Das Tal der Feuergeister

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Das Tal der Feuergeister
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Franziska Hartmann
DAS TAL DER FEUERGEISTER


Copyright © 2021 by Franziska Hartmann

Herausgeber: Franziska Hartmann

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail: talderfeuergeister@web.de

www.talderfeuergeister.wordpress.com

Covergestaltung, Illustration: Franziska Hartmann

Fotos: pexels.com | Lum3n, Francesco Ungaro

Für alle Träumer und Kämpfer, für alle Freigeister und all jene, die an das Magische in dieser Welt glauben.

Hört niemals auf zu tanzen.

EINS

Ich schloss die Augen, während das ruhige Intro meines Lieblingssongs aus meinen Kopfhörern schallte. Mit jedem Atemzug sog ich die sanften Klänge tiefer in mich auf und wartete in angespannter Stille, als die Musik für einen kurzen Augenblick verstummte. Vier Schläge auf ein Becken des Schlagzeugs kündigten das Einsetzen der anderen Instrumente an. Im selben Moment, in dem die Musiker die Kraft ihrer Instrumente entfesselten, begann ich durch mein Zimmer zu hüpfen, als wäre die Musik nicht nur auf meinen Ohren, sondern als würde sie den gesamten Raum erfüllen. Als wäre mein kleines Zimmer ein Konzertsaal. Oder ein Festival.

Leider wurde ich dieser Illusion beraubt, als mein MP3-Player aus meiner Hosentasche rutschte, zu Boden fiel und meine Kopfhörer unsanft mit sich riss. Musik weg. Mit einem Seufzer bückte ich mich, um beides wieder aufzuheben und stieß mir dabei natürlich den Kopf an meinem Kleiderschrank.

„Au!“ Mit einer Hand am Kopf setzte ich mich auf mein Bett und rieb mir genervt über die schmerzende Stelle am Kopf. Ich glaubte bereits zu spüren, wie die Beule unter meinen langen braunen Haaren wuchs. Vermutlich war das die Rache dafür, dass ich gerade lieber Musik hörte, als fürs Abitur zu lernen, obwohl ich das dringend nötig gehabt hätte.

Während mir noch Gedanken wie: Du bist so ein doofer Tollpatsch, Katja. Du kannst nicht mal alleine in deinem Zimmer feiern, ohne dich zu verletzen, durch den Kopf gingen, ertönte plötzlich von unten ein lauter Schrei.

„Mama?“, schrie ich zurück. Keine gute Idee. Mir wurde schwindelig. Anscheinend hatte ich mir den Kopf doch stärker angestoßen, als zunächst vermutet. Als ich immer noch laute Stimmen vernahm, die ich jedoch nicht verstehen konnte, stand ich vorsichtig auf, wartete, bis die Punkte vor meinen Augen verschwanden und verließ mein Zimmer.

„Ein Einbrecher!“, hörte ich meine Mutter kreischen.

Bei dem Wort Einbrecher breitete sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend aus. Ich flitzte die Treppe hinunter, obwohl es in meinem Kopf pochte, als würde von innen jemand mit einem Hammer gegen meine Stirn klopfen.

„Katja, ruf die Polizei!“

Meine Mutter stand in der Wohnzimmertür, den Rücken zu mir gewandt. Ein Blick an ihr vorbei offenbarte mir, dass ein junger Mann in unserem Wohnzimmer stand. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Was allerdings nichts heißen musste, da ich wahnsinnig schlecht darin war, das Alter von Personen zu schätzen. Beschwichtigend erhob er die Hände. „Bitte, beruhigt Euch. Ich bin kein Einbrecher. Ich möchte wirklich einfach gerne wieder gehen. Wenn Ihr so freundlich wäret, mir den Ausgang zu zeigen?“

Was war das denn für ein komischer Vogel? Ich drückte mich an meiner Mutter vorbei, um ihn besser erkennen zu können. Da griff meine Mutter nach der Blumenvase, die neben ihr auf der Kommode stand und warf nach dem Fremden. Der duckte sich erschrocken darunter hinweg, sodass die Vase an der Wand hinter ihm zerschellte. „Bitte, ich möchte wirklich keine Umstände bereiten. Das ist alles ein Unfall.“

Ein Unfall. Ja, klar. Ich landete auch täglich zufällig in dem Wohnzimmer fremder Leute. Was mich allerdings wirklich irritierte, war, dass der junge Mann mindestens genauso schockiert und verstört aussah wie meine Mutter. „Wer zur Hölle bist du?“, entfuhr es mir da, um endlich Klarheit in das Chaos zu bringen. „Und wie bist du hier hereingekommen?“

„Er ist plötzlich vor mir aufgetaucht!“, erklärte meine Mutter, noch immer in einem lauten, hysterischen Ton. „Einfach so! Was wollen Sie hier?“

Ich runzelte die Stirn und musterte den Unbekannten von oben bis unten. Er sah aus, wie einer anderen Zeit entsprungen, trug Hemd und Hose aus Leinen. Um seine Hüfte trug er einen Gürtel, an dem mehrere Ledertaschen hingen. Ein langer, schwer aussehender Umhang umhüllte seine Gestalt.

„Einfach so aufgetaucht?“ Der Fremde oder meine Mutter – wer war hier wirklich der komische Vogel?

„Ich bitte Euch nochmals“, setzte der Fremde wieder an. „Zeigt mir Eure Tür und ich werde Euch nicht weiter belästigen. Ich verstehe, dass Ihr aufgebracht seid, aber ich bin wirklich mit keiner bösen Absicht hier.“

„Hör auf, dich so aufgesetzt höflich auszudrücken. Das hält ja niemand aus!“, pflaumte ich ihn an.

„Ist seine Weise, uns anzureden, deine größte Sorge?“, fragte meine Mutter mich, offenbar kurz davor, den Verstand zu verlieren. „Er ist hier eingebrochen!“

„Aufgetaucht“, korrigierte ich.

„Was?“ Meine Mutter blickte mich verdattert an.

„Du meintest, er sei hier aufgetaucht“, erinnerte ich sie und hoffte, sie würde selbst merken, wie schräg das klang.

„Ja! Genau!“ Sie merkte es nicht.

Der Fremde stand noch immer wie angewurzelt da und sah uns flehend an. Für einen Einbrecher war er ziemlich regungslos. Er versuchte nicht einmal zu fliehen. Sondern er bat uns höflichst darum, fliehen zu dürfen. Dabei glaubte ich kaum, dass meine Mutter und ich, die wir beide eher von der gemütlichen als von der kräftigen Sorte waren, ihn hätten aufhalten können. Irgendetwas war an der ganzen Sache faul. Ich seufzte. „Okay. Da von dir anscheinend keine Gefahr ausgeht, so lange, wie du da jetzt schon tatenlos herumstehst“, sagte ich mit einem Blick zum Fremden, „schlage ich vor, dass wir die Sache nun mal ganz in Ruhe klären.“ Manchmal bewunderte ich mich selbst für meine Gelassenheit. Meine Mutter sah mich angsterfüllt an, woraufhin ich versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. Es schien nicht zu wirken. Aber immerhin widersprach sie mir auch nicht.

Ich wandte mich wieder an den komischen Vogel. „Wie ist dein Name, wo kommst du her, wie kommst du hier her und was willst du hier?“

Der junge Mann richtete sich mit einem Räuspern auf. „Mein Name ist Cuinn Lasair und ich komme aus Glenbláth. Und ich möchte nur wieder nach Hause.“

„Du hast die Frage, wie du hergekommen bist, noch nicht beantwortet, Cuinn Lasair“, entgegnete ich kühl. Ich fühlte mich wie ein Richter, der einen Angeklagten ausquetscht. Die Rolle gefiel mir.

„Er ist einfach erschienen! Katja, wir müssen die Polizei rufen! Das ist ein Irrer! Er gehört eingesperrt!“, mischte sich meine Mutter wieder ein.

„Nein, nein, bitte! Ich kann das erklären!“

Diese Aussage brachte meine Mutter wieder zum Schweigen. Erwartungsvoll sah sie Cuinn an. Ich tat es ihr nach. Verlegen fuhr er sich mit der rechten Hand durch die dunklen Locken. „Also… Nein, ich kann es nicht erklären. Ehrlich gesagt habe ich selbst keine Ahnung. Vorhin war ich noch in Glenbláth.“

Als er seine Hand wieder sinken ließ, stellte ich erschrocken fest, dass sie rot beschmiert war.

„Du blutest“, sagte ich, nur um das Offensichtliche noch einmal zu erwähnen.

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, brach Cuinn Lasair aus Glenbláth vor uns zusammen.

ZWEI

„Cuinn Lasair. Glenbláth. Kein Wunder, dass er bei solch einer Kopfverletzung diesen Unsinn redet.

Ich saß neben meiner Mutter im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus. Nach Cuinns Zusammenbruch hatten wir sofort den Krankenwagen gerufen, der wenige Minuten später angekommen war und den Verletzten mit ins Krankenhaus genommen hatte. Wir hatten uns als Freunde ausgegeben und folgten dem Krankenwagen nun. So schnell wurde aus einem Einbrecher ein Sorgenkind.

„Cuinn Lasair“, wiederholte ich noch einmal. „Das ist doch kein Name! Genauso wenig, wie Glenbláth ein Ort ist.“

Meine Mutter reagierte nicht. Sie starrte nur geradeaus auf die Straße, die Hände ums Lenkrad gekrallt. Jetzt erst fiel mir auf, wie blass sie im Gesicht war.

„Alles in Ordnung, Mama?“

„Klar, alles in Ordnung“, gab sie zurück und ich hörte wieder einen leichten Anfall von Hysterie aus ihrer Stimme heraus. „Vor nicht mal einer Stunde ist ein wildfremder Mann in meinem Wohnzimmer aufgeploppt. Einfach so. Aus dem Nichts. Das ist ja ganz normal. Natürlich ist alles in Ordnung.“

Okay, die Ironie war nicht zu überhören. „Das musst du mir sowieso noch mal genauer erklären. Was heißt hier aufgeploppt?“

„Ich wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, als dort plötzlich mitten im Raum ein grünes Licht aufgetaucht ist und immer heller wurde. Ich habe nur kurz die Augen geschlossen, weil es mich so geblendet hat und als ich sie wieder öffnete – schwupps, da stand er.“

Meine Mutter bremste scharf, da sie beinahe eine rote Ampel übersehen hätte. Sie war wirklich völlig durch den Wind.

„Du weißt, dass das unmöglich ist?“

Mama schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad und richtete ihren starren Blick nun auf mich. „Ja doch! Aber das ist das, was ich gesehen habe!“ Sie sah mich weiter eindringlich ein, bis hinter uns die Autos anfingen zu hupen. Die Ampel hatte längst wieder auf grün umgeschaltet.

Sie meinte es wirklich ernst, keine Frage. So durcheinander hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie mit quietschenden Reifen anfuhr.

 

In der Klinik angekommen, überließ ich meiner Mutter den Kampf mit einer Angestellten am Empfang: Cuinn hatte weder Ausweis noch einen Krankenkassenkarte bei sich gehabt. Alles, was ich mitbekam, war die Rede von einer saftigen Anzahlung für Cuinns Behandlung. Meine Mutter beschwerte sich natürlich lauthals. Der Rest der Auseinandersetzung ging an mir vorbei, denn mein Kopf versuchte die jüngsten Ereignisse zu sortieren. Aufgeploppt. Ich schüttelte den Kopf.

Letzten Endes saß ich mit meiner Mutter im Flur.

„Wenn der Kerl wieder fit ist, wird er mir die Krankenhauskosten zurückzahlen“, zischte sie immer und immer wieder. Offensichtlich hatte die Diskussion nicht zu ihrem Vorteil geendet.

Jetzt hieß es warten. Auf irgendjemanden, der uns sagen würde, wie es Cuinn ging. Während dieser Wartezeit wagte ich es nicht, meine Mutter anzusprechen. Ich verstand immer noch nicht, was passiert war. Doch meine Mutter in dieser nervlich instabilen Verfassung weiter auszuquetschen, erschien mir eine schlechte Idee. Den Ärzten hatten wir erzählt, dass Cuinn so nach Hause gekommen wäre und das Bewusstsein verloren hätte, bevor er uns hatte erzählen können, was passiert war. Stimmte ja auch so ungefähr. Nur, dass er nicht nach Hause gekommen war, sondern sich in unserem Haus materialisiert hatte. Und dass er nicht ein Freund von mir, sondern ein völlig Fremder war.

Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, bis ein Arzt zu uns kam und uns über Cuinns Zustand informierte. Er habe bereits im Krankenwagen das Bewusstsein wiedererlangt. Die Wunde an seinem Kopf sei nicht so tief, dass sie genäht werden musste und der Verdacht einer Gehirnerschütterung habe sich nicht bestätigt. Er mache jedoch einen recht verwirrten Eindruck, weshalb es empfehlenswert sei, ihn zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus zu lassen.

„Sie können ihn nun gern besuchen. Vielleicht beruhigt es ihn, ein paar bekannte Gesichter zu sehen“, schloss der Arzt seinen Bericht ab.

Ich musste mich beherrschen, um nicht laut aufzulachen. Uns zu sehen, würde Cuinn wahrscheinlich alles andere als beruhigen. Aber als offizielle enge Freunde des Patienten konnten wir schlecht sagen: „Nein, wir wollen ihn bloß nicht sehen!“

Der Arzt führte uns zu Cuinns Zimmer, öffnete die Tür und ließ uns dann allein.

Cuinn hatte das Privileg, ein Zimmer für sich ganz allein zu haben. Er saß auf seinem Bett direkt neben dem Fenster und beobachtete uns misstrauisch, als wir den Raum betraten.

„Ihr seid mir gefolgt? Was wollt Ihr von mir?“, fragte er uns.

„Wir wollen schauen, wie es dir geht, Blödmann“, antwortete ich plump. Ich nahm einen der Stühle, die gegenüber von seinem Bett an einem quadratischen weißen Tisch standen, stellte diesen neben seine Bettkante und setzte mich. Meine Handtasche stellte ich neben mir auf dem Fußboden ab. Meine Mutter setzte sich auch, ließ ihren Stuhl, über dessen Lehne Cuinns dunkelbrauner Umhang lag, aber zwecks Sicherheitsabstands am Tisch stehen.

Cuinns Kopf zierte nun ein weißer Verband. Argwöhnisch beobachtete er jede meiner Bewegungen.

„Wir haben dich hierhergebracht und dafür gesorgt, dass du ärztlich versorgt wirst. Mittlerweile sollte dir eigentlich klar sein, dass wir auf deiner Seite sind“, sagte ich.

„Ihr wolltet mich gefangen nehmen lassen!“, protestierte Cuinn.

Na gut, da hatte er recht. Das klang doch nicht ganz so freundschaftlich.

„Weil du plötzlich aus dem Nichts in unserem Wohnzimmer aufgetaucht bist!“, konterte ich.

„Ist es normal, dass man sich hier einfach so duzt?“

„Ist es normal, dass man sich in Gendat ihrzt und euchzt?“

„Glenbláth“, korrigierte Cuinn.

„Mir doch egal. Der Ort existiert eh nicht. Wo kommst du her?“

Cuinn presste die Lippen aufeinander und schwieg.

„Lass gut sein, Katja“, ließ meine Mutter nach einer Weile von sich hören. „Er sollte sich erst einmal ausruhen. Sollen wir jemanden benachrichtigen? Verwandte? Freunde?“

Scheinbar hatte sie sich allmählich wieder gefangen.

Doch Cuinn antwortete immer noch nicht.

„Na gut. Dann kommen wir morgen wieder und holen dich ab“, schlug meine Mutter vor.

Ich fand diese Idee mehr als unbefriedigend, wollte ich doch jetzt endlich wissen, was genau passiert war. Es musste für die heutigen Ereignisse eine plausible, mit dem menschlichen Verstand erfassbare Erklärung geben. Und Cuinn war der Einzige, der diese liefern konnte. Ich fixierte Cuinn mit zusammengekniffenen Augen, als könne ich so Antworten auf ihm herausquetschen. Doch er rührte sich nicht. Als meine Mutter aufstand und sich Richtung Tür bewegte, musste ich mich geschlagen geben. Ich schob den Stuhl an seine ursprüngliche Position zurück und schlenderte meiner Mutter hinterher, die den Raum bereits verlassen hatte. Als ich die Tür heranzog, warf ich noch einen letzten Blick zu Cuinn. Er starrte mir giftig hinterher. Die Tür fiel ins Schloss. Mit einem Seufzen drehte ich mich zu meiner Mutter.

„Du willst ihn morgen wirklich abholen?“, fragte ich sie. „Bist du nicht schon verstört genug?“

Ich meinte das todernst, aber sie lachte nur. „Mir scheint, als könne er nirgendwo anders hin. Aber irgendwo muss er ja unterkommen.“

„Hast du plötzlich Mitleid mit deinem Einbrecher?“

Sie zog die Schultern hoch. „Scheint so. Vielleicht.“

Wir tappten eine Treppe hinunter und gingen an der Rezeption vorbei. Die Schiebetür öffnete sich automatisch und ein frischer Wind wehte uns entgegen. In diesem Moment bemerkte ich, dass eine gewisse Last auf meiner linken Schulter fehlte.

„Ich habe meine Handtasche oben liegen lassen“, stöhnte ich. Noch mal musste ich dem komischen Vogel einen Besuch abstatten. „Ich komme gleich nach“, rief ich meiner Mutter noch hinterher, während ich auf dem Absatz umdrehte und zurück zur Treppe eilte. Ich nahm zwei Stufen auf einmal. Musste ich jetzt rechts oder links abbiegen? Ich hasste Krankenhäuser. Kahl und weiß und alles sah gleich aus.

„Kann ich dir weiterhelfen?“ Eine junge Krankenschwester kam mir mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

„Ähm, ja. Ich wollte zu Cuinn Lasair. Er wurde heute eingeliefert. Ich habe meine Handtasche auf dem Zimmer vergessen“, erklärte ich.

„Bist du seine Freundin?“

Ich nickte eifrig. Kaum zu glauben, wie gut ich lügen konnte. Ohne zu zögern. Ohne mit der Wimper zu zucken.

„Du musst nur den Gang ein Stück weiter runter gehen und dann links abbiegen. Das zweite Zimmer auf der linken Seite ist seines.“

„Vielen Dank.“ Und schon zischte ich ab. Der Weg war wirklich nicht so schwer gewesen. Wie peinlich, dass ich danach hatte fragen müssen.

Bevor ich die Tür zu Cuinns Zimmer öffnete, überlegte ich mir, wie ich reagieren sollte. Ihn einfach ignorieren, die Tasche schnappen und wieder gehen. Das klang gut. Ich drückte die Tür auf, warf einen flüchtigen Blick zu Cuinns Bett und… Sein Bett war leer. Fassungslos betrat ich den Raum und ließ meinen Blick umherschweifen. Cuinns Umhang war weg. Und dann erst fiel mir auf, dass eines der Fenster sperrangelweit offen stand. Mit drei riesigen Schritten stand ich am Fenster und starrte hinunter. Da stand er direkt unter mir. Anscheinend war er gerade erst auf dem Boden angekommen. Aber wie zur Hölle war er da runter gelangt?

„Cuinn!“, brüllte ich ihm zu.

Erschrocken sah er zu mir auf. Dann begann er zu rennen, quer durch den Park, der an das Krankenhaus grenzte.

Ich machte Anstalten, auf die Fensterbank zu klettern. Jedoch ermahnte mein Verstand mich schnell, dass das eine vollkommen hirnrissige Idee war. Ich würde dort nie hinunterklettern können. Eher würde ich mir dabei das Genick brechen.

„Scheiße“, fluchte ich und stieg wieder hinab auf den Zimmerboden. Ich drehte mich um, griff nach meiner Tasche und rannte auf den Flur.

„Cuinn ist weggelaufen!“, rief ich über die ganze Station und bezweckte damit den geplanten Aufruhr.

Eigentlich konnte es mir ja egal sein, dass Cuinn sich davonmachte. Schließlich kannte ich ihn nicht und er war seltsam. Aber er schuldete mir verdammt noch mal Antworten! Zum Beispiel auf die Fragen: Wer bist du wirklich?, Woher kommst du wirklich? und Wie bist du in unser Wohnzimmer gekommen?

Ich beobachtete, wie eine Krankenschwester zum Telefon griff und einen anderen Angestellten kontaktierte, während ein weiterer Mitarbeiter ins Treppenhaus verschwand und vermutlich die Stufen hinunterhechtete. Ich beschloss, ihm zu folgen.

Im Erdgeschoss angekommen, rannte ich zum hinteren Ausgang, der zum Park führte. In meiner Eile rempelte ich eine Krankenschwester an, die gerade mit einem Essenstablett aus einem Zimmer kam. Das Tablett fiel samt Geschirr und Essensresten scheppernd zu Boden.

„He!“, rief sie mir erbost hinterher.

Ich warf ihr nur ein halbherziges Sorry über die Schulter hinweg zu und lief unbeirrt weiter. Ich durfte keine Zeit verlieren. Cuinn war bestimmt schon über alle Berge. Wo war überhaupt der Krankenpfleger hin, dem ich gerade noch gefolgt war? Ich hatte keine Ahnung und eigentlich konnte es mir auch egal sein.

Ich erreichte den Hinterausgang, überquerte die Terrasse, die dahinter lag und schon war ich im Park.

„Cuinn!“, schrie ich, so laut ich konnte. Ich suchte mit meinem Blick die Umgebung ab, aber Cuinn war wie vom Erdboden verschluckt. „Cuinn!“ Meine Stimme versagte. Und mir ging allmählich die Puste aus. Trotzdem gab ich noch einmal Vollgas und preschte an mich mit verwunderten Blicken musternden Patienten und Angehörigen vorbei, die gerade gemütlich durch den Park spazierten. Ich jagte durch den gesamten Park, bis ich einen Wald erreichte, der das Krankenhausgelände begrenzte. Dort blieb ich stehen und japste nach Luft. War er wirklich schon so weit gekommen? Er hatte doch eine Kopfverletzung! Oder hatte der Krankenpfleger ihn schon aufgelesen und wieder ins Zimmer manövriert?

„Cuinn?“, rief ich nun etwas zaghafter in den Wald hinein. Vor Schreck zuckte ich zusammen, als ich plötzlich ein Vibrieren durch meine Handtasche und meine Jeans hindurch verspürte. Ach verdammt, Mama musste sich schon wundern, wo ich blieb. Ich fischte mein Handy aus der Handtasche.

„Hi Mama.“

„Katja, wo bleibst du?“

„Ähm, ich bleibe noch eine Weile. Ich komme später mit dem Bus nach Hause.“

„Spricht er endlich?“, fragte meine Mutter.

„Ähm… also… ja, tut er“, schwindelte ich.

„Und was sagt er?“

Bitte nicht jetzt, Mama. Mit jedem Wort, das ich hier mit dir wechsle, entfernt sich Cuinn vermutlich weiter. „Ich erzähle es dir später. Es ist jetzt wirklich unpassend. Bis später.“

„Du kannst mich auch anrufen, wenn du abgeholt…“

Da legte ich eiskalt auf. Ich ließ mein Handy wieder in meine Tasche gleiten.

„Cuinn?“, rief ich erneut und ging dann in den Wald.

Die Bäume standen dicht an dicht und wo kein Baum stand, machte sich üppiges Gestrüpp breit. Den Wald zu durchqueren, war eine echte Tortur. Ich konnte kaum länger als fünf Minuten unterwegs gewesen sein, als ich aufgab und mich auf einen umgekippten Baumstamm setzte. Er war weg. Und hatte mich mit einem Haufen ungeklärter Fragen zurückgelassen.

„Ihr müsst mir helfen.“

Die Stimme aus dem Nichts erschreckte mich so sehr, dass ich vom Baumstamm fiel und ins Gras plumpste. Sofort rappelte ich mich wieder auf. Auf der anderen Seite des Stammes stand Cuinn.

„Bist du des Wahnsinns, mit dieser Verletzung einfach aus dem Krankenhaus abzuhauen? Aus dem Fenster!“, herrschte ich ihn an.

„Aber es geht mir schon viel besser“, entgegnete er.

„Du warst ohnmächtig!“ In diesem Moment fiel mir ein, mit welchen Worten er mich auf sich aufmerksam gemacht hatte. „Wobei brauchst du Hilfe?“, fragte ich.

„Wenn Ihr mir…“

„Solange du mich nicht vernünftig ansprichst, werde ich gar nichts!“, stellte ich klar.

Einen Moment lang sah er mich irritiert an, dann räusperte er sich. „Wenn du mir sagen könntest, wie ich zum Meer komme, wäre ich dir sehr dankbar.“

Ich spürte, wie mir meine Gesichtszüge entgleisten. „Du willst zum Meer? Warum das denn?“

„Weil ich so nach Hause komme“, erklärte er.

„Du wohnst am Meer?“

„Nein, aber dort gibt es jemanden, der mich nach Hause bringen könnte.“

Ungläubig blinzelte ich ein paarmal. „Du weißt schon, dass das Meer ziemlich groß ist und es sehr unwahrscheinlich ist, dass du diese Person finden wirst, wenn du mir keine genauere Angabe als am Meer lieferst?“

 

„Lass das meine Sorge sein. Ich brauche nur das Meer.“

„Aber du hast eine Kopfverletzung!“, beharrte ich. „So nehme ich dich doch nicht mit ans Meer!“

„Das ist schon in Ordnung. Meine Wunden heilen wesentlich schneller als bei…“ Er stockte.

„Als bei was?“, fragte ich.

„Nein, vergiss es einfach.“

Ich war mir ziemlich sicher, er hatte so etwas wie bei euch Erdlingen oder, noch schlimmer, bei Menschen sagen wollen. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Oh mein Gott, wahrscheinlich war er wirklich ein Zeitreisender. Und ein Außerirdischer. Und aus irgendeinem Grund hatte er sich in unsere Wohnung gebeamt. Offensichtlich aus Versehen. War das irgendwie schädlich, wenn er hier blieb? Würde dann das Universum kollabieren oder etwas in der Art? Verwandelte sich mein Leben gerade in einen schlechten Science-Fiction-Film?

„Okay, ich bringe dich zum Meer“, sagte ich, um meinen Gedankenstrom zu unterbrechen.

Ein freudiges Lächeln breitete sich auf Cuinns Gesicht aus.

„Aber erst mal klären wir das ganz brav mit dem Krankenhaus. Und dann fahren wir zu mir nach Hause und morgen früh können wir gleich aufbrechen.“ Und dann bin ich dich wieder los, fügte ich in Gedanken hinzu.

Das Lächeln war bereits nach meinem ersten Satz wieder aus Cuinns Gesicht gewichen. „Aber… ich kann nicht bis morgen warten!“, sagte er.

„Wir brauchen mit der Bahn fast drei Stunden bis zum Meer. Wir würden heute vor Mitternacht nicht mehr ankommen.“ Ich trat den Weg zurück zum Krankenhaus an und versuchte so, einer Diskussion aus dem Weg zu gehen. Was nicht ganz funktionierte.

„Mitternacht! Mitternacht ist perfekt. Lass uns gleich losgehen!“, rief er mir nach, während er mir hinterherstapfte.

„Vergiss es. Ich habe Kopfschmerzen und bin müde. Wir fahren gleich nach Hause und ich lege mich schlafen.“

„Bitte!“, flehte er. „Ich muss so schnell wie möglich zurück. Es ist wirklich wichtig. Und außerdem bist du mich dann umso schneller für immer los.“

Das Argument gefiel mir. Allerdings hatte ich wirklich Kopfschmerzen und wenig Lust, heute noch drei Stunden allein mit diesem seltsamen Typen Bahn zu fahren. Doch ich hatte das ungute Gefühl, dass er nicht locker lassen würde, bis ich ihn zum Meer brachte. Also gab ich nach.

„Na gut, wir fahren heute noch los.“

„Vielen, vielen Dank! Ihr… Du weißt gar nicht, welch großen Gefallen du mir damit tust.“

„Hast du überhaupt Geld bei dir?“, fragte ich ihn.

„Ein bisschen. Brauche ich das?“

„Bahnfahren ist teuer.“

Wir gingen eine Weile schweigend durch den Wald. Als wir am Park hinter dem Krankenhaus ankamen, machte Cuinn mit einem unsicheren „Ähm…“ wieder auf sich aufmerksam.

„Ja?“

„Also… Wahrscheinlich ist das eine ungewöhnliche Frage“, druckste er herum, „aber… was ist eine Bahn?“

Vielleicht war er doch kein Zeitreisender. Dann hätte er schon längst eine Bahn gesehen. Oder? Ich konnte mir einen tiefen Seufzer nicht verkneifen und beschrieb ihm die großen, sich auf Gleisen bewegenden Gefährte, während wir den Park durchquerten.

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