussehe wie ein Normalohausmäuschen heißt das nicht, dass ich rumhurende Männer cool finde. Eine offene Beziehung, von beiden gewollt und gelebt, okay. Aber ich weiß, dass Doreen an solch einer Ehe kein Interesse hätte. Sie steht eher auf Familienidyll.«

»Gibt es denn Hinweise darauf, dass Herr Stein auf solche Briefe oder Transparente reagierte? Treffen mit der Dame im Backstagebereich? Oder sind Sie nur aus Verdacht so sauer auf ihn?«

Schweigen vermehrte sich zwischen ihnen wie ein giftiger Geruch.

»Okay, dann sage ich es Ihnen jetzt. Doreen muss das nicht erfahren, oder? Es würde ihr Glück zerstören – und nach Patricks Tod wäre das doch vollkommen sinnlos!«

»Sie wissen, dass ich Ihnen diese Art von Geheimhaltung nicht versprechen kann. Aber der ermittelnde Hauptkommissar ist nicht an der Bloßstellung von Opfern oder Betroffenen interessiert«, versicherte Dreier.

»Ach, im Grunde kann es mir ja auch egal sein!«, fauchte die Zeugin. »Mein Cousin ist Opfer von Patricks Sexgier geworden. Seine Frau ist die, die das Transparent hochhält. Und Patrick hat eine Wohnung zwei Häuser vom Parteibüro entfernt. Gelegentlich geht er mit Bewunderinnen auch in ein Hotel. Mein Cousin ist ihm nachgeschlichen. Nun, was er sah und von den Nachbarn hörte, entspricht genau dem, was Sie jetzt denken.«

»Die junge Frau traf sich mit ihm, wollte sich von einem fremden Mann schwängern lassen. Erste Frage: Warum? Ist Ihr Cousin nicht zeugungsfähig? Zweite Frage: Hat es denn geklappt? Wurde sie schwanger? Und zum Schluss: Existiert die Ehe noch oder haben die beiden sich getrennt?«

Als Friederike Schultheiß mit dem Finger an ihrem Ohr entlangstrich, klirrten die vielen Ohrringe leise.

»Die Ehe meines Cousins war beim Abbiegen von der Hauptstraße in eine Sackgasse geraten. Sex fand wohl nur selten oder gar nicht mehr statt. Und ja. Seine Frau wurde schwanger. Und zur letzten Frage: Gucken Sie in den Computer. Mein Cousin heißt Michael Schubert.«

»Können Sie mir bitte das Video schicken?« Silke nannte ihre Mailadresse.

»Ich habe noch mehr solcher Veranstaltungsaufzeichnungen. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen alle.«

Während die Zeugin die Videos mit ihr teilte, checkte die Ermittlerin den Namen des Cousins im System.

»Oh. Ich habe ihn gefunden. Er sitzt ein. Ach … wegen Mordversuchs zum Nachteil seiner Ehefrau!«

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25 May 2021
Volume:
283 p. 6 illustrations
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9783839268001
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